Читать книгу Madelyn - Ort des Schreckens - Tamara Thorne - Страница 29
24 CARLO PELEGRINE
ОглавлениеCarlo Pelegrine hatte viele Stammkunden, doch nur wenige kamen so oft und von so weit her wie die Schwestern Katz. Mabel und Missy legten jeden Mittwoch von Santo Verde aus den langen Weg über den Cajon-Pass zurück, um eine Stunde lang einen Blick ins Schicksal der kommenden Woche zu werfen.
Die heutige Sitzung war, wie üblich, nichts Besonderes gewesen, aber erfreulich. Was Carlo sagte, spielte keine große Rolle, denn die Besuche der Frauen dienten nicht der Information, sondern waren ein Rendezvous. Zuerst warf er für sie einen Blick in die Kristallkugel. Das war eine düstere Angelegenheit, in der er die beiden kaum erröten sah. Danach legte er ein Tarot für sie. Das war etwas persönlicher, denn wenn sie eine Karte wählten und ihm reichten, streiften ihre Fingerspitzen die seinen. Beim dualen Lesen setzte Carlo die Zauberstabkönigin als Signifikator ein, eine Karte mit einer üppigen Frau, auf deren Schoß und zu deren Füßen jeweils eine Katze hockte. Die Katz-Schwestern wurden nie müde, ihn verschämt nach den Wesenszügen zu befragen, die sie und die schöne Königin gemeinsam hatten. Carlo war ihnen stets gefällig: Er sprach in gedämpftem, respektvollem Ton über ihre Tugendhaftigkeit.
Heute hatte der finster brütende Schwertkönig den Weg ihrer Königin gekreuzt, deswegen intensivierte sich das Vorspiel – denn um nichts anderes ging es hier –, weil die Schwestern wussten, dass dies seine Karte war. Sie erröteten und kicherten wie Schulmädchen, und ihre Fingerspitzen berührten die seinen öfter als üblich.
Dann kam das Handlesen, zehn Minuten für jede Frau. Dies war der Liebesakt, und da dieser Teil auch für Carlo sehr intim war, verursachte ihm die voyeuristische Art, in der die derweil wartende Schwester keuchte und gurrte, sobald er die Handfläche der anderen untersuchte, stets leichtes Unbehagen.
Die blassen Hände der Schwestern waren zierlich und dufteten nach pflegenden Weichmachern. Bevor sie ihn aufsuchten, gingen sie zur Maniküre. Die Haut zeigte ihr Alter kaum, denn die Katz-Schwestern waren vornehme Damen, Töchter eines Zirkusbarons und hatten nie arbeiten müssen. Mabel hatte eine halbmondförmige Narbe auf einer ihrer Handflächen und zitterte jedes Mal, wenn er sie berührte. Missy, die größere Hände hatte, brauchte einen Augenblick des Höhepunkts, in dem seine Finger sanft über ihre Herz- und Lebenslinien strichen.
Die Vorstellung, wie sie wohl reagieren würden, wenn sie gewusst hätten, dass er im Zölibat lebte und diese Sitzungen fast ebenso genoss wie sie, amüsierte ihn. Aber natürlich erzählte er ihnen kein Wort. Er lächelte nur, nickte wissend und hielt die ruhige Unnahbarkeit des Schwertkönigs aufrecht, denn so erwarteten sie es von ihm.
Heute führte er sie, wie immer, aus dem Leseraum in den Laden. Die Schwestern plapperten auf ihn ein, lobten seine nicht vorhandenen übersinnlichen Fähigkeiten und versprachen, auch beim nächsten Mal pünktlich zu sein. Carlo nickte und sagte ja, nächsten Mittwoch um 13.00 Uhr, so wie immer. Und: Danke, dass Sie gekommen sind. Dann schaute er auf und merkte, dass er sich im Blick einer Frau verfing, die anders war als alle, die er kannte.
»Carlo?«, fragte Mabel.
»Carlo?«, echote Missy. »Stimmt etwas nicht?«
»Sehen Sie einen Geist?«, erkundigte Mabel sich atemlos.
»Ja, einen Geist.« Carlo löste den Blick vom Fenster und schenkte den Schwestern ein Lächeln. »Ich soll Sie von Tante Helen grüßen.«
Mabel und Missy schauten sich an. Dann lächelten sie und sagten wie aus einem Munde: »Tante Helen! Wie schön!«
Sie sahen wieder Carlo an, und er brachte sie mit einem gütigen Lächeln zur Tür. Als er sie aufmachte, konnte er nicht erkennen, ob die Frau am Fenster noch da war. Schließlich traten die Schwestern auf die Veranda und stiegen die drei niedrigen Stufen hinab. Carlo stand, wie immer, auf der Veranda, da er wusste, sie würden sich umdrehen und ihm mindestens zweimal zuwinken. Wenn er sich umwandte, würde er erfahren, ob die Frau noch da war. Die alten Ladys winkten. Er winkte zurück.
»Hallo, Mr. Pelegrine!«
Die genau hinter ihm ertönende junge Stimme ließ Carlo zusammenzucken. Er behielt seine äußerliche Ruhe jedoch bei und drehte sich um. Seine Nasenspitze berührte fast die von Justin Martin. Er kannte den Jungen nicht besonders gut und war auch nicht daran interessiert, ihn näher kennen zu lernen. Denn auch wenn Henry Marquay und fast alle anderen Einheimischen gut über ihn redeten, konnte Carlo ihn nicht leiden – was an seinen kalten, seelenlosen Augen lag, die an ein Raubtier erinnerten.
»Hallo, Justin.« Hinter dem jungen Mann stand die dunkelhaarige Frau und blickte viel länger als nötig auf ihre Armbanduhr.
»Das ist Dr. Manderley«, sagte Justin. Die Frau schaute auf. »Sie sucht ein Buch. Ich hab gesagt, dass Sie ihr vielleicht helfen können.« Er sah auf seine Uhr. »Aber wenn ich jetzt nicht gehe, zieht Mr. Marquay mir das Fell über die Ohren!« Er wandte sich um und marschierte davon.
Carlo räusperte sich. Er merkte, dass er seine Hände anstarrte, und zwang sich, der Frau in die Augen zu sehen. Ein Schauer durchfuhr ihn. Am liebsten hätte er sich in ihrem Blick verloren. Ihre Augen waren dunkel und auf exotische Weise mandelförmig. Reiß dich zusammen! »Welches Buch suchen Sie denn, Doktor?«, brachte er heraus.
Im ersten Moment antwortete sie nicht, und so fragte er sich, ob sie ebenso vom Donner gerührt war wie er. Ach, Quatsch. Bild dir bloß nichts ein.
»Ich fürchte, es geht um ein ziemlich komisches Ding.« Sie sprach mit einem leichten Akzent, der auf England hinwies, und ihre Stimme war voll und melodiös und auf angenehme Weise rauchig.
»Dann sind Sie hier genau richtig. Kommen Sie doch rein.«
Sie trat ein, und er folgte ihr. Als er die Tür hinter ihnen schloss, bimmelte ein Glöckchen. »Was für ein schöner Laden.«
»Danke.«
»Es riecht hier so gut.«
»Eine Duftmischung. Ich mache sie aus Orangenschalen, Gewürznelken und Zimtstäbchen.«
»Verkaufen Sie sie?«
»Eigentlich nicht. Es kommt alles vom Markt.«
»Also frische Schalen?«
»Klar, warum nicht? So kriege ich mein Vitamin C und mein Potpourri.«
»Sie sind ein praktischer Mensch.« Ihr Lächeln erhellte den Raum.
»Das gefällt mir.« Sie zögerte, dann verschwand ihr Lächeln. »Ich bin ein bisschen spät dran. Vielleicht sollte ich noch mal an einem anderen Tag kommen.«
»Tja, Sie könnten mir wenigstens sagen, wonach Sie suchen, dann kann ich schon mal danach Ausschau halten.«
Sie nickte und kaute kurz auf ihrer Unterlippe. Carlo erkannte, dass sie so nervös war wie eine Katze. So nervös wie ich.
»Ich hatte gehofft, etwas über paranormale Phänomene in der Mojave-Wüste zu finden.«
»Geister?«
»Physikalische Anomalien würden mich mehr interessieren. Geologische Absonderlichkeiten, Magnetismus, UFOs.« Das letzte Wort warf sie so beiläufig ein wie ein kleiner Junge, der Kondome kaufen wollte. »Dinge dieser Art.«
»Ich glaube, ich habe mehrere Bände hier, die Sie vielleicht interessieren könnten.« Er ging auf eine Bücherwand zu, doch sie hielt ihn zurück, indem sie ganz kurz ihre Hand auf seinen Arm legte.
»Ich kann sie mir morgen ansehen«, sagte sie und machte sich auf den Weg zur Tür. »Oder ich schicke meinen Assistenten vorbei. Er ist ein großer junger Mann mit rotem Haar.«
»Na schön; ich leg alles für Sie beiseite. Sie können sich alles anschauen und mir dann sagen, was Sie haben möchten.« Er hoffte, dass er sie so dazu bewegen konnte, noch einmal persönlich vorbeizukommen.
»Danke, Mister ...«
»Carlo Pelegrine. Stets zu Diensten.«
Die Tür schloss sich hinter ihr, und Carlo stand nur da und starrte sie an. Schließlich schlug er sich gegen die Stirn. »Stets zu Diensten?«, sagte er laut. »Stets zu Diensten?« So was hörte man höchstens noch in fünfzig Jahre alten Filmen. Sprüche dieser Art sagte man in Gegenwart der Katz-Schwestern, aber doch nicht zu einer Frau wie Doktor ... Doktor ... Wie hieß sie noch mal? Er konnte sich nicht mal an ihren Namen erinnern. Er wusste nicht mal, ob sie ihn überhaupt genannt hatte.
Carlo ging zur Tür, schloss ab und drehte das Schild, auf dem GEÖFFNET stand, um. Dann zog er sich in sein Lesezimmer zurück. Irgendwann in den letzten zwölf Stunden hatte er begonnen, die Kontrolle über sein Leben zu verlieren. Gestern Abend hatte ein gehäutetes Kaninchen an seiner Tür gehangen. Es musste ein Zufall sein, aber er konnte die Sache nicht melden. Er konnte das Risiko nicht eingehen.
Er musste warten und sehen, was als Nächstes passierte, und wenn es kein Einzelfall war, musste er irgendwie damit fertig werden.
Vielleicht hatte seine diesbezügliche Furcht zu der Wirkung beigetragen, die diese Frau auf ihn hatte. Er hatte sich geschworen, nie wieder weibliches Fleisch – außer Händen – anzufassen, und doch war er hier, machte sich zum Narren, stotterte, stierte und wünschte sich, seine Hose hätte Falten.
Zwar hatte er Gott vor langer Zeit ein zölibatäres Leben versprochen, aber er betete nicht mehr. Stattdessen entnahm er einem Fach im Rollschreibtisch sein privates Tarot mit filigranen goldenen Figuren der italienischen Renaissance und mischte es geistesabwesend. Er glaubte zwar nicht an Geister und ähnlichen Quatsch, aber er glaubte, dass man das Unterbewusstsein mit Bildern stimulieren konnte. Er war auch gezwungen, daran zu glauben, weil er so oft gesehen hatte, dass es funktionierte. Er wusste, dass eine Analyse der Karten eigentlich gar keinen Sinn ergeben durfte, aber meist ergab sie dennoch einen. Und je wichtiger die Frage, desto solider die Antwort.
Carlo mischte weiter. Manche Karten tauchten immer wieder auf, ob sie nun von hohem oder geringem Wert waren. Es gab auch Karten, die selten auftauchten. Wenn sie das taten, bedeutete es etwas. Übereinstimmung.
Statt den Schwertkönig als Signifikator einzusetzen – er fühlte sich nämlich momentan ganz und gar nicht königlich –, legte Carlo die Karten vor sich auf den Tisch und wählte willkürlich eine aus. Er drehte sie um. Der Gehenkte: Opfer und Idealismus. Märtyrertum. Seine Nackenhaare sträubten sich, als das Bild des gehäuteten Kaninchens vor seinem geistigen Auge aufblitzte. Dennoch, als Gehenkter dargestellt zu werden wurde nicht unbedingt als schrecklich angesehen. Er wählte eine andere Karte und legte sie auf den Signifikator. »Hmmm.« Die Hohepriesterin bedeckte ihn, was bedeutete, dass er von einer sehr starken femininen Kraft umgeben war, einer Wächterin, die durch Enthüllungen Stärke und Hoffnung brachte. Manche Kartenleger bezeichneten sie als die Frau, die alle Männer sahen, wenn sie verliebt waren. Doch Carlo fiel nur die dunkelhaarige Schönheit ein, der er heute begegnet war. Da er sich nicht mit Frauen einlassen konnte, war dies vielleicht eine Warnung; ein Hinweis darauf, sich nicht ihrem Einfluss auszusetzen.
Die dritte Karte, der Einfluss, der seinen Weg kreuzen würde, war der Teufel: Lust auf Macht, Sklaverei, das Böse. »Toll, wirklich toll.«
Die nächste Karte, die er umdrehte, war der Turm, die schrecklichste Karte im Spiel. Seine Bedeutung war meist die körperliche und geistige Katastrophe. Kartenleger aus alter Zeit interpretierten sie so, als hätte sie übernatürliche Kräfte.
Die Karte der jüngsten Vergangenheit war der Narr und erklärte sich selbst. Die Karte, die ihm einen Schlag versetzte, war der Tod und ließ ihn noch mehr frösteln: Man konnte den Tod zwar wörtlich nehmen, doch meist bedeutete er nur das Ende einer Lebensweise.
Die Karte der nahen Zukunft war der seitenverkehrte Schwertritter. Sie symbolisierte einen bösen jungen Mann, der zwar über wenig echte Macht verfügte, aber großen Schaden anrichten konnte.
Carlo starrte die Karten an. Er fragte sich, wer der junge Mann war und ob auch die Hohepriesterin ihm feindlich gesinnt war. Bevor er noch eine Karte ablegen konnte, rettete ihn die Hintertürglocke. Jemand bimmelte und rief: »UPS!«
»Komme!« Carlo drehte die Karten schnell um und schob sie ins Spiel zurück. Es war an der Zeit, in die wirkliche Welt zurückzukehren.