Читать книгу Handbuch Betreuungsrecht - Sybille M. Meier - Страница 96

IX. Die Anhörung des Betroffenen

Оглавление

252

Nach § 278 FamFG ist die vorherige Anhörung des Betroffenen durch das Gericht in folgenden Situationen obligat:

Bestellung eines Betreuers oder Anordnung eines Einwilligungsvorbehaltes, § 278 FamFG,
Erweiterung um oder auf einen nicht unerheblichen Aufgabenkreis, § 293 Abs. 1, 2 FamFG,
Verlängerung der Betreuerbestellung oder des Einwilligungsvorbehaltes, § 295 Abs. 1 S. 1 FamFG,
Bestellung eines weiteren Betreuers unter Erweiterung des Aufgabenkreises der Betreuung, § 293 Abs. 3 FamFG,
der nicht unwesentlichen Erweiterung des Kreises der einwilligungsbedürftigen Willenserklärungen, § 293 Abs. 1 FamFG,
Genehmigung einer Sterilisation, § 297 Abs. 3 FamFG oder einer Kastration, § 6 KastrG,
Genehmigung einer gefährlichen Untersuchung, Heilbehandlung oder ärztlichen Eingriffs, § 298 Abs. 1 FamFG,
Weitere Genehmigungen im Rahmen des § 299 FamFG (Soll-Regelung bei Genehmigungen nach §§ 1821–1823, 1825 BGB, Muss-Regelung bei Genehmigungen nach § 1907 Abs. 1 BGB – Wohnungsaufgabe).

253

Das Gericht hat den Betroffenen grundsätzlich persönlich anzuhören, §§ 34 Abs. 1 Nr. 2, 278 Abs. 1 S. 1 FamFG. Eine fernmündliche oder schriftliche Anhörung ist ebenso wenig wie die Anhörung eines Verfahrensbevollmächtigten ausreichend; der Betreuungsrichter ist zur Verschaffung eines persönlichen Eindrucks verpflichtet, § 278 Abs. 1 S. 2 FamFG.

254

Demgegenüber besteht keine Verpflichtung zur Anhörung des Betroffenen bei der Bestellung eines Gegenbetreuers nach §§ 1792, 1908i Abs. 1 BGB.[1] Einer erneuten Anhörung des Betroffenen bedarf es auch dann grundsätzlich nicht, wenn zunächst nur eine sog. Kontrollbetreuung angeordnet wurde und diese innerhalb von sechs Monaten erweitert worden ist.[2]

255

Das Ziel der Vorschrift liegt zum einen in einer Stärkung des Kontakts zwischen dem Betroffenen und dem Gericht, um auf diesem Wege zu einer Optimierung bei der Aufklärung aller entscheidungserheblichen Umstände zu gelangen.[3] Die Anhörung in der vertrauten Umgebung des Betroffenen (Wohnung, Pflegeheim, Betreutes Wohnen, Strafanstalt usw.) dient also dazu, dem Gericht verwertbare Erkenntnisse von der Persönlichkeit des Betroffenen, seinen Lebensverhältnissen und seinem sozialen Umfeld zu vermitteln; seine sozialen Kontakte und anderweitige Hilfen können so bei der Bestimmung der Aufgabenkreise und der Betreuerauswahl besser berücksichtigt werden.

256

Zum anderen wird durch die Vorschrift das Verfassungsgebot des rechtlichen Gehörs konkretisiert, Art. 103 Abs. 1 GG, und sichergestellt, dass das Gericht den für seine Entscheidung unmittelbaren Eindruck von dem Betroffenen erhält. Funktionell zuständig zur Vornahme der Anhörung ist der für die Sachentscheidung zuständige Richter. Bei einem Dezernatswechsel ist – zur Vermeidung von Belastungen für den Betroffenen – eine erneute Anhörung durch den Nachfolger entbehrlich bei einer ausreichenden Protokollierung. Nicht ausreichend ist demgegenüber eine mündliche oder sonstige informelle Schilderung. In einem anhängigen Verfahren zur Anordnung einer Kontrollbetreuung, § 1896 Abs. 3 BGB, besteht Rechtspflegerzuständigkeit. Ebenso dort, wo Landesrecht Richtervorbehalte nach § 19 RPflG aufgehoben hat. Die Anhörung in Betreuungssachen hat eine Doppelfunktion: Sie dient der Gewährung rechtlichen Gehörs und der Sachverhaltsaufklärung.[4]

257

Nach § 278 Abs. 3 FamFG dürfen Verfahrenshandlungen im Inland ausnahmsweise durch den ersuchten Richter im Wege der Rechtshilfe erfolgen. Die persönliche Anhörung des Betroffenen ist eine wichtige Erkenntnisquelle für den Richter. Insofern ist von der Möglichkeit, einen ersuchten Richter mit der Anhörung zu beauftragen, äußerst zurückhaltend Gebrauch zu machen. Lediglich offensichtlich eindeutige Fälle, die von vorneherein – so die gesetzliche Formulierung – die Annahme rechtfertigen, der Betreuungsrichter komme auch ohne einen eigenen Eindruck vom Betroffenen aus, rechtfertigen eine Abstandnahme. Die Vorschrift hat absoluten Ausnahmecharakter. Zu denken ist an äußerungsunfähige Betroffene bzw. solche, die sich bewusstlos in einer weit entfernten Einrichtung befinden. Besteht keine originäre Zuständigkeit, ist zur Sicherstellung der Anhörung an eine Abgabe des Verfahrens zu denken.

258

In Verfahren betreffend die Einwilligung des Betreuers in eine Sterilisation sind Verfahrenshandlungen eines ersuchten Richters nicht zulässig, § 297 Abs. 4 FamFG. Befindet sich der Betroffene nicht nur vorübergehend im Ausland, gelten die Einschränkungen des § 278 Abs. 3 FamFG nicht. Die Verfahrenshandlung wird dann durch den ersuchten Richter im Wege der internationalen Rechtshilfe durchgeführt.

259

Die Anhörung hat zeitlich vor Erlass der avisierten betreuungsrechtlichen Maßnahme zu erfolgen. Die Anhörung ist nicht öffentlich. Der zukünftige Betreuer muss bei der Anhörung nicht zugegen sein. Etwas anderes gilt nur bei einem dementsprechenden Verlangen des Betroffenen.[5] Zu Beginn der Anhörung ist der Betroffene durch das Gericht über seine Rechte zu belehren. Die diesbezügliche Aufklärung des Betroffenen umfasst folgende Punkte:

Das Verlangen nach einer Milieuanhörung;
Widerspruch gegen die Anwesenheit weiterer Personen (§ 170 Abs. 1 S. 2 GVG);
Beauftragung eines Verfahrensbevollmächtigten (§ 10 FamFG);
Hinzuziehung einer Vertrauensperson (§ 274 Abs. 4 FamFG);
Rechtsmitteleinlegung (§§ 58 ff. FamFG, § 11 RPflG).

260

Die Anhörung befasst sich mit folgenden Themen:

Augenscheinseinnahme des Betroffenen und seiner Umgebung;
kommt die Bestellung eines Verfahrenspflegers in Betracht, ist mit dem Betroffenen zu klären, ob er sich lieber durch einen eigenen Rechtsanwalt oder eine andere geeignete Person vertreten lassen will. Falls ja, unterbleibt die Bestellung eines Verfahrenspflegers, § 276 Abs. 4 FamFG;
Vorschläge des Betroffenen zur Person eines Betreuers (§ 1897 Abs. 4 BGB) und mögliche Interessenkollisionen
Erforderlichkeit einer Betreuung (§ 1896 Abs. 1 BGB).

261

Das Gericht kann bei seiner Entscheidung nur solche Tatsachen und Beweismittel zu Grunde legen, zu denen sich der Betroffene und sein Verfahrenspfleger vorher äußern konnten. Ein bestellter Verfahrenspfleger ist zum Anhörungstermin ebenfalls zu laden.[6]

262

Zur Gewährleistung des Rechts auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) sind daher dem Betroffenen und seinem Verfahrenspfleger die schriftlichen Ermittlungsergebnisse (Sachverständigengutachten, eingeholte ärztliche Zeugnis, Sozialbericht usw.) in vollem Umfang vorab zur Verfügung zu stellen.[7] Eine sinngemäße zusammenfassende Darstellung der Ermittlungsergebnisse genügt regelmäßig nicht.[8]

263

Das Gericht soll ferner in der Regel vor einer abschließenden Entscheidung mit dem Betroffenen das Gutachten des Sachverständigen oder das ärztliche Zeugnis, den etwaigen Umfang des Aufgabenkreises und die Frage, welche Person als Betreuer in Betracht kommt, mündlich erörtern.[9] Soll in einem Betreuungsverfahren eine Entscheidung, die die Rechte des Betroffenen beeinträchtigt, auf Ausführungen eines Sachverständigen gestützt werden, die dieser im Termin zur Anhörung in Abwesenheit des Betroffenen gemacht hat, so ist dem Betroffenen zuvor Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben.[10]

264

Ferner hat das Gericht, sofern dies nicht schon vorher geschehen ist, den Betroffenen über den möglichen Ablauf des Verfahrens zu unterrichten und ihn in geeigneten Fällen – d.h. wenn Geschäftsfähigkeit vorliegt – auf die Möglichkeit der Errichtung einer Vollmacht und ihrer Registrierung beim zentralen Vorsorgeregister (§§ 78 ff. BNotO, § 1 VRegV) hinzuweisen, § 278 Abs. 2 S. 2 FamFG. Diese Vorschrift fand auf Initiative des Bundesrates 1999 Eingang in das 1. BtÄndG und verfolgt das Ziel, das Instrument der Vorsorgevollmacht zu stärken. Nach dem Erforderlichkeitsgrundsatz ist eine Betreuerbestellung entbehrlich, wenn die Angelegenheiten des Betroffenen durch einen Bevollmächtigten ebenso gut wie durch einen Betreuer besorgt werden können, § 1896 Abs. 2 S. 2 BGB.

265

Allerdings ist es seitens des Gerichtes aus haftungsrechtlichen Gründen nicht zu empfehlen, den Betroffenen eingehend über das Erstellen einer Vollmacht zu beraten. Es besteht zu Gunsten der Betroffenen die Möglichkeit, sich von Betreuungsbehörden, § 4 Abs. 2 BtBG, Betreuungsvereinen, § 1908f Abs. 4 BGB bzw. Rechtsanwälten oder Notaren diesbezüglich beraten zu lassen. Wird gleichwohl eine Auskunft erteilt, muss sie klar, vollständig und richtig sein, andernfalls im Schadensfall eine Amtshaftung in Betracht kommt.[11] Sofern der Betroffene bereits in der Vergangenheit eine Bankvollmacht oder Vorsorgevollmacht erteilte, hat das Gericht zu ermitteln, ob dies seinerzeit in einem geschäftsfähigen Zustand erfolgte.

266

Beispiel

Der Nachbarin Gisela K. des vermögenden, älteren Samuel L. fällt auf, dass dieser immer vergesslicher wird. Sie bewegt ihn, zu ihren Gunsten eine Generalvollmacht auszustellen. Zeitgleich beantragt der bei Herrn L. tätige Pflegedienst bei dem zuständigen Betreuungsgericht, einen Betreuer zu bestellen.

267

In einem solchen Fall wird das Gericht durch geeignete Ermittlungen zu erforschen haben, ob der Betroffene zum Zeitpunkt der Errichtung der Vollmacht geschäftsfähig war. Die Vollmacht verliert nicht durch einen späteren Eintritt der Geschäftsunfähigkeit ihre Gültigkeit, § 672 BGB. Das heißt, die spätere Geschäftsunfähigkeit lässt eine einmal wirksam erteilte Vollmacht nicht unwirksam werden, § 168 S. 1 BGB.

268

Der Betroffene hat also auch noch während des laufenden Betreuungsverfahrens die Möglichkeit, eine Betreuung ganz oder teilweise durch Erteilen einer Vollmacht an einen Vertrauten zu vermeiden. Voraussetzung ist allerdings das Vorliegen von Geschäftsfähigkeit (§ 104 BGB) zum Zeitpunkt der Errichtung der Vollmacht.

269

Im Verfahren zur Aufhebung einer bestehenden Betreuung (§ 1908d BGB) ist demgegenüber weder die persönliche Anhörung des Betroffenen noch die Einholung eines Sachverständigengutachtens obligatorisch (§ 294 Abs. 1 FamFG). Ob solche Verfahrenshandlungen im Einzelfall geboten sind, richtet sich vielmehr nach den Grundsätzen der Amtsermittlung (§ 26 FamFG).[12]

270

Für das Beschwerdeverfahren vor dem Landgericht gilt: Ist der Amtsrichter trotz eines gegenläufigen Sachverständigengutachtens aufgrund des persönlichen Eindrucks des Betroffenen zu der Überzeugung gelangt, dass dieser einen freien Willen i.S.d. § 1896 Abs. 1a BGB bilden könne, und hat er deshalb die Einrichtung einer Betreuung abgelehnt, darf das Beschwerdegericht die Betreuung grundsätzlich nicht ohne Anhörung des Betroffenen anordnen.[13]

271

Die Pflicht zur persönlichen Anhörung des Betroffenen besteht grundsätzlich auch im Beschwerdeverfahren. Allerdings kann das Beschwerdegericht von der persönlichen Anhörung absehen, wenn diese bereits im ersten Rechtszug vorgenommen worden ist und von einer erneuten Anhörung keine neuen Erkenntnisse zu erwarten sind.[14] Wurde der Verfahrensbevollmächtigte des Betroffenen zum Anhörungstermin vor dem Amtsgericht weder geladen noch hiervon benachrichtigt, leidet die Anhörung an einem Verfahrensfehler, der eine erneute Anhörung – ggf. durch das Beschwerdegericht – erforderlich macht.[15]

272

Sieht das Beschwerdegericht von einer persönlichen Anhörung ab, muss es die Gründe dafür in der Beschwerdeentscheidung nachvollziehbar darlegen. Von einer erneuten Anhörung im Beschwerdeverfahren sind in der Regel neue Erkenntnisse zu erwarten, wenn der Betroffene an seinem in der amtsgerichtlichen Anhörung erklärten Einverständnis mit einer Betreuung im Beschwerdeverfahren nicht mehr festhält oder wenn er im Beschwerdeverfahren erstmals den Wunsch äußert, ihm einen bestimmten Betreuer zu bestellen.[16]

Handbuch Betreuungsrecht

Подняться наверх