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1 - Gar nicht bekloppt!

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Tom-Tom hatte einen dieser Freitage erwischt, an denen er sich fragte, warum er überhaupt zur Arbeit gekommen war.

Nein, Tom-Tom hatte natürlich nichts mit dem Unternehmen aus den Niederlanden zu tun, welches seit 2001 seinen Namen okkupiert hatte. Es war sein bester Jugendfreund gewesen, der stotterte, wenn er aufgeregt war. Und weil er eigentlich immer aufgeregt war, blieb es halt bei Tom-Tom. Spätestens seit Tom-Tom sich in der Vorstellungsrunde am ersten Schultag selbst so genannt hatte, war die Nummer durch. Alle Welt nannte ihn seit damals Tom-Tom. So viel Zeit musste sein.

Und nein, nicht dass es Tom-Tom keinen Spaß mehr machte nach all den Jahren. Tom-Tom arbeitete in einer Behindertenwerkstatt. Also schon auf der anderen Seite. Sein Job war es hauptsächlich, für genügend Lohnaufträge und damit Umsatz zu sorgen. Das war durchaus eine spannende Geschichte, die da tagtäglich ablief. Kein Tag glich wirklich dem anderen. Und selbst nach über zwanzig Jahren Werkstatt konnte es vorkommen, dass Tom-Tom eine weitere Methode kennenlernte, wie man ein Fahrrad besser nicht zusammenbaut.

Oder warum es unverzichtbar wichtig ist, dass beim Frühstückskaffee nicht nur die Tasse randvoll sein muss, sondern auch die Untertasse. Selbstverständlich kommen darauf noch fünf Löffel Zucker und reichlich Milch.

Und selbstverständlich macht sich der Gefahrguttransport dann von der Ausgabe quer durch den Pausenraum zum allerentferntesten Tisch auf den Weg. Ohne Zwischenstopp, ohne Ausweichen, ohne Erbarmen. Wäre die Tasse nicht randvoll gewesen, was wäre dann noch am Tisch angekommen? Nichts geschieht ohne tieferen Sinn.

Tom-Tom war an diesen Freitag ausgesprochen pünktlich auf den Hof gefahren. Soweit man das im Zeitalter von Gleitzeit sagen darf.

Jedenfalls war er deutlich früher als sein Chef. Was Wunder. Der hatte bereits nach wenig mehr als einem halben Jahr die Schnauze gestrichen voll. Sagte er jedenfalls schon mal recht nachdrücklich. Ohne wirklich danach gefragt worden zu sein. Schreit nach einem Führungskräfteseminar.

Zumindest darin war Werkstatt wirklich gut. Gibt es ein Problem: Arbeitskreis einberufen und Fortbildung buchen. Hätte an der inneren Kündigung des Chefs zwar nichts geändert. Er hätte sich aber womöglich geschliffener ausgedrückt.

Der Tag ging also alles in allem durchaus gut an. Es lagen drei vielversprechende Anfragen potenzieller Kunden mit einem erklecklichen Gesamtvolumen auf Tom-Toms Schreibtisch.

Für eine Behindertenwerkstatt, die hauptsächlich überschaubare Montageaufträge für mittelständische Unternehmen ausführte, sogar ein ganz besonders erkleckliches Sümmchen. Eine Menge behinderter Menschen wären für eine geraume Weile mit Arbeit versorgt gewesen.

Tom-Tom war dennoch sofort klar: Diese Anfragen waren einfach eine Nummer zu groß, als dass seine Kollegen zu begeistern sein würden. Im Gegenteil. Sie würden wieder unzählige Gründe finden, warum sie genau diese Aufträge nicht, jedenfalls nicht jetzt oder erst nach ausgiebiger Prüfung durchführen könnten.

Unter Einbezug der jeweils zuständigen Sozialpädagogin, versteht sich. Die nach Tom-Toms Einschätzung eine grundsätzliche Abneigung gegen jedwede Arbeit hatte, über die man nicht mindestens fünf Monate diskutieren konnte. Doch was willst du über Konstruktionsvorgaben diskutieren?

Tom-Tom hatte auch das gelernt: Diskutieren geht immer!

Treffen sich zwei Sozialarbeiter am Bahnhof. Fragt der eine: Kannst du mir sagen, wie spät es ist? Sagt der andere: Du, ich habe weder Uhr noch Handy. Aber gut, dass wir darüber gesprochen haben!

Doch an diesem Freitag ging alles besonders schnell. Anstelle einer vorsichtigen Hinhaltetaktik, wie sie sonst Gepflogenheit war, sagten alle Verantwortlichen mit Verweis auf die gute Auslastung, mangelnde Lagerkapazitäten und hohen Krankenstand sofort ab. Das war ungewöhnlich.

Üblicherweise wurde sonst immerhin so getan, als wäre man im Prinzip schon interessiert. Selbst der oberste Chef, der natürlich immer in Carbon Copy gesetzt sein wollte, um sich gleich darauf über sein überquellendes Postfach und die vielen überflüssigen Mails zu beschweren, hatte recht zügig Verständnis für die Kollegen und verzichtete auf mediativen Eingriff. Welcher am Ergebnis ohnehin nichts geändert hätte.

Unter dem Strich hatte Tom-Tom jedenfalls nach der Frühstückspause bereits gestrichen die Nase voll. Meistens hielt er sonst tapfer bis Mittag durch. Also begann er, sein Wochenende zu planen.

Gut. Zuvor mussten noch die Kunden informiert werden. Ihnen eine Absage zu erteilen und sie dennoch so bei Laune zu halten, dass sie nicht zum letzten Mal angefragt hatten, blieb natürlich an ihm hängen. War vielleicht sogar sein wichtigster Job. Nicht immer leicht, aber einer musste es schließlich machen.

Wie hatte es sein Chef auf den Punkt gebracht: »Ich brauche einen Schutzwall für die Kollegen. Das sind sie. Wenn es gut läuft, werden alle gelobt. Wenn es schlecht läuft, bekommen wenigstens nur sie auf die Schnauze. So lange es so bleibt, haben wir alle etwas davon und sie können machen, was sie wollen. Oder wenigstens beinahe.«

Hin und wieder durchbrach der Geschäftsführer dieses unfreiwillige Stillhalteabkommen mit unangenehmen und vor allem unangemessenen Forderungen nach Umsatzsteigerung.

Da dieser aber weder in der Lage war, das System zu verstehen und zu durchschauen, noch bereit, es signifikant zu ändern, blieb alles, wie es war.

Tom-Tom sorgte für Kundenanfragen, die keiner haben wollte. Schrieb Konzepte zur Umsatzsteigerung, Kundenbindung und Erhöhung der Produktivität, allesamt praktikabel und installierbar.

Problem jedoch blieb: Hätte man etwas ändern wollen, hätte man etwas ändern müssen. Und dazu schien niemand bereit. Also verschwanden diese Konzepte schnell wieder in der Schublade, mindestens bis zum nächsten Rundumschlag des Geschäftsführers. Dann wurden diesem die nahezu unveränderten Konzepte erneut vorgelegt.

Der Geschäftsführer fand sie wieder sehr innovativ. Wollte keinesfalls, dass sie in der Schublade vergilbten. Berief Arbeitskreise und Arbeitstreffen ein. Und danach war alles wie zuvor. Die Konzepte lagen in der Schublade bei den anderen und niemanden hat es wirklich interessiert.

Es gab also keinen plausiblen Grund, die Wochenendplanung länger aufzuschieben. Bis auf einige Telefonate, welche noch zu führen waren und einige Mails, die beantwortet sein wollten.

Nachdem er dies erledigt hatte, rief Tom-Tom gegen elf Uhr seinen Kollegen in einer Behindertenwerkstatt im tiefsten Ruhrgebiet an, der dort die Schreinerei leitete. Ihm hatte er vor seinem Urlaub Muster und Zeichnungen überlassen in der Hoffnung, die Ruhrpöttler würden sich an einer Eigenproduktion beteiligen, die Tom-Tom vor kurzem initiiert hatte. Dem war natürlich nicht so.

Auch im Ruhrgebiet stand das Tagesgeschäft einer strategischen Neuausrichtung im Weg. Die überlassenen Muster und Zeichnungen wollte Tom-Tom immerhin nicht ebenso abschreiben wie die erhoffte gedeihliche Zusammenarbeit. Also war ein zweites Treffen unumgänglich.

Es passte ihm an diesem Tage zudem ausgesprochen gut. Für vierzehn Uhr hatte Tom-Tom sich mit dem Avvocato am üblichen Treffpunkt verabredet, keine fünf Kilometer von seinem aktuellen Termin entfernt. Denn WIR hatten das Abendspiel.

Auch unter Berücksichtigung eines erhöhten Verkehrsaufkommens an einem Freitag sollten sechseinhalb Stunden allemal reichen, um aus dem Ruhrgebiet nach Hamburg zu kommen. Einen kostenfreien Parkplatz am Stadion zu finden. Ein paar Freunde zu treffen. Die nächsten Auswärtstickets am Supporters-Stand abzuholen und pünktlich zum Anpfiff im Block zu sein. Pinkelpause inbegriffen.

Immerhin hatten WIR ja Heimspiel, da kommt man nicht gern zu spät.

Wieso man plus minus achthundert Kilometer für ein Heimspiel verfährt und das für völlig normal hält, ist vielleicht nicht jedem und nicht auf den ersten Blick ersichtlich. Wie sich heraus stellen sollte, für den Schreiner-Kollegen ebenfalls nicht.

Jedenfalls war Tom-Tom um Punkt dreizehn Uhr bei der befreundeten Werkstatt für Behinderte im tiefsten Ruhrgebiet, wie er es dem Kollegen, der heute mal früher Schluss machen wollte, versprochen hatte. Er fand ihn nicht gleich, denn es war Mittagszeit. Und vor der Zeit Feierabend machen heißt ja jetzt nicht, auch vor der Zeit Pausen zu streichen. Nicht in einer Werkstatt für Behinderte. Und schon gar nicht im Ruhrgebiet.

Er fand seinen Kollegen also in der Kantine bei dessen wohlverdienter Mittagspause, die im Grunde bereits das Einläuten des auf dreizehn Uhr dreißig geplanten Wochenendes war.

Wartete geduldig, bis der Kollege seinen Kaffee ausgeschlürft hatte und wollte eigentlich nur noch eben die überlassenen Muster und Zeichnungen einladen, um sich dann auf den Weg zum Treffpunkt zu machen. Doch so schnell gehen die Dinge im Ruhrgebiet nicht. In einer Werkstatt für Behinderte schon mal gar nicht.

Wo waren denn noch gleich diese verdammten Muster? Der Kollege fing an, zu suchen und war sich jedes Mal sicher, hier müssen sie doch sein! Nicht, dass er seit gut zwei Stunden fernmündlich darauf vorbereitet gewesen war. Nicht, dass er etwa zur Unordnung neigte. Nein, er war schlicht und ergreifend nur noch nicht dazu gekommen, die besagten Gegenstände zu suchen.

Übrigens ein unverkennbares Merkmal, sich in einer Werkstatt für Behinderte zu befinden. Und dies gilt nicht nur für das Ruhrgebiet. Im Zweifel wird es der Kollege gewesen sein, welcher die Urlaubszeit des Schreiners missbraucht hatte, das wohlgeordnete Chaos in ein nicht durchschaubares, weil systematisches Ablagesystem zu verwandeln.

Gegen dreizehn Uhr zwanzig, also höchste Zeit für beide, endlich zum Abschluss zu kommen, war dann alles Gesuchte beisammen: Die Muster und die Zeichnungen. Man hatte sich im Grunde nur noch zu verabschieden und beide konnten ihre Termine voraussichtlich gemäß Plan einhalten.

Doch so ist nicht das Ruhrgebiet. Da ist ein klein Pläuschken ein Zeichen des Respekts, also unverzichtbar. Egal, wie sehr die Zeit drängte.

Kollege Schreiner: »Die Verkehrslage ist ja mal wieder ziemlich chaotisch.«

Anmerkung: Es lagen etwa eineinhalb Zentimeter Schnee, denn der Winter hatte erbarmungslos zugeschlagen im Ruhrgebiet!

»Mein Chef, die arme Socke, muss nachher nach Hamburg! Der tut mir richtig leid. Hoffentlich kommt er überhaupt heute noch an.«

Tom-Tom fragte interessiert, denn Hamburg interessierte immer: »Fährt dein Chef auch zum Spiel?« Kollege Schreiner: »Nee, der fährt Verwandtschaft besuchen, bleibt wohl auch das ganze Wochenende. Aber wieso auch, und wieso zum Spiel, zu was für einem Spiel?«

Tom-Tom holte seinen Autoschlüssel aus der Tasche und zeigte auf den Anhänger mit der HSV-Raute: »Na zu dem Spiel natürlich, wohin denn sonst?«

»Wie jetzt?«, fragte der Kollege. »Sag nicht, du fährst für ein Fußballspiel nach Hamburg?«

»Natürlich«, antwortete Tom-Tom. »Ich fahre nicht für ein Fußballspiel nach Hamburg. Ich fahre zu jedem Spiel des HSV.«

Der Kollege: »Dann bleibst du aber über das Wochenende da oben in Hamburg, oder?«

Tom-Tom: »Nein, wir fahren zum Spiel und heute Abend noch zurück.«

Der Schreiner: »Das ist aber ganz schön bekloppt, vierhundert Kilometer zu einem Fußballspiel zu fahren und danach gleich wieder vierhundert Kilometer zurück!?«

Bevor Tom-Tom noch antworten konnte, wobei er schon eine Weile überlegte, wie er denn jetzt eine auch für Außenstehende verständliche Antwort geben sollte, stand weiter hinten in der Werkstatt einer der behinderten Mitarbeiter auf.

Schlurfte gemächlich nach vorne. Zog umständlich mit etwas ungeschickter Bewegung aus seiner Hosentasche einen Schlüsselbund, an dem ein zwar recht abgenutzter, aber unverkennbar ebensolcher HSV-Anhänger prangte, wie Tom-Tom ihn eben noch stolz dem Kollegen gezeigt hatte.

Gab Tom-Tom kumpelhaft die obligatorische Fünf und sprach laut und selbstverständlich in aller Ruhe aus, was sowieso jeder weiß: »Gar nicht bekloppt!!!«

Das breite Grinsen des behinderten Mitarbeiters, die völlige Verblüffung des Kollegen, die Absurdität der Situation, welche der behinderte Mitarbeiter so pointiert als schlichte Normalität auf den Punkt gebracht hatte.

Noch im selben Augenblick wusste Tom-Tom: Vielleicht hatte er nicht immer einen leichten Job. Aber Momente wie diesen erlebst du nicht mal eben so, nicht einmal im Ruhrgebiet.

Alles, was morgens noch geschehen war, spielte jetzt keine Rolle mehr. Tom-Tom war sehr stolz, mit behinderten Menschen arbeiten zu dürfen. Er war froh, erleben zu dürfen, wie es seinem Kollegen die Sprache verschlug. Im Ruhrgebiet wohl gemerkt!

Und Tom-Tom war mit einem Schlag in der Stimmung, sich jetzt mit guter Laune auf den Weg zum Treffpunkt und dann nach Hamburg zum Spiel machen zu dürfen.

Besser hätte man es nicht auf den Punkt bringen können: Sich an einem Freitag vierhundert Kilometer gen Norden auf die Autobahn zu schmeißen, um ein vermutlich (nein, ganz sicher!) grottenschlechtes Spiel zu sehen und zu beklatschen. Danach nochmals vierhundert Kilometer zurück.

Sich womöglich je nach Spielausgang der Häme von Nachbarn und Freunden ausgesetzt sehen. Was zum Teufel ist das???

Es ist jedenfalls eines: Gar nicht bekloppt!!!

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