Читать книгу Polderblues - Susanne Tammena - Страница 9
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ОглавлениеAnja war also vom Postboten. Von einem sehr hübschen, dunkelhaarigen, erst 25 Jahre alten Paketzusteller der Deutschen Post, der über einige Monate für die Siedlung zuständig gewesen war, in der sich die Familie Fresemann ein kleines Häuschen gekauft hatte.
Der junge Mann war schon einige Wochen in ihrem Bezirk eingesetzt, als er Alma an einem Donnerstagmorgen im August ein Paket zustellen wollte, das ein Geburtstagsgeschenk für Astrid enthielt. Es war Astrids sechster Geburtstag und auf dem morgendlichen Gabentisch hatte das Geschenk – es war ein Frisierkopf mit echten Haaren, Lockenwicklern und Scheren, den sie in dieser professionellen Art nur in einem Versandhauskatalog gefunden hatte – bereits gefehlt. So kam es, dass sie zur Tür stürzte, als sie das Postauto aus einem Fenster im oberen Stockwerk des Hauses vorfahren sah, obwohl sie gerade aus der Dusche kam und nur ihren Bademantel trug. Der Postbote erschrak ein wenig, als sie schwungvoll die Tür aufriss, und nach einem Moment der Überraschung, der in staunende Bewunderung für die schöne Frau im Eingang überging, senkte er in Erkenntnis der offensichtlichen Peinlichkeit der Situation leicht errötend seinen Blick. Alma hatte sich bis jetzt durchaus angezogen gefühlt, denn außer ihren Fesseln und Füßen, von denen in jeder Badeanstalt wohl ein Hundertfaches zu sehen war, ließ ihr Aufzug keine nackte Haut sehen. Doch das Erröten, der schamhaft gesenkte Blick, das leise Räuspern, mit dem der junge Mann seine Stimmbänder zu lockern versuchte, um in angemessenem Ton sein Sprüchlein aufzusagen, all das führte dazu, dass Alma die Ungehörigkeit ihres Auftretens bewusst wurde.
Ihr stieg ebenfalls das Blut in die Wangen. Jedoch weniger aus einem bedrückenden Gefühl der Peinlichkeit heraus, sondern aus Freude über den bewundernden Blick, den sie so unerwartet für einen Moment gespürt hatte. Es lag eine erotische Spannung in der Luft, die ihre Haut kribbeln und ihr Herz klopfen ließ.
Die wenigen Sekunden, in welchen der Postbote leise murmelnd und mit gesenktem Blick auf seinem Formular ihren Namen und die Adresse eintrug, reichten aus, um ihre erste Erregung in Erwartung zu verwandeln. Hier musste doch eigentlich etwas geschehen, zumindest eine Kleinigkeit, die sie in Gedanken bewahren konnte. Dann könnte sie sich diese Situation wieder in Erinnerung rufen und dieses wohlige Herzklopfen noch einmal nachfühlen.
Als der Mann ihr das Klemmbrett mit der Empfangsbestätigung zur Unterschrift reichte, berührten sich ihre Handrücken ganz leicht. Sie spürte ein leichtes Zittern und meinte, eine Fahrigkeit in seinen Bewegungen zu bemerken, die sie als Unsicherheit wertete. Und ganz offensichtlich hielt er seinen Blick so lange wie möglich gesenkt, um sich zu sammeln und sein Gleichgewicht wiederzufinden, aus dem sie ihn so unvermutet hatte herausstraucheln lassen. Dann hob er für eine höfliche Abschiedsformel erneut seinen Blick, der alles bestätigte, was sie sich gerade überlegt hatte, drehte sich um und ging.
„Kommen Sie einmal zum Kaffee vorbei“, rief sie ihm hinterher.
Er drehte sich noch einmal um und nickte, dann verschwand er ihm Auto.
Er kam eine Woche später, sehr nervös, und überbrachte ihr einen Versandhauskatalog, der leicht in den Briefkasten gepasst hätte, und Alma übernahm sofort die Initiative. Sie küsste ihn, und dann liebten sie sich auf dem Wohnzimmerteppich, für den Gang ins Schlafzimmer hatten sie keine Zeit.
Die Affäre dauerte nur einige Wochen und sie trafen sich nur sechsmal. Er kam nur zu ihr, wenn er einen größeren Brief oder ein Paket als Vorwand hatte. Die Treffen verliefen schnell und stürmisch, länger als eine Viertelstunde blieb er nie. Beide machten sich Gedanken über die Nachbarn, denen selbst diese kurze Zeit für die Abgabe eines Pakets noch zu lang erscheinen musste.
In diesen Wochen erfuhr Alma nicht viel über ihren Liebhaber. Er war der Sohn eines Pizzabäckers aus Oldenburg, wo er auch aufgewachsen war. Den ungewöhnlichen Vornamen Giacomo verdankte er seiner Mutter, die gerne Puccini-Opern hörte. Mit Nachnamen hieß er Stelzer, etwas unitalienisch, denn seine Vorfahren stammten aus Südtirol.
Nach dem fünften Treffen glaubte Alma, während der Verabschiedung an der Haustür eine Nachbarin hinter dem Vorhang ihres Küchenfensters gesehen zu haben. Eine Woche später war sie sich sicher, denn sie sah die alte Dame sofort, als das Postauto in ihrer Einfahrt hielt. Sie fertigte Giacomo an der Haustür ab, wobei ihr glücklicherweise auf die Schnelle ein Ort einfiel, den sie als Treffpunkt vorschlagen konnte.
Am nächsten Vormittag trafen sie sich im Bahnhofshotel, eine peinliche Wahl am helllichten Tag, was Alma aber erst registrierte, als es zu spät war. Nachdem sie das Zimmer bezahlt hatte, was auf eigenen Wunsch geschah, keiner der Angestellten bestand darauf, stiegen Alma und Giacomo über einen ausgetretenen Teppich, der nicht nur den Flur, sondern auch die Treppe bedeckte, hinauf in den ersten Stock und betraten das Zimmer mit der Nummer 19, ein Detail, das Alma aus unerfindlichen Gründen im Gedächtnis geblieben war. Das Zimmer war klein und schlicht eingerichtet, der Teppich ähnelte in Farbe und Struktur dem auf dem Flur, die Möbel waren dunkelbraun und recht massiv, die Bettfedern quietschten. Alles war ein wenig schäbig, aber zu ertragen.
Bedrohlich wirkte nur das Übermaß an Zeit, das den beiden auf einmal zur Verfügung stand. Unbehagen über die eigentliche Unerfahrenheit im Umgang miteinander breitete sich zwischen ihnen aus. Sollten sie sofort anfangen, sich die Kleider vom Leib reißen wie in den dem Alltag gestohlenen Minuten zu Hause? Ein wenig verschämt wurde sich Alma bewusst, wie viel Glück in Alternativlosigkeit liegen konnte, und mit wie viel Erotik sich eine kurze, aber unzweifelhaft zu nutzende Zeit anfüllen ließ. Nachdem die ersten Minuten die Möglichkeit des Liebessturms in sich getragen und an laue Umarmungen verloren hatten, legten sich Giacomo und Alma anständig entkleidet unter die Bettdecke, ihre Wäsche ordentlich gefaltet auf einem der Stühle im Raum abgelegt. Sie umarmten und küssten sich etwas zögerlich und Alma überlegte bereits, ob sie nicht einfach gehen sollte. Vielleicht war ihre Ehe doch ein dringender Anlass für das Schicksal, hier in Erscheinung zu treten und dieser Kinderei ein Ende zu bereiten.
Doch Alma ging nicht, das hätte einen zu krassen Bruch, eine zu starke eigenständige Entscheidung erfordert. Sie schloss ihre Augen und versuchte, ihre Gedanken abzustellen. Nach einigen tiefen Atemzügen legte sie sich halb auf Giacomos langen, schmalen Körper, schlang ein Bein zwischen seine und presste ihre Hüften an seinen Oberschenkel. Sie erforschte mit den Fingerspitzen seine straffe Haut und sog tief seinen Geruch ein, den sie auf dem Teppich nie so wahrgenommen hatte, und der eine fremde, scharfe Note enthielt. Sie begann langsam und rhythmisch ihre Hüften zu bewegen, ihre Brustwarzen wurden hart und sie wünschte, er würde sie in den Mund nehmen, daran saugen, doch diesen Gedanken vermochte er nicht zu lesen, obwohl sie ihren Oberkörper hob und ihm die Brust entgegenreckte. Durch ihre streichelnden Hände und ihre wachsende Erregung fand Giacomo endlich zu seiner üblichen Form.
Als Alma zu stöhnen begann, warf er sie energisch auf den Rücken und drang tief in sie ein. Mit zwei schnellen, harten Stößen schob er sie bis an das Ende des Bettes, wo ihr Kopf gegen den hölzernen Rahmen stieß und eine empfindliche Beule bekam. Augenblicklich war ihre Erregung verflogen, doch Giacomo schien wie in Trance, er schien gar nicht wahrzunehmen, dass er sie verletzte. Sie riss ihre Arme hinter den Kopf und versuchte, sich zwischen seinen Stößen wieder etwas nach unten zu schieben, doch sie konnte gegen seine Kraft nichts ausrichten. Wie der Kopf eines Rammbocks prallte ihr Schädel in festem Rhythmus bei jedem Stoß gegen das schwere Holz. Er begann zu dröhnen wie die Glocke im Dom, doch sie war zu entsetzt, um zu schreien. Als er endlich kam, brüllte er dabei wie ein verwundetes Tier und brach schwer atmend auf Alma zusammen.
So hatte sie ihn noch nie erlebt. Was war nur geschehen? Bisher war er zwar immer schnell, aber zärtlich gewesen. Die Brutalität, die sie gerade an ihm erlebt hatte, überwältigte sie. In ihrer Kehle saß ein dicker Kloß und ihr stiegen Tränen in die Augen. Sie drehte ihren Kopf zur Wand, um sie Giacomo nicht sehen zu lassen. Was wahrscheinlich nicht nötig gewesen wäre, denn er schien vollauf mit sich selbst beschäftigt zu sein. Fast apathisch lag er noch einige Minuten auf Almas kleinem Körper, den er tief in die Matratze drückte, dann stand er auf, ohne sie anzuschauen, und auch beim Anziehen wandte er ihr den Rücken zu. Als hätte er doch etwas von ihrer Verzweiflung gespürt, drehte er sich erst um, als sie sich so weit unter Kontrolle hatte, dass ihre Augen trocken waren und ihre Kehle wieder frei. „Ich gehe dann mal“, sagte er leise und Alma nickte.
Danach sahen sie sich nie wieder und geblieben war nichts, keine Adresse, keine Telefonnummer und kein Verlangen, danach zu forschen. Das nächste Päckchen war von einer neuen Zustellerin gebracht worden.
Drei Wochen später wusste Alma, dass sie schwanger war. Und sie war sich von Beginn an sicher, dass das Kind von Giacomo war, obwohl sie auch einige Male mit Anton geschlafen hatte. In den folgenden Monaten ging es ihr körperlich und seelisch sehr schlecht, sie war blass und müde, musste sich ständig übergeben und brach häufig scheinbar grundlos in Tränen aus. Ein Monster schien in ihr heranzuwachsen, das ihr jeden Lebensmut nahm. Dazu kam die Scham über ihre letzte Begegnung mit Giacomo.
Sie hatte geglaubt, alles unter Kontrolle zu haben, hatte sich stark und schön gefühlt, verführerisch und begehrt. Die Affäre hatte ihrem eintönigen Leben einen Hauch von Verruchtheit gegeben, der es aufzupeppen schien wie Pfeffer einen Tomatensaft, doch dann hatte er ihr gezeigt, dass er der Starke war, unkontrollierbar, unbeherrscht und brutal. Und er hatte ihr Selbstwertgefühl zerquetscht wie eine Fliege an der Wand. Mit der Scham kamen Schuldgefühle. Sie war eine Betrügerin, ein Luder, eine Schlampe, die ihren Mann nicht verdient hatte, ihn, der höflich war, leise und rücksichtsvoll, der nie zu viel von ihr verlangte und sich nie beklagte.
Als Anton anfing, ihr den Hof zu machen – und dieser altmodische Ausdruck war durchaus angemessen für sein Benehmen – war Alma erst siebzehn und in voller Erwartung des Lebens und der Liebe. Sie hatte einen Großteil der vorangegangenen Jahre damit verbracht, Liebesromane zu lesen und wartete auf den Märchenprinzen, der eines Tages vor ihrer Tür stehen würde.
Erika grunzte meist spöttisch, wenn Alma von der Zukunft sprach, und lud sie ein, doch einmal ein wenig das Leben auszuprobieren, beispielsweise am Samstagabend auf Janssens Tanzparkett. Aber die ordinären Vergnügungen, an denen ihre ältere Schwester so viel Spaß hatte, sagten Alma überhaupt nicht zu. Sie war schon einmal dort gewesen, als drei Jahre zuvor ihre Cousine geheiratet hatte, in Begleitung der Eltern und etwas unpassend am Kindertisch platziert, wo sie sich ihren Vettern gegenübersah, die noch einige Jahre jünger waren als sie selbst.
Erika hatte den Platz neben ihr gar nicht erst eingenommen. Sie saß bei der Dorfjugend, die sich bei solchen Festivitäten an der Barlümmelte, darauf bedacht, jede Abwechslung vom öden Dorfleben voll auszukosten. Sie schäkerte mit Hermann ter Veen herum, der es sichtlich genoss, für den Abend der Auserwählte zu sein. Alma schämte sich für ihre Schwester. Erika war intelligent und sehr gutaussehend. Musste sie sich ständig mit diesen Typen herumtreiben? Sie wandte ihren Blick dem Saalgeschehen zu. Aber dieses Theater, in dessen Mittelpunkt zumindest eine Braut in Weiß stand, sagte ihr auch nicht mehr zu.
Die Hauptdarstellerin war übergewichtig, und die vielen Rüschen an ihrem Kleid verstärkten noch den Eindruck übertriebener Üppigkeit. Ihr frisch Angetrauter dagegen bewegte sich beim Tanzen etwas täppisch und war mit einem fliehenden Kinn gestraft. Die vielen Verwandten und Bekannten, die Alma im Saal beobachtete, hatten ihr Bestes gegeben, um sich fein auszustaffieren, aber in ihren Augen erschien alles wie Maskerade, ein plumper Versuch, über die Mittelmäßigkeit des Daseins hinwegzutäuschen. Zu kurze Beine, zu dicke Bäuche, zu grelle Farben und zu billige Kleider, um wahrhaftig den Stoff eines Märchens zu geben: immer wieder Damen, die in den Waschraum flüchteten, um ihr Aussehen zu kontrollieren, hier und da ein Stiernacken, der sich nervös am einschnürenden Kragen scheuerte. Lippenstiftspuren an den Schneidezähnen ihrer Tante, Schweißringe in den Achseln ihres Onkels, als dieser später am Abend das Jackett ablegte.
Das unter dem Einfluss des Alkohols anschwellende Gekreische der Damen, das anzügliche Grinsen in den Gesichtern der Herren. Hände, die erst zögerlich, dann immer direkter weibliche Rundungen suchten, Dekolletés die tiefer zu werden schienen, wo Wein und Müdigkeit die Haltung zerstörten und betörte Damen mit verführerischem Lächeln ihr Kinn einem Schmeichler entgegenreckten. Es war einfach widerlich.
Drei Jahre später hatte Alma noch immer keine Lust, Janssens Tanzparkett wiederzusehen. Die primitive Fleischlichkeit der Gelüste, die spätestens mit dem Alkohol klar zutage treten würde, hatte sie als Vierzehnjährige abgestoßen, heute machte sie ihr regelrecht Angst. Denn in den letzten Jahren hatte sie sich zu einer schönen jungen Frau entwickelt – viel schöner als Erika, das wusste Alma selbst – und sie fürchtete sich davor, ein Objekt dieser schrecklichen Begierde zu werden, sich gegen anzügliche Witze und grabschende Hände wehren zu müssen.
Um die Wahrheit zu sagen, war Alma in den letzten drei Jahren zwar um vieles schöner, aber kaum reifer geworden. Die große Liebe war für sie der Prinz, der sie vor der bösen Stiefmutter rettet und auf Händen in sein Schloss trägt. Zerwühlte Bettlaken spielten in diesem Märchen keine Rolle.
Als Anton an der Tür der Familie Bruns klingelte, hielt er einen bunten Strauß Frühlingsblumen in der Hand, die er artig Almas Mutter übergab und dabei sein Anliegen vorbrachte, dass er so gerne einmal mit dem Fräulein Alma spazieren gehen würde. Alma nahm die Einladung an, sie hatte auf Anhieb das Gefühl, dass ihr Prinz sie endlich gefunden hatte. Dem Spaziergang folgte ein zweiter und dritter, dann wagte Anton eine Einladung ins Theater.
Am Abend der Vorstellung wurde aus den Blumen für die Mama eine einzelne, zart apricotfarbene Rose für Alma. Sie war so entzückt, dass sie Anton am liebsten um den Hals gefallen wäre. Nach dem Theater folgte ihr erster Kuss und bald darauf hielt er bei ihrem Vater um ihre Hand an, als hätte es niemals eine sexuelle Befreiungsbewegung gegeben.
Und diesem Mann, dessen sanfte Art in ihren Augen vielleicht inzwischen den Abstieg von ritterlicher Zurückhaltung zu langweiliger Eintönigkeit erlitten hatte, der aber seit eh und je treu zu ihr gehalten hatte und sie zumindest im übertragenen Sinn auf Händen trug, hatte sie die Hässlichkeit einer Affäre angetan, und das nur, weil sie im aufregenden Gewand einer Romanze daherkam.
Alma war sich sicher, dass Anton nach der Geburt sofort erkennen würde, dass das Kind nicht von ihm stammte. Und damit würde sie ihn verlieren, ihn und ihr Leben mit ihm und den Kindern. Denn wie sollte es anders gehen, als dass er sie zur Rede stellen würde, sie alles gestehen müsste und in Schimpf und Schande von ihm aus dem Haus gejagt würde? Manchmal hatte sie zarte Hoffnungsschimmer. Vielleicht war das Kind doch von ihm oder es war ihr selbst so ähnlich, dass niemand etwas merkte. Bis zur Geburt schwankte sie zwischen Hoffen und Bangen. Einige Male war ihre Verzweiflung so groß, dass sie Anton fast ihr Herz ausgeschüttet hätte. Doch der Zufall verhinderte es, indem er dafür sorgte, dass Anton gerade an diesen Tagen länger arbeitete, Termine hatte oder anders verhindert war. Zu einer Aussprache kam es nie.
Während Alma ihrer Tochter im Hospiz die Geschichte von deren Herkunft anvertraute, hatte sie die letzte Episode mit Giacomo, dieses böse Ende ihrer Affäre, natürlich nicht erwähnt. Ihre Not während der Schwangerschaft und ihre verzweifelte Angst vor der Geburt verschwieg sie ebenso wie ihre Ängste in Bezug auf Anjas Charakter, die sie in den Jahren danach gequält hatten. Voller Furcht erwartete sie ständig, aus Anja das Monster hervorbrechen zu sehen, das sie während der Schwangerschaft in ihrem Leib gespürt hatte, und das sie tief in ihrem kleinen Mädchen verborgen wähnte. Sie suchte an ihrer Tochter nach Anzeichen von Egoismus und Brutalität, die sie an deren Vater erlebt hatte und die er ihr vererbt haben könnte. Doch abgesehen von einer wilden, extrovertierten Art konnte Alma nichts Ungewöhnliches feststellen. Außer der Haarfarbe natürlich.
Alma hatte mit leiser Stimme gesprochen, wie es ihre Art war, und dabei Anjas Hand gehalten, zum ersten Mal seit Langem. Anja hätte sich am liebsten übergeben. Nachdem Alma mit ihrer Geschichte endlich zu einem Ende gekommen war, schien jedes der sanften Worte ihrer Mutter in ihrem Magen zu einem Butterklumpen geronnen zu sein, der ihre Magensäfte zum Überlaufen brachte. Sie hasste Butter. Und sie hasste sanfte Worte.
Der Klumpen hinderte sie am Sprechen, doch ohnehin fiel ihr nichts ein, was sie auf dieses Geständnis hätte erwidern können, und fühlte sich so ohnmächtig, dass sie für einen Moment glaubte, tatsächlich die Besinnung verlieren zu müssen, geschlagen ohne die Möglichkeit zur Gegenwehr. Erneut stieg Wut in ihr auf. Auf ihre Mutter, die sie so lange belogen hatte, aber vor allem auf sich selbst. Auf ihre blinde Dummheit. Ihre dämliche Naivität. Wahrscheinlich wusste es seit ihrer Geburt jeder in der Familie außer sie selbst. Es war so offensichtlich! Ihre Haare, ihre Figur. Es lag auf der Hand, dass das nichts mit Familie Fresemann zu tun haben konnte, den kleinen, runden, gutmütigen Fresemanns, die jeden Geburtstag gemeinsam feierten, sich liebten und trösteten und niemals wütend wurden. Dieser kleinen glücklichen Familie von Butterfressern.
Sie hätte brüllen mögen wie ein Löwe, doch ihre Kehle war wie zugeschnürt. Ein dunkler Schleier legte sich vor ihre Augen ließ das Bild des Krankenzimmers verschwimmen. Mit der linken Hand hielt sie die Armlehne ihres Stuhls so fest umklammert, dass sie einen Krampf im Daumen bekam.
Sie gehörte einfach nicht dazu! Was sie schon immer gefühlt hatte, jetzt war es endlich heraus. Ihre Mutter hatte es endlich ausgesprochen, ihr endlich offen ins Gesicht gesagt, dass sie sich noch so bemühen konnte, sie war einfach keine von ihnen. Wollte sie auch gar nicht sein. Aus ihrer Bitterkeit stieg Trotz auf. Eigentlich konnte sie froh sein, dass sie nicht dazugehörte, zu diesem spießigen Familienhaufen, alle so brav und anständig.
„Ich bin froh, dass ich nicht zu euch gehöre“, stieß sie mühsam hervor und schaute ihrer Mutter direkt in das ausgemergelte Gesicht.
Alma erstarrte. Die Worte ihrer Tochter trafen sie wie ein Schlag. Sie hatte mit Betroffenheit gerechnet, natürlich, aber auch mit Fragen und Neugier. Aber aus Anjas Stimme schlug ihr echte Ablehnung entgegen, das traf sie unvorbereitet.
„Aber Anja, natürlich gehörst du zu uns“, sagte sie schwach, „du bist doch meine Tochter.“
„Ach ja?“
Anja sprang auf.
„Was hab ich denn davon, deine Tochter zu sein? Die Tochter einer Schlampe! Die es noch nicht einmal fertigbringt, ihrem Mann die Wahrheit zu sagen.“
Die Wut brach sich ihre Bahn, Anja konnte sich nicht zurückhalten, obwohl sie sah, wie sehr die Worte ihre Mutter verletzten. Alma schien tiefer in ihre Kissen zu rutschen, als versuchte sie, Schlägen auszuweichen.
„Alle wussten es, oder? Alle wussten es, nur mich habt ihr wie ein Dummchen behandelt, als müsstet ihr mich in Watte packen und in eurer schleimigen Liebe ertränken, die ich hasse wie die Pest.“
Anja musste Luft holen.
„Aber Anja, das stimmt doch gar nicht ...“
Alma versuchte, die kurze Pause zu nutzen, doch dazu fehlten ihr die Worte und vor allem die rechten Argumente. Und auch die Kraft. Da ist es endlich, das Monster, dachte sie, entsetzt über ihre eigene Schwäche, jetzt, da sie so dringend mehr Kraft gebraucht hätte.
„Und du“, Anja brüllte jetzt tatsächlich, „mit deinem Scheiß-Geröll, an das man nicht rühren darf! Jetzt ist mir endlich klar, was das sein sollte. Keiner sollte es aussprechen, alle dein mieses, dreckiges, kleines Geheimnis bewahren. Sehr einfach hast du es dir gemacht. Sich erst benehmen wie die letzte Nutte und dann allen verbieten, die Wahrheit zu sagen!“
Alma hatte Mühe, Anjas Worten zu folgen. Sie fühlte mehr ihre Wucht, als dass sie ihre Bedeutung verstand. Doch am Ende dieses Wutausbruches dämmerte es ihr, von welchem Geröll Anja da sprach.
„Nein“, flüsterte Alma mit heiserer Stimme, „nein, das war ganz anders, Anja, ganz anders.“
Sie rang nach Luft, konnte nicht sofort weitersprechen.
„Ach ja?“, setzte Anja aufs Neue an, doch als sie ihre Mutter nach Luft ringen sah, verstummte sie.
Alma war verzweifelt. Sie hatte eine engere Verbindung zu Anja schaffen wollen und nun war aus ihrer Beichte ein solches Desaster geworden. Zumindest die Sache mit dem Bild musste sie klarstellen. Retten, was zu retten war. Und wenn es das Letzte war, was sie noch zu sagen hatte auf dieser Welt.
Mit einer schwachen Handbewegung winkte sie Anja zu sich heran. Unwillig trat das Mädchen wieder näher. Alma roch leicht süßlich, als hätte der Tod schon von ihr Besitz ergriffen. Es ekelte Anja an, doch sie zwang sich, nicht zurückzuweichen.
„Vor deiner Geburt ging es mir schrecklich, ich hatte solche Angst, dass ich es eurem Vater gestehen muss, dass du nicht seine leibliche Tochter bist“, flüsterte Alma, „aber zunächst warst du ein Baby wie jedes andere. Du hattest einige dunkle Haare auf dem Kopf, doch die hatte Almuth auch gehabt. Trotzdem weinte ich nach der Geburt häufig, ich war so unsicher, ob ich mit so einem Geheimnis würde leben können. Dein Vater ...“
„Er ist nicht mein Vater!“, fuhr Anja dazwischen, doch Alma blieb dabei.
„Dein Vater verstand das natürlich nicht. Dachte ich zumindest. Er wirkte auch verunsichert. Es war die schlimmste Zeit, die wir je hatten. Selbst als ich die Affäre hatte, haben wir uns gut verstanden, aber auf einmal war alles schwierig ...“ Almas Stimme war immer leiser geworden, bis sie ganz erstarb. Doch jetzt wollte Anja wissen, was ihre Mutter ihr so dringend zu sagen hatte, und verharrte in gespannter Stille. Nach einer Weile sprach Alma weiter.
„Als du etwa neun Monate alt warst, begann dein rotes Haar zu wachsen. An deinem ersten Geburtstag war es schon eine solche Lockenpracht, dass man es nicht mehr leugnen konnte. Und mit deinem Haar wuchs auch wieder die Angst in mir. Dein Vater liebte dich, er vergötterte dich ebenso wie deine Schwestern, vielleicht sogar noch mehr. Und dann, eines Abends nach Feierabend, stand er nervös in der Küche und sagte mir, er habe ein Geschenk für mich. Es war das Bild.“
Alma verstummte erneut, dann huschte ein Lächeln über ihr hageres, gelbliches Gesicht. Ihr Blick schien in die Vergangenheit zu reisen. Es dauerte wieder einige Minuten, bevor sie weitersprechen konnte. Dann schaute sie Anja direkt in die Augen.
„Verstehst du? Es ist von deinem Vater. Er hat es mir geschenkt. Er hat mir damit unsere Ehe zurückgegeben, unser Glück, ein unbeschwertes Glück über unser drittes Kind, über dich, über dein schönes Haar ...“
Wieder erstarb die leise Stimme aus den Kissen. Langsam drang die Bedeutung dessen, was ihre Mutter ihr gerade erzählt hatte, in Anjas Bewusstsein. Alma fuhr trotzdem mit ihrer Erklärung fort.
„Er hat alles gewusst, irgendwie, aber er wollte es gar nicht wissen. Er wollte mich so behalten, wie ich war, und er wollte dich, und er wollte, dass ich das weiß. Es war das schönste Geschenk, das er mir jemals gemacht hat.“
„Also habt ihr beide den Rest eures Lebens freiwillig mit einer Lüge gelebt? Aus lauter Feigheit?“
Anjas Wut war verflogen, ihre Hilflosigkeit aber war geblieben, und die Übereinkunft ihrer Eltern machte sie fassungslos.
„Warum hätten wir reden sollen, wenn wir uns auch ohne Worte verstanden haben?“, fragte Alma sanft, noch immer in der Hoffnung auf eine gefühlsmäßige Annäherung.
„Und deine ganze Angst und Verzweiflung? Die hättest du dir durch ein paar Worte ersparen können.“
Und meine Angst und Verzweiflung hättest du mir damit auch ersparen können, setzte Anja in Gedanken hinzu.
Sie nahm ihre Jacke und zog sie über. Sie musste hier raus, ihr war übel.
„Nein“, antwortete Alma und unternahm damit einen letzten Versuch, das Verständnis ihrer Tochter zu gewinnen.
„Die Angst vor den Worten war noch größer.“
Da schlug Anja die Zimmertür hinter sich zu.