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9 - Presbyter und Mongo

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Presbyter war zu seinem Spitznamen während seiner Zivildienstzeit gekommen, die er in einer evangelischen Gemeinde in einem Seniorenzentrum abgeleistet hatte. Sie hatten ihn dort einmal zu einem UEFA-Cup-Spiel in Belgien abgeholt (damals hieß das tatsächlich noch UEFA-Cup!) und waren von ihm auf das Strengste ermahnt worden, sich ja anständig zu benehmen. Immerhin war er ordentliches Mitglied des Presbyteriums.

Wer sich an die letzten Fahrten mit dem Presbyter zu einem Spiel erinnerte - häufig genug mit dem Asi-Ticket, durch die Deutsche Bundesbahn fälschlicher Weise als Schönes- Wochenende-Ticket verkauft und damit geradezu eine Einladung zum kollektiven Besäufnis für diejenigen, welche es darauf anlegten -, konnte sich nur die Augen reiben.

Gebügelte Hose und weißes Hemd?! Kein Schlabberlook in Jogginghose vom Wühltisch und T-Shirt in Pyramidenzelt-Optik mit Aufdrucken wie Pyrotechniker im Einsatz oder Lieber heute voll, als morgen Vollidiot?

Am Autobahnkreuz Neersen war die Welt dann wieder in Ordnung und der Presbyter in gewohntem Outfit. Da es nach Belgien ging, hatte der Holländer für alle T-Shirts mit dem Aufdruck Manneken Pils mitgebracht.

Die Alternative mit dem belgophoben Schriftzug »Nur ein frittierter Belger ist ein guter Belger« hatte die Druckerei angeblich in den Versand gegeben. Angekommen ist das Paket beim Holländer jedoch nie.

Da der Holländer das erste Online-Angebot akzeptiert hatte, welches er auf seinem neuen Smartphone ausfindig machen konnte, wusste er nicht viel über die Druckerei. Der Avvocato sollte später recherchieren, dass die beauftragte Druckerei in Antwerpen ansässig war. Insoweit war die ausgebliebene Sendung sogar für den Holländer nachvollziehbar: »Nu ben ik twintig jaar bij de Kaasköpp. En ik begrijp nog steeds niet. Begrijp Internet komt later.«

Zu der Zeit bekam man den Presbyter und Mongo nur im Doppelpack. Wo der Presbyter auftauchte, war Mongo nie weit. »Ey, Digger, lass mah auswärts fah’n!«, war Standardspruch zur Begrüßung.

Mutti kümmerte sich um das Wochenendticket und die Umsteige-Stationen. Je nach Zusammensetzung war die Truppe in Dortmund, spätestens in Münster komplett, sofern alle den Zustieg geschafft hatten.

Und dann legte der Presbyter los, erklärte die Welt. Während Mongo meistens den weiblichen Anteil der Fahrgäste im Zugabteil checkte, solange er noch nüchtern genug war, zu unterscheiden zwischen das mah 'ne Superbraut! und da woll'n wa mah lieber nich' den Bohrer ansetzen!

Die peinliche Nummer mit dem affenscharfen Topmodel von neulich, welches sich dann bei intensiverer Leibesvisitation als gut gestylte Transe entpuppt hatte, war noch zu leibhaftig in Erinnerung.

Wie Mongo zu seinem Spitznamen gekommen war, wusste niemand mehr. Möglicherweise lag es daran, dass er auf Tour sein Alter-Ego annahm, ständig sein breitestes Grinsen aufsetzte und zu keiner vernünftigen Antwort zu bewegen war.

Er hätte allerdings ebenso gut natürlich-ICE heißen können. Denn es kam nicht selten vor, dass Mongo, noch leicht lädiert vom freitäglichen Fitnessprogramm - Stemmen, Kippen, Umfallen -, zu spät am Bahnhof ankam und so die Asi-Ticket-Truppe verpasste.

Der Presbyter stand dann mit ihm in ständiger Verbindung via Handy und hielt eine Tür des Zuges auf, um dadurch die Abfahrt zu verzögern. Ein probates Mittel, den Zugbegleiter auf sich aufmerksam zu machen und sich unter den übrigen Fahrgästen echte Freunde zu schaffen.

»Presbyter, der Taxifahrer gibt alles, ich kann den Bahnhof schon sehen!« Nach interner Statistik schaffte es Mongo so zu fünfzig Prozent, den Bummelzug Richtung Rotenburg an der Wümme noch zu erwischen. Rein rechnerisch erreichte Presbyter mit seiner Statistik mehr Türbesitz bei der Deutschen Bundesbahn als der HSV Ballbesitz in den meisten Spielen. Und brachte damit den Fahrplan etliche Male gehörig durcheinander.

Verlor der Presbyter den Türbesitz an den Zugbegleiter, bedeutete das für Mongo: ICE! Natürlich nicht regulär mit Fahrschein. Die letzte Kohle war je gerade erst in der Taxe drauf gegangen.

Also war wieder einmal Toilettengang angesagt, sobald der Schaffner in Sichtweite war. Und ansonsten unauffällig unter die übrigen Fahrgäste mischen. Wie Mongo das immer wieder von Dortmund bis Hamburg hinbekam - mit Fan-Schal und Bierflasche in der Hand -, sollte sein Geheimnis bleiben.

Tom-Tom konnte sich jedenfalls an keinen Spieltag erinnern, an dem Mongo die Asi-Ticket-Fahrgemeinschaft verpasst hatte und nicht trotzdem pünktlich, ja sogar vor dem Rest, in Hamburg angekommen war: »Wie hast’n das gemacht?« »ICE natürlich!«

Mehr Spaß machte es allemal, wenn die Truppe geschlossen im Abteil war. Dies traf insbesondere auf Liebhaber lauthals gegrölter Fangesänge, überall herumkullernder Bierflaschen und bis zum Anschlag aufgedrehtem portablen Party-Booster zu, welcher mit liebreizendem Kulturgut von Griechischer Wein über Schatzilein… bis Kniet nieder Ihr Bauern gefüttert war. Zur Karnevalszeit angereichert um die Hits der Session. Waren Holländer dabei, konnte es auch mal Schatje mag ik je foto sein, was da die Waggonscheiben scheppern ließ.

Tom-Tom beschlich bereits bei der ersten Tour, die er mitmachte, das vage Gefühl, dass außer der Truppe selbst niemand sonst im Abteil so recht Presbyters Musikgeschmack teilen mochte. Von der Lautstärke ganz zu schweigen. Man kann es auch anders ausdrücken: Die Truppe ging allen anderen im Zug gehörig auf die Nerven und machte dem Namen Asi-Ticket alle Ehre.

Getoppt wurden die Auftritte, sobald sich weitere Fangruppen im Zug befanden. Dies war nachgerade regelmäßig der Fall. Denn, wenngleich sie selbst zu einem Heimspiel unterwegs waren, hatten die Fans der Mannschaften aus dem Westen und Südwesten der Republik, die ihre eigene Mannschaft in Hamburg unterstützen wollten, ja die gleiche Zugverbindung.

Und spätestens an den Umsteigebahnhöfen traf man auf Fangruppierungen anderer Vereine, die von Nord nach Süd, von Ost nach West unterwegs waren. Also immer viel los an Spieltagen in den Zügen der Republik.

Eigentlich sollte die Deutsche Bahn an solchen Tagen von den übrigen Gästen einen Top-Zuschlag verlangen. Ein solches Event bieten Musical, Vergnügungspark und Docu-Soap zusammen nicht.

Kam dann noch ein gestandener Kegelclubausflug dazu, war eines sicher: Sie würden nicht in gleicher Truppenstärke die Rückfahrt beenden, in der sie morgens eingecheckt hatten.

Der Holländer hatte sich mit drei richtig schnuckeligen Mädels aus einer Truppe, die auf dem Kiez einen lebhaften Junggesellinnen-Abschied gefeiert hatte, dereinst dermaßen enthusiastisch verquatscht, dass sie gleich bis Amsterdam durchgerattert sind.

Angeblich haben sie dann in Amsterdam da weiter gemacht, wo sie auf dem Kiez aufgehört hatten. Die Geschichten, die der Holländer im Anschluss über die Nacht in Amsterdam zum Besten gab, waren spektakulär, schienen aber doch ein wenig übertrieben.

Zum Beweis seines heroischen Einsatzes hatte der Holländer die Rechnung des Hotels mitgebracht, in welchem die wilde Party stattgefunden haben sollte. Sie erhielt einen Ehrenplatz in seiner Stammkneipe neben den schönsten Auswärts-Tickets, welche er dort seit Jahren zur Schau stellte und nach jedem besonderen Spieltag neu anordnete.

Nun gut, hatte er also Auswärtsspiel gehabt in Amsterdam. Mit Verlängerung und Elfmeterschießen. Es bedarf wohl keiner besonderen Erwähnung, dass sich der Holländer nach eigener Schilderung keinen einzigen Fehlschuss geleistet hatte.

Mongo und der Presbyter waren auf der Skala der anthropologischen Rückentwicklung zum Kleinkind a la neanderthalensis, welche ein Fan-Leben nach ihrem Gusto so mit sich brachte, ordentlich weit gekommen.

Beide konnten sich im Gehen zielsicher übergeben, ohne erkennbar abzubremsen (war wichtig, um den letzten Zug nicht zu verpassen!); Pinkeln war immer und überall möglich, egal wer oder wie viele dabei zusahen (enorm wichtig, schaffte Platz für neues Bier!); und konnten in jedweder Stellung, Situation und Wetterlage tief und fest meditieren (wichtig für die Regeneration; der Presbyter war mit seinem Halbzeit-Nickerchen in vorderster Front der Fans damit bildschirmfüllend bis in die Sportschau vorgedrungen; das Spiel war aber auch wirklich zum Einschlafen!). Und wenn mal gar nichts mehr ging, hatten sie ja immer noch Mutti, der sich um alles kümmerte. Wie das halt bei Flaschenkindern so ist.

Mutti und die beiden ergänzten sich richtig gut. In Muttis Bordbuch waren sämtliche Zugverbindungen, Abfahrtszeiten, Bahnsteige und Alternativ-Verbindungen peinlichst genau notiert.

Wie es sich für einen ordentlichen Reiseleiter gehörte, hatte Mutti die Truppe eingeschworen, wie viel Zeit für Jubel nach Spielende eingeplant war, damit die Abfahrtszeit für die Rückfahrt auch penibel eingehalten werden konnte. Und wie es sich für eine ordentliche Reisetruppe gehörte, hielt sich keine Sau an Muttis Konzept.

In der Autostadt sollte sich dieser Ungehorsam jedoch einmal als äußerst zielführend erweisen. Mutti hatte sich mit dem Bahnsteig für die Abfahrt vertan. Geschah übrigens nahezu regelmäßig. Der Zeitplan war bedingungslos eng kalkuliert und nicht einzuhalten. Geschah auch nahezu regelmäßig.

Mongo und der Presbyter hatten bei der Ankunft in der Autostadt einen noch fast gefüllten Kasten Bier am Ende des Bahnsteigs hinter dem letzten Prellbock versteckt und hörten natürlich einen Teufel auf Mutti, der aufgeregt in die entgegengesetzte Richtung zerrte und lauthals auf maximal verbleibende dreißig Sekunden bis Abfahrt hinwies.

»Nich' ohne den Kasten!«, war die energische Widerrede des Presbyters. Von Mongo kam der Standardsatz:

»Wir können ja immer noch ICE fahren!« Während Mutti irgendetwas von »ihr könnt mich doch mal alle!« brabbelte und heftig hyperventilierte, behielt der Avvocato die Übersicht, hielt Mutti am Ärmel fest und meinte: »Lasst uns doch einfach einsteigen. Unser Zug steht hier auf demselben Bahnsteig, auf dem wir angekommen sind.«

Mutti wollte sich trotzdem nicht beruhigen und zog sich schmollend in den letzten Winkel des Abteils zurück. Die anderen bekamen ein Bier, der Holländer baggerte die Schaffnerin an und Mongo konstatierte: »Wir hätten ja immer noch den ICE nehmen können!«

Alles war, wie es immer war. Und als der Holländer die Schaffnerin beim nächsten Durchgang dazu brachte, mit ihm Sirtaki zu tanzen - quasi als Belohnung, weil er tatsächlich dem Presbyter eine leichte Reduzierung der Lautstärke abgerungen hatte -, trollte sich auch Mutti wieder aus seiner Schmollecke und klatschte mit dem Rest des Abteils zum Takt der Musik. Also, ging doch.

Im Normalo-Leben, also so ohne Alkohol und Fan-Schal, waren sowohl Mongo wie auch der Presbyter im Grunde so, wie sich jede zukünftige Schwiegermutter ihren Schwiegersohn vorstellen mochte.

Mongo brachte vor lauter Schüchternheit kaum ein Wort hervor - ganz ideal für Schwiegermütter - und war genau der Typ, welcher nicht nur seinen Sitzplatz für die ältere Generation räumte, sondern auch noch die Einkaufstaschen bis nach Hause trug.

Auch ohne Alkohol konnte der Presbyter einem zwar einen Knopf an die Backe labern. Aber mit seiner augenfälligen Kassenbrille, die er immer trug, wenn er bei Fahrten mit dem Auto das Steuer übernehmen musste, sah er richtig seriös aus. Konnte ausgesprochen eloquent räsonieren und war in seinem gesamten Auftreten einfach nur best choice of son-in-law.

Wer die Degeneration zum Fan on tour meets the devil nicht miterlebt hatte, konnte überhaupt nicht nachvollziehen, wieso jemand an Mongo und dem Presbyter etwas auszusetzen haben könnte. Beides richtig honorige und höfliche Kerlchen, die man überallhin mitnehmen konnte.

Und so waren sie auch wirklich. Eben nur dann nicht, wenn sie auf Tour gingen und der Alkohol so allmählich die Herrschaft übernahm. Wer das wusste, kam mit ihnen hervorragend klar. Wer das nicht wusste, hatte die Grundlagen der Welt am Wochenende nicht verstanden und konnte Probleme bekommen.

So erging es auch einigen Gladbach-Fans, die meinten, sie müssten sich mit dem Duo anlegen. Eigentlich war die Konstellation Gladbach- und HSV-Fans zusammen in einem Abteil unschädlich. Man trank miteinander, frotzelte ein wenig und gut war es. Eigentlich. Doch dieses eine Mal ging es nicht gut.

Mongo hatte auf seine bekannt charmante Art einen weiblichen Gladbach-Fan angebaggert: »Nah, will'ste mah ne Hamburger Wurst sehen?« Woraufhin sich umgehend ein kleinerer Tumult entwickelte, der in nicht viel mehr als ein wenig Drängeln und Schubsen eskalierte, aber dennoch den Zugbegleiter dazu animierte, für den nächsten Haltebahnhof Polizei einzubestellen. Und Mongo der Provokation und sexuellen Belästigung zu bezichtigen.

Die Ordnungshüter der Republik haben ganz offensichtlich in solchen Fällen wenig Interesse, den Sachverhalt aufzuklären und mit angetrunkenem Pöbel zu debattieren. Kann man sogar verstehen. Die Sache endete, wie es kommen musste. Mongo und zwei Gladbach-Fans bekamen wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt Stadionverbot und wurden in das entsprechende Register eingetragen.

Der Presbyter hatte die ganze Geschichte gegen Ende hin irgendwie verpasst, weil er im Nachbarabteil neue Akkus in seinen Booster schieben musste. Was zeigte, dass er der Situation keine besondere Brisanz zumaß. Mongo jedenfalls durfte die nächsten eineinhalb Jahre kein Fußballstadion mehr betreten. Es passte zu ihm, dass er trotzdem keine Tour ausließ und die Spiele unweit der Stadien in irgendeiner Fußballkneipe verfolgte. Wohlgemerkt: auch die Auswärtsspiele!

Dann saß er mit seinem HSV-Schal mitten unter den Fans der jeweils gastgebenden Mannschaft und bekam das ohne große Aufregung hin.

»Watt will'ze denn mit deinem Dräss in unsere Fännkneipe, bisse bekloppt?« »Nöh, komm' nich' rein, hab' Stadionverbot!« »Jau, schöne Scheiße wa'? Hab' ich auch und die drei dahinten ebenfalls. Watt hasse denn gemacht?« »Nix natürlich, überhaupt nix!« »Jau, wir auch nich'. Lass' ma' Pilsken schlucken!«

Mongo lernte in diesen anderthalb Jahren etliche Stadionverbotler diverser Vereine kennen, die alle nix gemacht hatten. Mit einigen traf er sich zum Rückspiel in Hamburg und ging mit ihnen dort in seine Lieblingskneipe, Spiel gucken.

Für die pauschale Annahme, Fans gegnerischer Mannschaften hauen sich erst auf die Schnauze und reden dann nicht miteinander, war Mongo leibhaftiger Beweis, dass die Dinge so einfach nicht liegen, wie die meisten Medien sie darstellten.

Mongos Gastauftritte in den diversen Fankneipen der Republik waren sicherlich ganz hohe Schule und sind nicht jedem zur Nachahmung angeraten. Sie zeigten aber auch, dass Fankultur und Fußball-Mob keine Synonyme sind.

Nebenher bewirkte die Tatsache, dass Mongo nicht mehr in die Stadien durfte: Lea und Leo konnten ab sofort mit auf Tour gehen. Denn nun war ja ein Aufpasser frei.

Oder genauer: Es war nicht verkehrt, Mongo Lea und Leo als Aufpasser mitzugeben. Sie fanden den Weg zum Treffpunkt nach dem Spiel immer und ohne Umwege. Und nach kurzer Zeit hatten sie auch verinnerlicht, wann ein Spiel vorbei und es an der Zeit war, Mongo am Hosenbein zu zerren und zurück zum Treff zu geleiten.

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