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Kapitel 6

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Ich verließ beinahe fluchtartig das Geschäft. Vor der Tür, während ich tief die lauwarme Herbstluft einatmete, spürte ich seinen Blick, den er mir durch das Schaufenster hindurch zuwarf. Ängstlich und unsicher. Komisch, dachte ich und eilte auf die Haupteinkaufstraße zu.

Irgendwie fühlte ich mich mit einem Mal in mir selbst fremd, unreal die Stadt um mich herum, wie von einem anderen Stern.

Irritiert steuerte ich den freien Tisch eines kleinen Cafés an und setzte mich in die wärmende Sonne. Ich brauchte jetzt erst einmal einen Kaffee und vielleicht ein Stückchen Kuchen.

Schrilles Lachen vom Nebentisch, das Schreien eines Säuglings, laute Stimmen und das Hupen eines Autos holten mich aus der merkwürdigen Stimmung heraus. Kurz darauf bekam ich meinen Kaffee und ein Stück Zwetschgenkuchen mit Sahne.

Wieder zurück in der Realität.

Ich nahm das Buch aus dem Rucksack. Vorsichtig öffnete ich es und schlug die erste Seite auf.

Ich fuhr erschrocken zurück. Das Buch schlug zu, glitt mir aus der Hand und rutschte in meinen Schoß. Fast hätte es die Kaffeetasse gestreift.

Mit zitternden Händen nahm ich es wieder in die Hand und schlug die erste Seite auf. Das konnte doch nicht sein!

Für meine liebe Lexa stand dort geschrieben. So hatte mich meine Mutter immer genannt, wenn sie mit mir zufrieden war oder mich, was meistens der Fall war, besonders liebhatte. Lexa, Lexakind, Lexalein.

Mit einem Mal konnte ich ihre Stimme deutlich hören. Sie war einer der wenigen Menschen, der ein singendes Lächeln in seiner Stimme trug.

Mein Herz hüpfte aufgeregt und meine Hände fühlten sich mit einem Mal leicht feucht an. Wie hieß die Autorin? Ich drehte das Buch auf die Vorderseite. Isabella Vargas. Meine Mutter hieß auch Isabella. Zufälle gibt es!

Warum sollte diese peruanische Frau nicht auch eine Lexa kennen? Es gibt Milliarden Menschen, so beruhigte ich mich. Sicher gibt es auch viele Lexas in aller Welt, sogar in Peru.

Es ist dein Buch. Es wurde für dich geschrieben. Unsinn! Quatsch! Mich hatte einfach mein geschriebener Name aus der Fassung gebracht, mehr nicht.

Ich trank einen großen Schluck Kaffee. Heiß, dunkelbraun, mit einem zarten Schokoladengeschmack, nicht zu bitter. Genau wie ich ihn mag. Auch der Kuchen schmeckte hervorragend.

Ich sollte Clemens anrufen, kam mir plötzlich in den Sinn. Ich nahm mein Handy und schaltete es ein. Er hatte schon einige Male versucht, mich anzurufen. Ich wählte seine Nummer.

„Alex, wo steckst du denn? Schon seit Stunden versuche ich, dich zu erreichen“, tönte es mir ärgerlich entgegen. „Ich wollte dir sagen, dass ich heute Nachmittag mit Fred in die Berge fahre. Wir machen morgen eine große Tour. Komme also erst am späten Abend zurück.“

„Wir wollten doch heute Abend zu unserem Italiener gehen. Und der Ausflug morgen?“ Ich konnte es nicht fassen.

„Ich weiß, mein Liebling. Aber morgen soll es ideales Bergwetter geben. Das verstehst du doch und den Ausflug holen wir nach, versprochen.“

„Ja, dann geh halt. Ich wünsch dir einen schönen Tag.“

„Ich wusste, dass du mich verstehst. Also, dann bis Montag in der Kanzlei. Küsschen.“

Bevor ich noch etwas erwidern konnte, war das Telefonat auch schon unterbrochen. Ich blieb enttäuscht zurück. Immer wieder versetzte er mich und erwartete mein Verständnis. Ich hatte es langsam satt.

Ich spürte das Gewicht des Buches auf meinem Schoß. Konrad schien geahnt zu haben, dass ich dieses Wochenende wieder allein verbringen würde. Wie so oft in letzter Zeit.

Die Sonne war inzwischen um eine Häuserecke verschwunden und die Herbstkühle strich an meinen Beinen entlang nach oben. Zeit, sich langsam auf den Heimweg zu machen. Ich trank den Rest Kaffee und steckte mir den letzten Bissen Kuchen in den Mund, zahlte und ging.

Das Buch wog schwer in meinem Rucksack. In der Straßenbahn widerstand ich dem Impuls, mit dem Lesen zu beginnen. Ich wollte keine Zeugen und Beobachter. So schaute ich, ohne große Gedankengänge, aus dem Fenster und ließ Haltestelle um Haltestelle hinter mir zurück.

In meiner Wohnung angekommen, legte ich das Buch ins Wohnzimmer auf den kleinen Beistelltisch neben meinem Ohrensessel. Groß, ausladend, mit bunten Blumen gemustert, füllt der Sessel den größten Teil des Erkers aus. Konrad schenkte mir dieses altmodische Ungetüm, wie es Clemens mit zusammengekniffenen Augen betitelte, zu meinem Einzug. Ich liebe diesen Sessel, das Prunkstück und Herz meiner Wohnung. Rings um ihn herum stapeln sich Bücher von meinem lieben Konrad, die zu lesen sich unbedingt lohnen würde.

Da ich den restlichen Tag allein verbringen würde, ging ich ins Schlafzimmer und zog meine Lieblingshose an. Eine alte, dunkelblaue Trainingshose mit verbeulten Knien. Darüber einen ausgeleierten, roten Baumwollpulli in Größe XL. Dann ließ ich mir eine Tasse Kaffee aus meinem Automaten und kuschelte mich zwischen die Kissen in meinen Lieblingssessel, nahm das Buch zur Hand und schlug es auf.

„Kann auch das Opfer zum Täter werden? Habe auch ich mich schuldig gemacht?“

Mein Herz klopfte. Was für ein merkwürdiger Anfang für einen Roman. Doch genau diese Sätze zogen mich hinein in das Buch, erweckten meine Neugier.

„Doch nun möchte ich mit meiner Lebensgeschichte beginnen oder soll ich es eher als Abrechnung mit meinem Schicksal und Aufarbeitung meiner Schuld bezeichnen? Wie auch immer. Es begann vor fünfundvierzig Jahren. Es war ein heißer Sommertag, der Himmel azurblau, die Sonne strahlte und ich war jung und bis über beide Ohren verliebt.“

Ich las und las.

Und die Tage lächeln wieder

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