Читать книгу Polderblues - Susanne Tammena - Страница 14

13.

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Nachdem sie einmal gemeinsam zur Kiekkaaste gegangen waren und mit Beenes Fernglas über den Dollart geschaut hatten, kam Anja fast jeden Tag hierher. Das Laufen befreite sie von dem schweren Mantel der Trauer, der sich um sie legte und sie niederdrückte, sobald sie still irgendwo saß. Dann war sie stundenlang unfähig, sich zu bewegen, kauerte auf dem Sofa und starrte in den Garten. Sie war sich nicht sicher, ob es wirklich die Trauer um ihre Mutter war, die sie so fertig machte. Sie vermisste ihre Mutter gar nicht als greifbare Person, nicht ihre Stimme und auch nicht ihr Lachen. Konnte sich Trauer so anfühlen?

Wenn sie aber daran dachte, dass sie jetzt niemanden mehr hatte, der ihr ein Essen kochte, wenn sie krank war, oder der sie in den Arm nahm, wenn es ihr schlecht ging, dann kamen ihr die Tränen. Und dann erschrak sie über sich selbst, darüber, dass anscheinend nur Selbstmitleid sie zum Weinen bringen konnte. Das abgrundtiefe Gefühl der Verlorenheit, das sie zu erdrücken drohte, hielt sie für Ich-Bezogenheit, für eine unsympathische Charakterschwäche, die es zu unterdrücken galt. Ihr altes Leben ließ sich leider nicht so leicht abschütteln, wie Anja es gehofft hatte, sie kämpfte darum, aber ihr Kampf war ein reichlich einsamer. Ihr kam nicht ein einziges Mal der Gedanke, mit Beene über ihre widersprüchlichen Gefühle zu sprechen. Es hätte bedeutet, dem einzigen Menschen, der ihr mit einer Art vorbehaltloser Sympathie begegnete, zu offenbaren, dass ihre Seele in finsterster Hässlichkeit erstarrt war und sie selbst der überflüssigste Mensch auf dieser Erde.

Um den schweren Mantel also gar nicht erst auf ihren Schultern zu spüren, raffte sie sich morgens gleich nach dem Frühstück auf und wanderte zur Kiekkaaste. Zum Verschnaufen setzte sie sich dann auf eine der Holzbänke in der Hütte, doch die Temperaturen waren jetzt im späten Herbst zu niedrig, als dass sie es lange hätte aushalten können. Die kriechend kalte Feuchtigkeit ließ Anja schon bald frösteln, wenn die Bewegung sie nicht mehr warmhielt, und spätestens zum Mittagessen war sie wieder auf dem Hof und brauchte einen starken Tee zum Aufwärmen.


Die Zeit der Trauer dauerte bis Weihnachten. Beene hatte sich Sorgen wegen des Festes gemacht. Er wollte den Heiligabend bei seinen Eltern verbringen, aber er mochte Anja auch nicht allein lassen. Er fragte sie vorsichtig, ob er sie mitnehmen solle, seine Eltern hätten bestimmt nichts dagegen, wobei er sich da in Wirklichkeit gar nicht so sicher war. Doch Anja wollte Beene nicht mehr Umstände bereiten, als sie es ohnehin schon tat. Weihnachten war ein Familienfest und sie hatte sich mit ihrer Familie überworfen. Da konnte sie kaum erwarten, dass eine andere ihr einen Platz einräumte. Ihre Einsamkeit zu Weihnachten entsprach ihrem versteckten Leben hier auf dem Polder und erschien ihr durchaus gerecht. Daher winkte sie ab und legte sich eine Notlüge zurecht: Sie würde das Fest bei ihrer Schwester Astrid verbringen und vorher in ihrem Elternhaus vorbeischauen, um noch ein paar Dinge zu holen, die sie vermisste. Beene bot ihr an, sie nach Leer zu fahren, was sie dankend annahm.

Doch als er am Heiligabend nachmittags um vier Uhr vor ihrem Elternhaus hielt, um sie abzusetzen, waren die Fenster hell erleuchtet, und sie konnte ihre Schwestern erkennen, die im Wohnzimmer einen Weihnachtsbaum schmückten. Anja schluckte. Auf so eine Mistidee konnten auch nur ihre Schwestern kommen. In Memoriam Mutti. Weihnachtsfest im verwaisten Elternhaus, hurra! Sie hatte geplant, den Abend hier in Ruhe vor dem Fernseher zu verbringen, aber das konnte sie jetzt vergessen.

„Okay, da hat es wohl eine Planänderung gegeben“, sagte sie gespielt fröhlich und lächelte Beene an. Als sie aussteigen wollte, griff Beene nach ihrer Hand und drückte sie kurz.

„Frohe Weihnachten, Angel“, sagte er, aber sein Lächeln missglückte kläglich.

Er fühlte sich hundeelend. Sie hatte nie versucht, mit ihm über ihre Probleme zu sprechen, die anscheinend noch größer waren als nur der Tod ihrer Mutter allein, und er hatte es akzeptiert. Was hätte er auch sagen sollen? Wenn er sie in eine Decke gewickelt auf dem Küchensofa sitzen sah, schien sie so weit weg, so unerreichbar für Worte, dass er lieber schwieg, obwohl er ihr gerne Hilfe und Trost angeboten hätte. Gleichzeitig stürzte ihn dieser rothaarige Engel in eine solche innere Unruhe, dass er nicht mehr aufrichtig sagen konnte, er wolle ihr nur helfen, in Wirklichkeit begehrte er sie bis zur Grenze des Erträglichen, dieses Gefühl war seit dem Tag, an dem sie bei ihm aufgetaucht war, stetig gewachsen. Nur durch die angestrengte Distanz, die er zwischen ihnen aufrechterhielt, konnte er sich einigermaßen beherrschen. Und diese Distanz war gekrönt von elendem Schweigen, weil er nicht wusste, über was er mit ihr reden sollte. Ihre Trauer und seine Gefühle waren tabu. Dazwischen war nichts.

Er würde weiter abwarten, musste weiter abwarten, auch wenn es ihn jeden Abend bis in seine Träume quälte. Irgendwann würde sie ihre Trauer überwinden, und dann könnte er versuchen, sie für sich zu gewinnen. Beene befürchtete nur, dass sie vorher wieder verschwinden würde, ebenso unerwartet, wie sie bei ihm aufgetaucht war. Als sie jetzt die Autotür hinter sich zuschlug, glaubte er sicher, sie nicht wiederzusehen. Warum sollte sie auch allein bei ihm auf dem Polder herumsitzen, wenn sie hier ein Heim mit Familie hatte? Ein lautes Stöhnen entrang sich seiner Brust, dann gab er Gas und fuhr den Weg zurück nach Hause. Bevor er Weihnachten feiern konnte, mussten die Kühe versorgt sein.

Anja sah dem Auto hinterher, froh, dass Beene so schnell losgefahren war. So konnte er sich nicht darüber wundern, dass sie nicht den Weg zur Eingangstür nahm, sondern das Haus an der Rückseite durch die Kellertür betrat. Um der Kälte zu entgehen, setzte sie sich in die leere Waschküche. Sie dachte einen Moment darüber nach, ob sie nicht einfach nach oben gehen, das Versteckspiel beenden und das Weihnachtsessen genießen sollte. Wahrscheinlich hatten ihre Schwestern sich im Haus verabredet, weil sie glaubten, dass sie hier an Weihnachten am ehesten wieder auftauchen würde. Womit sie auch recht behalten hatten. Sie machten sich sicher Sorgen um sie, obwohl klar sein musste, dass sie freiwillig verschwunden war. Eine kurze Nachfrage in der Schule hätte nur diesen Schluss zugelassen, und Anja war sich sicher, dass ihre Schwestern nachgefragt hatten. Sicher hatte Astrid dafür plädiert, abzuwarten und ihr die Chance zu geben, sich erst einmal auszuleben. Vielleicht hatten sie auch bei der Bank nachgefragt, ob es Kontobewegungen gäbe, aber die durften wohl keine Auskunft geben. Blödsinn, dachte Anja. Ihre Schwestern wussten schließlich, dass sie eine Waisenrente beantragt hatte. Die Schwestern brauchten sich in dieser Hinsicht keine Sorgen zu machen. Sie würde nicht verhungern. Wer wusste, was sie sich ansonsten für Vorstellungen machten? Wahrscheinlich dachten sie, sie wäre bei irgendwelchen Bekannten untergetaucht, die schon eine eigene Wohnung hatten. Womit sie erneut richtig lagen.

Anja spürte, wie wieder Wut in ihr aufstieg, Wut auf ihre Schwestern, die immer alles schon im Voraus wussten, und Wut auf sich selbst, weil sie dumm und durchschaubar war wie ein kleines Kind, für das ihre Schwestern sie offensichtlich hielten. Sie hatten wahrscheinlich auch keine echten Sorgen um sie, sondern nur ein schlechtes Gewissen und wollten da oben ein bisschen Friede-Freude-Eierkuchen mit ihr spielen. Doch das konnten sie sich abschminken, nicht mit ihr. Anja stiegen Tränen in die Augen. Am liebsten hätte sie ihre Faust gegen die Waschmaschine sausen lassen, doch sie riss sich zusammen, um nicht das ganze Haus zu alarmieren. Trotzdem, ein Familienbeisammensein würde sie jetzt nicht ertragen können und sie wollte auch nicht die Treppe hochsteigen und sich ergeben wie ein gesuchter Verbrecher.

Sie sehnte sich nach Beenes Küchensofa. Wäre sie doch nur auf dem Hof geblieben. Vielleicht wäre ihr irgendeine Ausrede eingefallen. Oder sie hätte darauf bestehen können, mit dem Bus zu fahren und wäre dann heimlich wieder ins Haus geschlichen, nachdem Beene sich auf den Weg gemacht hätte. Hätte, hätte, Fahrradkette, dachte sie hilflos. Jetzt saß sie hier im Wäschekeller und wusste nicht, wohin. Cafés hatten geschlossen, und die Kneipen öffneten an Heiligabend immer erst spät.

Da kam ihr eine Idee. Für Obdachlose gab es immer eine Weihnachtsfeier in der Bahnhofsmission, und irgendwie war sie auch gerade obdachlos. Dort würde sie hingehen, dachte sie beinahe trotzig, dorthin passte sie besser als in das Wohnzimmer da oben. Sie müsste sich nicht wie ein Gast dazwischenschmuggeln, sie könnte vielleicht helfen.

Polderblues

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