Читать книгу Madelyn - Ort des Schreckens - Tamara Thorne - Страница 26
21 MADGE MARQUAY
ОглавлениеLieber Gott, steh mir bei«, flüsterte Madge Marquay. Sie hatte die Wände ihres lichtlosen Gefängnisses wieder und wieder untersucht, war über mindestens eine Leiche gestolpert und hatte sich gezwungen, nach einer Leiter, einem Seil oder etwas Ähnlichem zu suchen. Doch sie hatte nichts gefunden.
Ihr Zeitgefühl war offenbar beeinträchtigt. Ihrer Ansicht nach hätte die Minenbahn längst losfahren müssen, aber bisher hatte sie noch nichts gehört. Als sie sich ausmalte, dass das, was sie für Tage gehalten hatte, in Wirklichkeit nur Stunden gewesen waren, bekam sie es mit der Angst zu tun.
Nun saß sie mit angezogenen Beinen am Boden, drückte die Knie an ihre Brust und umfasste sie mit den Armen. Die raue Wand tat ihrem Rücken weh, aber das war in Ordnung, weil sie so wenigstens wach blieb. Mit der rechten Hand umklammerte sie die einzige Waffe, die sie gefunden hatte – ein etwa fünfunddreißig Zentimeter langes Stück verfaulendes Holz. Die Wunde an ihrem Arm war geschwollen, schmerzte und pulsierte im Rhythmus ihres Herzschlags. Der anfangs nur unterhalb des Ellbogens spürbare Schmerz war jetzt in ihrer Schulter.
Wo bist du, Henry? Warum kommst du nicht? Eine Träne lief ihr über die Wange. Madge leckte sie ab – dankbar für die Flüssigkeit.
Sie hatte sich an ihr erstes Rendezvous mit Henry erinnert. Ihr war eingefallen, wie schüchtern und nett er gewesen war, als er sie in Barstow zum Abschlussball eingeladen hatte. Sie hatte sich auch an ihre erste Karussellfahrt erinnert. Damals war sie sechs oder sieben Jahre alt gewesen. Es war auf dem alten Pike-Volksfest in Long Beach gewesen, in einem am Meer gelegenen Freizeitpark, den man in den siebziger Jahren abgerissen hatte. Ihr Vater hatte sie auf ein prächtiges weißes Pferd gehoben und angeschnallt. Während der Fahrt hatte er neben ihr gestanden, eine Hand auf ihren Rücken gelegt, und sie hatte sich sicher gefühlt. Danach hatte er ihr ein Kirscheis gekauft. Sie hatten sich auf eine Bank gesetzt, und die riesige mechanische Lady auf dem Dach des Spiegelkabinetts hatte pausenlos gelacht.
Über sich hörte Madge das Zischen von Luft. Die pneumatischen Maschinen sprangen an. Henry war endlich da. Er überprüfte Türen und Waggons, bevor er die Bahn fahren ließ.
»Henry!«, rief Madge, so laut sie konnte. Das Wort verließ ihre trockene Kehle wie ein bloßes Krächzen. »Henry!«, rief sie erneut, diesmal mit einem besseren Ergebnis, »Hilf mir, Henry! Ich bin hier unten!«
Einen Moment lang herrschte Stille, dann hörte sie, dass sich der pneumatische Aufzug unter die Bahnebene bewegte. Henry kam! Gleich war sie gerettet! »Henry!«
Das Zischen des Aufzugs erstarb. Madge musste erneut einen schmerzhaften Augenblick der Stille durchleben. »Henry?«
Sie konnte das Gesicht hinter der hellen Laterne über ihr nicht erkennen. Sie starrte hinauf, rechnete damit, Henrys Gesicht zu sehen. Sie rechnete damit, gerettet zu werden. »Gott sei Dank, dass du da bist, Henry.«
»Ich bin nicht Henry«, sagte eine Stimme, die ihr irgendwie bekannt vorkam.
Madge rappelte sich langsam auf und streckte ihre armselige Waffe aus. »Wo ist er?«
»Er ist krank und liegt im Bett. Sind Sie in Ordnung, Mrs. Marquay? Was machen Sie hier?«
Plötzlich erkannte sie die Stimme. Sie gehörte einem ihrer Schüler: Justin Martin. Er arbeitete stundenweise für Henry. Erleichterung überspülte sie. »Gott sei Dank, dass du da bist, Justin! Gott sei Dank! Hol mich bitte hier raus.«
»Einen Moment, Mrs. Marquay«, rief Justin. Kurz darauf hörte Madge Seile gegen die Wand klatschen. Er warf eine Strickleiter in die Tiefe. »Ich komme runter, Mrs. Marquay. Bleiben Sie, wo Sie sind.« Das Licht ging aus.
»Sei vorsichtig, Justin. Hier unten liegen Leichen. Es ist einfach schrecklich!« Madge wusste, dass sie zu viel redete, aber sie konnte nicht aufhören. »Jemand hat mir auf den Kopf geschlagen, und als ich wach wurde, war ich hier unten. Er hat mir etwas Schlimmes angetan, Justin. Ich habe eine Wunde am Arm. Ich glaube, sie ist entzündet.«
»Machen Sie sich keine Sorgen, Mrs. Marquay.« Madge hörte, dass seine Füße den Boden berührten, dann war seine Stimme praktisch an ihrem Ohr. »Es wird alles wieder gut.«
»Bitte, Justin, bring mich hier raus.«
»Eine Sekunde noch. Erst muss ich die Laterne anmachen.«
»Bitte, schau dich hier unten nicht um. Hier wirst du schreckliche Dinge sehen, die ich nicht sehen möchte.« Sie hatte den Satz kaum beendet, als sie ein Klicken hörte und die Laterne anging.
Sie bemühte sich, nur in Justins attraktives junges Gesicht zu blicken, aber es gelang ihr nicht. Sie musste einfach hinsehen. Der Raum war, wie erwartet, eine Minengrube. Er durchmaß etwa drei Meter. Mit angehaltenem Atem schaute Madge zu Boden.
»Lieber Gott«, hauchte sie. »Oh, lieber Gott ...«
Zuerst sah sie ein großes weißes Tier, dessen Beine steif und gebrochen in die Höhe ragten. Dann zwang sie sich, die beiden menschlichen Leichen anzuschauen. Sie waren nackt, ein Mann und eine Frau. Sie erkannte die Frau sofort: Kyla Powers. Ihre grünen Augen waren tot, ihre Kinnlade hing schlaff nach unten. Ihr aufgedunsener Körper lag auf dem Rücken. Ein Teil ihrer Haut war verschwunden. Ein großer Kreis fing genau unter den Brüsten an und endete kurz vor ihrem Schamhaar. Weißes Fleisch an einer gezackten Stelle um ihren Nabel. Die roten Muskeln ringsumher sahen trocken aus und glänzten. Auch einer ihrer Schenkel war teilweise gehäutet. Madge warf einen Blick auf ihren eigenen Arm. Eins wusste sie: Im Gegensatz zu Kyle hatte sie wenig erleiden müssen.
Der Mann war so verwest, dass sie nicht mal genau sagen konnte, ob es Joe Huxley war. Man hatte ihm die Haut vom Gesicht gezogen, so dass er wie eine Mumie wirkte. In seinem aufgeblähten Bauch war eine offene Wunde. Sie sah wie ein Fußabdruck aus. Seine Innereien hingen heraus und ringelten sich schlangenartig neben ihm auf dem Boden. Madge schaute weg. Ihr wurde übel bei der Vorstellung, dass sie gerade auf ihn – in ihn hinein – getreten war. Sie blickte schnell zu Justin auf, denn sie wusste, wenn sie es nicht tat, wenn sie anschaute, was auf ihren Schuhen lag, würde sie die Besinnung verlieren.