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7 – Mutti

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Mutti war ihr Planungsmonster. Mit anderen Worten: Was immer Mutti organisatorisch anging, hatte leichte, aber entscheidende Defizite im Detail. Kostprobe gefällig?

Unvergessen sein Anruf über Handy kurz hinter Wildeshausen auf der A 1 bei Tom-Tom und dem Avvocato: »Fahrt ihr auch zum Pokalspiel, wir haben euch nämlich gerade überholt?« Was willst du darauf antworten? Als Tom-Tom dann auch noch ablehnen musste, auf dem Rastplatz Wildeshausen zwecks Kartenverteilung zu warten - sie waren ja gerade erst daran vorbeigerauscht! -, war Mutti vollends konfus.

Getroffen haben sie sich natürlich trotzdem. Ganz regulär Abfahrt Hemelingen raus und in das Gewerbegebiet zu den Parkstreifen entlang der Shuttle-Bus-Linie in der verbotenen Stadt. Mutti kam mit dem geliehenen Neunsitzer kurz nach Tom-Tom und dem Avvocato an und hielt nur wenige Meter entfernt.

Ganz ohne Show-Einlage blieb es dennoch nicht. Zwar konnte Mutti verhindern, dass seine Mitfahrer sich in die geöffnete Seitentür stellten, um aus dem fahrenden Bus zu pinkeln und so ihre Abneigung gegen alles, was grüne Trikots trug, der Welt kundzutun.

Trotzdem konnten sie es sich nicht verkneifen, aus der offenen Tür immerhin kollektiv Schei... W... B... zu skandieren. DJ, der sich dabei im wahrsten Wortsinne zu sehr ins Zeug gelegt hatte - will heißen, er war quasi schon mehr aus dem Bus als noch darinnen - wurde von Muttis Bremsmanöver überrascht und landete als Erster an. Was bedeutete, er fiel schlichtweg wie ein nasser Sack aus dem einparkenden Bus.

Ganz großer Stunt und peinlich allemal. Entgegen aller Vernunft und Gerechtigkeit ging die Nummer für DJ ohne größere Blessuren aus. Ob es daran lag, dass die Fußball-Götter auch Idioten beschützten. Ob es der bereits jetzt schon beachtliche Alkohol-Pegel war. Wie auch immer. Außer einer eingerissenen Hose und ein paar Schrammen hatte DJ keine weiteren Spätfolgen davongetragen. Rechnet man die höhnischen Beifallskundgebungen des Teils der Fans in Grün nicht unter verletzte Ehre. Für zumindest einen kurzen Zeitraum war DJ durch den Sturz sogar wieder halbwegs nüchtern.

Blöd war nur, dass DJ erst im Shuttle merkte, dass er Brieftasche und damit Eintrittskarte im Neunsitzer hatte liegen lassen. Irgendwie konnte er dem Shuttle-Bus-Fahrer die Geschichte glaubhaft machen und durfte mit dem Shuttle wieder zurück zu den Parkplätzen fahren. Er schaffte es auch noch pünktlich zum Anpfiff in den Block.

Komplett war die Fahrgemeinschaft aber dennoch nicht. Der Presbyter hatte einem der Polizisten unbedingt ein Gespräch aufzwingen wollen und ihn mit unverständlichem Anliegen zugetextet. Vielleicht hatte er ihm erklären wollen, wie traumatisierend die Farbe Grün auf ihn wirkte. Vielleicht wollte er auch nur die Handy-Nummer der hübschen Kollegin des Sheriffs haben. Beim Presbyter konnte man sich nie sicher sein.

Der Vertreter des Rechtsstaates hatte sich jedenfalls kurzer Hand seines Machtmonopols besonnen und den Presbyter festgesetzt. Fing der Presbyter einmal an - ...komm Digger, lass mah auswärts fah'n... -, war er anders allerdings auch kaum zu stoppen. Es gab noch einige Touren, bei denen nicht wenige in der Truppe sich gewünscht hatten, den Presbyter ähnlich unkompliziert - wenigstens für eine Weile - außer Gefecht setzen zu können, wie es der Sheriff getan hatte.

Für Mutti war der Tag spätestens ab da gelaufen. Er konnte es nicht haben, wenn nicht alle seine Schäfchen unter seiner direkten Obhut waren.

Völlig hektisch ging es nach dem Spiel zur Polizeiwache, Presbyter auslösen. Dann auf die Bahn und möglichst schnell zurück, damit der Leihwagen noch vor zweiundzwanzig Uhr wieder abgegeben werden konnte. Ansonsten wäre das gesamte Wochenende zu bezahlen und der Kurzzeittarif hinfällig.

Haben die Jungs natürlich nicht geschafft, wurde ein richtig teurer Boxen-, sorry: Burger-Stopp. Wegen Zeitverzug mussten die Burger unterwegs verdrückt werden. Irgendjemand wollte dann unbedingt seinen Burger tauschen: »Ey. Lass mah beißen!«

Natürlich landete bei der Aktion eine ordentliche Portion Ketchup auf den Polstern. Bei dem Versuch, den Schaden zu begrenzen, zerplatzte obendrein noch eine Bierflasche. Der Inhalt ergoss sich gleich über zwei Sitzreihen. Womit klar war: Endreinigungspauschale von vierhundertfünfzig Euronen fällig. Keiner wollte es gewesen sein. Mutti sollte mal wieder auf dem Schaden sitzen bleiben.

»Hab’s doch gleich gesagt: Asi-Ticket wäre besser gewesen!« »DJ, halt die Klappe. Asi-Ticket geht im Moment nicht! Schon vergessen? Zwei von euch haben Hausverbot bei der Deutschen Bahn seit der letzten Tour!« Immerhin hatte Mutti keine Beule in den Leihwagen gefahren. Machte er wohl immer nur bei seinem eigenen Auto.

Besonders eindrucksvoll: Straßenlaterne rammen, Aufsatzleuchte kommt aus guten sieben Metern herab geschossen und landet fett auf der Motorhaube.

Auch nicht schlecht: Weder Gang einlegen noch Handbremse anziehen. Hatte auf dem leicht abschüssigen Seitenstreifen in Mainz am alten Stadion am Bruchweg dazu geführt, dass Muttis Golf es eigenständig bis in die Grünanlagen des SWR-Funkhauses und da in einen kleinen Zierteich schaffte.

Eigenständig heraus ging natürlich nicht. War schon gröberes Gerät im Einsatz. Die Stadiondurchsage »…der Fahrer des Wagens mit dem Kennzeichen…wird dringend gebeten, sein Fahrzeug umgehend aus dem Zierteich des Funkhauses zu entfernen...« musste dreimal wiederholt werden. Solange hatten sie gebraucht, Mutti wiederzubeleben.

Eine letzte Episode? Mutti ruft Donnerstagabend Tom-Tom an und fragt, ob der den Holländer mitnehmen könne. Er selber würde wegen starker Erkältung nicht fahren. Sollten noch zwei weitere Oranje aus der Stammkneipe des Holländers mitkommen. Treffpunkt: Parkplatz Ausfahrt Oberhausen Lirich, A 3. Da würde Mutti die Holländer hinbringen und dann ganz schnell wieder Richtung Bett und Wadenwickel donnern.

Schon mal früh morgens auf dem Parkplatz in Lirich gewesen? Jedermann weiß, dass dieser Parkplatz ein beliebter Schwulentreff ist. Mutti wusste das nicht.

Als die Holländer hörten, dass Autotour anstelle Asi-Ticket angesagt sei, wollten sie nicht mehr mitkommen. Im Auto ist langweilig. Asi-Ticket heißt Party vor großem Publikum. Und das war für die Holländer der eigentliche Grund, zu Spielen des HSV zu fahren.

Denn Party in Eindhoven, Amsterdam oder Enschede ist nicht. In der Eredivisie darf noch nicht einmal Bier ausgeschenkt werden. Ganz abgesehen vom rigorosen Eingreifen der Ordnungskräfte. Dem der Heimfans-Hooligans sowieso. Die haben doch nicht mehr alle Löcher im Käse. Dagegen ist Bundesliga wie Kindergeburtstag.

Jedenfalls wollte Mutti nach all dem organisatorischen Aufwand nicht, dass Tom-Tom alleine fahren musste und entschied Freitag kurzerhand, anstelle der Holländer selbst mitzufahren. Abgemacht ist schließlich abgemacht.

Ob es an der Erkältung oder der sprichwörtlichen inneren Ruhe lag, die Mutti auszeichnete. In jedem Falle hat er an diesem Abend auf dem Heimweg gleich zwei Blumenkübel in der Tempo-Dreißig-Zone direkt vor seiner Haustür übersehen.

Den ersten hatte er übelst gestreift und die Flanke vom Golf aufgerissen. Den zweiten ist Mutti dann gleich frontal angegangen und hat den Golf vorne ein Stück kürzer gemacht.

Abschleppen, Kostenvoranschlag in Auftrag geben, Versicherung benachrichtigen, Polizei erklären, wie man so etwas nüchtern fertig bringt, und Tourenplanung korrigieren.

Zum Parkplatz nach Lirich mit Golf ging ja nun nicht mehr. Leihwagen gab das angespannte Budget nicht her. Also Samstag früh mit dem Taxi zum Bahnhof. Von da nach Duisburg Hauptbahnhof. Von da dann wieder per Taxi zum Treffpunkt Parkplatz Lirich.

Mutti wusste immer noch nicht, dass er gerade einen Schwulentreff ansteuerte. Der Taxifahrer schon. Entsprechend merkwürdig muss diesem die ganze Aktion vorgekommen sein. Im HSV-Trikot und Fan-Schal um diese Zeit zum Rendezvous? Ein wenig anders sind die vom anderen Ufer ja schon. Aber so?

Mutti konnte überhaupt nicht verstehen, warum der Taxifahrer ihn das Fahrziel wiederholen ließ. Beim letzten Mal mit einem langgezogenen »wirklich auf den Parkplatz nach Lirich?«

»Hab ich doch gesagt«, so Mutti allmählich merklich genervt. Also stand Mutti um sieben Uhr morgens auf besagtem Parkplatz. Der natürlich um diese Uhrzeit nicht sonderlich frequentiert war. Es kamen aber vereinzelt Freier der Nacht zurück, ihre abgestellten Autos abholen.

Mutti war an diesem Morgen schon ein Novum für die Stammgäste des Parkplatzes. Entsprechend gesellig verlief seine Wartezeit. Dies umso mehr, da Mutti - wie immer überpünktlich - geschlagene zwei Stunden zu früh dran war.

Als Tom-Tom dann um neun Uhr am Parkplatz eintraf, war Mutti in regem Gespräch mit vier schillernd bunt gekleideten Nachtschwärmern und versuchte gerade, zu erklären, wieso er denn mutterseelenallein hier in der Gegend herumstand und wieso der HSV der beste Verein der Welt ist.

Geglaubt haben sie ihm die »warte auf meinen Kumpel!« -Geschichte sowieso nicht. Mutti hatte auch noch brav seine Handy-Nummer verteilt, weil er wohl dachte, er könne weitere Fans rekrutieren.

Hat er dann auch, wie diverse Anrufe in der Folgezeit zeigen sollten. Zum Spiel wollte allerdings keiner. Spielen dagegen schon. Das wollte dann Mutti aber nicht.

»Wieso hast du mich denn nicht angerufen und Bescheid gegeben, dass du mit dem Zug kommst? Ich fahre doch fast am Hauptbahnhof vorbei, wenn ich die A 3 hochkomme!«, hatte Tom-Tom Mutti gefragt, nachdem er die Geschichte so halbwegs verstanden hatte. Mutti meinte nur, abgemacht sei abgemacht. Er wollte halt keine Umstände machen. Und geplant sei geplant.

Also ging es wieder auf die A 3, dieses Mal in Gegenrichtung. Richtig. Wieder unweit vom Hauptbahnhof an Duisburg vorbei und ab zum Heimspiel nach Hamburg. Muttis Bemerkung, »das waren aber lustige Typen hier«, ließ Tom-Tom dann mal unkommentiert. Mutti hatte auch so schon Aufregung genug gehabt. Nähere Details hätten ihn nur noch unruhiger gemacht.

Mutti war herzensgut, aber ein echter Schisser. Genauere Kenntnis darüber, mit wem er gerade zwei Stunden alleine auf einem abgelegenen Parkplatz verbracht hatte, hätte bei ihm eine oh-Gott-oh-Gott-Überreaktion ausgelöst, die ganz bestimmt bis Hamburg angehalten hätte. Das wollte Tom-Tom Mutti und sich selbst nicht antun.

»Und worüber habt ihr euch so unterhalten?« Mutti: »Die wollten mich zur after-Party mitnehmen. Aber ich habe ja schon etwas anderes vor.«

Hinterher war sich Tom-Tom nicht mehr sicher, ob Mutti wirklich diesen Ausdruck verwendet hatte. Oder ob er den Spätfolgen seiner langjährigen beruflichen Tätigkeit erlegen war.

Abgestandene platte Witze erzählen konnten so einige der psychisch kranken Betreuten in der Werkstatt. Etwa vom Kaliber: »Was sagt ein Schwuler, wenn die Feierabend-Sirene ertönt? Ist doch logo: Der Homo lässt die Arbeit ruh’n und freut sich auf den afternoon / After nun!« – Oh hauah hauah ha. Konnte ja auf Dauer nicht gut gehen.

Wieso Mutti es im normalen Leben geschafft hatte, Ressortverantwortlicher einer kommunalen Verwaltung zu werden, hatte Tom-Tom angesichts regelmäßiger nicht unerheblicher Planungsschnitzer auf diversen Touren schon des Öfteren gewundert.

Andererseits nun wieder, wenn Tom-Tom genauer darüber nachdachte. So ungewöhnlich waren die Erlebnisse mit Mutti im Vergleich zu dem, was Tom-Tom selbst schon im Umgang mit Behörden erlebt hatte, denn auch wieder nicht.

Alles in allem wurde es aber doch noch ein schöner Tag für Mutti. Was natürlich auch daran lag, dass endlich wieder ein Heimsieg eingefahren wurde.

Und Mutti durch einen anderen Organisator ersetzen? Um nichts in der Welt. Schließlich wollten ja alle ihren Spaß haben. Und der war mit Mutti - Ergebnis hin, Ergebnis her – garantiert.

Außerdem hätte sich wohl auch niemand sonst gefunden, der für diesen Chaoten-Haufen Planungsverantwortung hätte übernehmen wollen.

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