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25 JAMES ROBERT SINCLAIR

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James Robert Sinclair drückte die Fingerspitzen aneinander und blickte seine hochrangigsten Berater über den rechteckigen Konferenztisch hinweg an. Die lange Besprechung, die sich hauptsächlich mit weltlichen Dingen beschäftigt hatte, näherte sich ihrem Ende. Der Älteste Hannibal Caine saß zusammen mit den Senioraposteln George Allbright und Lorraine Ferguson rechts von Sinclair. Eldo Blandings saß zu seiner Linken, ebenso Steve Clayman und Albert Cramer, die beiden anderen Seniorapostel. Sie alle waren seit langer Zeit seine treuen Jünger, doch in Eldo Blandings’ Gegenwart empfand er seit geraumer Zeit ein leichtes Unbehagen. Er erinnerte an eine schussbereite Waffe. Sinclair hatte schon mit Caine über den Mann gesprochen, doch Caine glaubte nicht, dass es Anlass zur Sorge gäbe. Da hatte er vermutlich Recht. »Bevor wir die Sitzung beenden, liebe Freunde«, sagte Sinclair, »muss ich noch eine unangenehme Sache zur Sprache bringen. Ich rede wirklich nur ungern darüber, aber ich glaube, wir können sie nicht unter den Tisch kehren. Gestern hat mich der Polizeichef von Madelyn angerufen. Es geht um einige schlimme Vorfälle, die hier scheinbar passiert sind. Jemand hat eine Ziege getötet, und der Briefkasten der Besitzerin der Ziege wurde beschmiert. Außerdem ist irgendwann in der vergangenen Nacht jemand in die katholische Kirche im Freizeitpark eingebrochen und hat größeren Schaden angerichtet.«

»Warum ruft man uns deswegen an?«, fragte Lorraine Ferguson.

»Weil religiöse Graffiti im Spiel waren. Jemand hat die Zahl 666 an eine Kirchenwand und auf den Briefkasten gemalt.«

»Dann fragt man automatisch bei uns nach?«, sagte Blandings grollend. »Warum fragt man nicht die verdammten Katholiken? Sie haben es wahrscheinlich selbst getan.«

Sinclair lächelte und schüttelte den Kopf. »Das bezweifle ich, Eldo.«

»Hält die Polizei etwa uns für die Urheber?«, fragte Hannibal Caine in ungläubigem Tonfall. Die Mienen der anderen spiegelten seine rechtschaffene Empörung wider.

»Man hat uns in keiner Weise beschuldigt.« Sinclairs Blick wanderte über die Gesichter seiner Berater und blieb auf Blandings haften. »Hat irgendeiner von euch eine Ahnung, warum man uns in dieser Hinsicht für verdächtig hält?«

Gemurmel. Alle sagten Nein, Blandings inklusive. Dann räusperte sich der alte Mann. »James Robert, wir alle wissen, dass die Katholiken nicht besser sind als Teufelsanbeter. Und der Teufel möchte unsere Mission hintertreiben. Dieser Papist Corey und seine Anhänger tun die Arbeit des Teufels.«

Sinclair musterte Blandings eingehend. Hatte der Mann wirklich einen an der Waffel oder drehte er seine eigenen Worte nur so hin, damit sie zu seinem schmalen Gesichtsfeld passten? »Wir haben Glück«, sagte er schließlich, »dass wir den einzig wahren Weg gefunden haben. Es ist unsere Aufgabe, auch den anderen zu helfen, diesen Weg zu finden – nicht jedoch, sie wegen ihrer Vergangenheit zu verdammen.«

Blandings hielt den Blick gesenkt. »Ja, natürlich.« Er schaute auf. »In den letzten Tagen wird es Krieg geben«, zitierte er mit fast erwartungsvoller Stimme.

Sinclair nickte. »Deswegen haben wir ein Waffenlager.« Er blickte sich nachdenklich im Raum um. »Vielleicht sieht Eldo etwas, das wir alle übersehen haben. Die letzten Tage sind inzwischen angebrochen. Wir leben in den allerletzten Tagen, und jetzt erkundigt sich die Polizei bei uns nach diesen Verbrechen. Vielleicht geht der Krieg bereits los.« Er schüttelte den Kopf. »Euer Prophet kann manchmal blind sein. Ich dachte, wir könnten Gewalt vermeiden, zumindest bis zu dem Tag, an dem die Reiter kommen. Aber es sieht so aus, als hätte ich mich geirrt.«

»Es ist eine edle Hoffnung«, sagte Hannibal Caine.

»Sehr freundlich von dir. Falls jemand von weiteren Zwischenfällen hört, sagt mir bitte sofort Bescheid.«

»Ob es nötig sein wird, die Wachen zu bewaffnen?«, fragte Blandings.

»Möglicherweise.«

Blandings lächelte. Sinclair wusste, dass er die Gewalt geradezu herbeisehnte.

»Das ist für heute alles, Leute.« Sinclair stand auf. »Wir treffen uns morgen um 14.00 Uhr wieder.«

Er beobachtete, wie sie hinausgingen, und dachte erneut über Blandings nach. Der Mann war ein alter Soldat und hatte Männer in die Schlacht geführt. Er hatte einen festen Standpunkt und verstand die Kunst der Strategie. Deswegen hatte er ihn überhaupt erst zum Ältesten gemacht. Blandings war den Aposteln treu ergeben, und obwohl er radikale Vorurteile gegen alles und jeden hatte, traute Sinclair ihm genügend gesunden Menschenverstand zu, Vandalismus, selbst wenn er ihn beklatschte, nicht selbst zu begehen.

Er glättete sein Nadelstreifenjackett und zog die rote Krawatte gerade, dann verschränkte er die Hände hinter dem Rücken und entfernte sich vom Tisch. An den Wänden des Konferenzraums hingen gerahmte Fotos, die die Geschichte der Apostelkirche zeigten. Sinclair wurde es nie müde, sie anzusehen.

Die ältesten Fotos zeigten ihn als vierundzwanzigjährigen Prediger bei den ersten Zeltversammlungen. Seine Arme waren erhoben, sein Lächeln strahlend, seine Augen feurig. Der Anblick des geschmacklosen weißen Anzugs ließ ihn nun leicht zusammenzucken, doch damals hatte er einfach zu dieser Zirkusatmosphäre gehört. Das Zelt war gefüllt mit den ersten Gläubigen. Manche von ihnen lebten hier auf dem Grundstück, wie Eldo und Hannibal und die Seniorapostel Albert Cramer und George Allbright.

Heute hatte die Kirche der Apostel des Propheten zwei Millionen Beitrag zahlende Mitglieder. Doch nur dreihundert lebten auf diesem Anwesen. Es waren die Gläubigsten. Sie betrieben sein boomendes Medien- und Verlagsgeschäft und organisierten riesige klerikale Veranstaltungen, die nötig waren, damit die Kirche weiter wuchs. Sie gaben ihre Zeit für Unterkunft, Verpflegung, Erleuchtung und das Wissen, dass sie die Herren des Himmels sein würden, wenn die Apokalypse kam. Sie wussten es, denn der Prophet hatte es ihnen so erzählt.

Sinclair wandte sich von dem Foto ab. Er hatte den Termin der Apokalypse schon vor über einem Jahrzehnt festgelegt: für den 5. Mai, den Tag der letzten im 20. Jahrhundert in dieser Region sichtbaren Sonnenfinsternis. Nach der Gründung der Kirche hatte er den Gläubigen erzählt, die apokalyptischen Reiter würden über die Thunder Road kommen. Die Wahrheit hatte anders ausgesehen: Er war knapp bei Kasse, das hiesige Land jedoch extrem billig gewesen, und er hatte gewusst, dass die abgelegene Gegend ihm bestens dienen würde, mit einem Versandhandel ein Vermögen zu machen.

Die ersten Jahre waren zwar schwierig gewesen, aber so schwierig nun auch wieder nicht. Sinclair hatte Umwege gemacht, um Menschen anzuziehen, die ihm helfen konnten, die Siedlung aufzubauen. Er hatte einen Architekten und mehrere andere Apostel ausgewählt, die in unterschiedlichen Baufertigkeiten beschlagen waren. Unter der Anleitung dieser Fachleute hatten die Apostel die Arbeiten ausgeführt. Man hatte nur sehr wenige bezahlte Aufträge nach außerhalb vergeben.

Während die Siedlung gebaut wurde, hatte Sinclair viele Zeltversammlungen im Westen und Südwesten abgehalten, den Leuten gesagt, was sie hören wollten, und mit ihren Spenden den Gebäudefonds aufgefüllt. Anfangs hatten alle in Behelfsunterkünften gewohnt, aber nach Fertigstellung der Kirche hatte man hinter ihr ein riesiges zweites Gebäude errichtet: Im Gemeinschaftshaus gab es eine Cafeteria, Schulungsräume, eine Turnhalle und eine Krankenstation.

Das Gemeinschaftshaus war durch unterirdische Gänge mit der Kirche verbunden. Tatsächlich war der Keller der Kirche nicht nur von Sinclairs Büro und Privatgemächern aus zu erreichen, in ihm waren auch die Eingänge zu einem Labyrinth von Korridoren, die unter dem Anwesen verliefen. Manche führten in die Wüste hinaus. Der größte Gang – eine echte Straße – führte in eine unterirdische Garage, in der dank des Altmilitaristen Blandings und einiger Mechaniker mehrere Jeeps und ein noch funktionstüchtiger alter Panzer standen. Die Garage war gleich neben der unterirdischen Waffenkammer, in der eine beeindruckende Sammlung großer und kleiner Schusswaffen und verschiedene Brandsätze lagerten. Laut Sinclair waren sie eine Versicherung gegen einen Angriff von außen. Obwohl er früher jener aggressiven Missionstätigkeit das Wort geredet hatte, die Blandings am liebsten war, hatte er nach und nach aufgehört, über echte körperliche Schlachten zu predigen.

Beim Schwadronieren über Kämpfe dieser Art hatte das Feuer in den Augen der Gläubigen ihn erschreckt. In diesen Momenten hatte er wirkliche Machtgefühle empfunden. Er hatte gewusst, dass seine Anhänger Madelyn und mehr ausradieren würden, wenn er den Befehl dazu gab. Das Gesülze vom christlichen Soldaten lief seither auf Sparflamme, doch die Ausbildung an der Waffe wurde weiter sanktioniert.

Damals, in den Anfangsjahren, war ihm alles – von den Waffen bis zu dem funkelnden weißen Kreuz auf dem Kirchendach – grandios und prächtig erschienen. Nachts flammte das »Gottes Leuchtfeuer« genannte weiße Licht auf. Es hatte Sinclair ziemliche Mühe bereitet, die originelle Form des Kreuzes durchzusetzen, auch wenn sie nicht zu originell war: Er hatte schließlich ein traditionelles Kruzifix verwendet und ihm nur zwei kurze diagonale Balken hinzugefügt, so dass der obere Teil eher wie ein Stern aussah. Unser Kreuz ist nicht das Kreuz der Kreuzigung, hatte er seinen Schäfchen erzählt, sondern das Kreuz der Wiedergeburt! Es stellte den neuen Stern von Bethlehem dar, würde als Bake für die apokalyptischen Reiter über der Wüste leuchten und am Jüngsten Tag die Rückkehr des Lebendigen Erlösers bekannt geben.

Und zwar nächsten Sonntag. »Sehr bald«, murmelte er.

Acht Jahre zuvor, bei der Fertigstellung der letzten Gebäude – der Schlafsäle – war ihm der prophezeite Weltuntergang noch eine Ewigkeit entfernt erschienen. Damals, als die Zahl der Bewohner des Anwesens von fünfundzwanzig auf zweihundert und schließlich auf die dreihundert von heute angestiegen war, hatte er noch freudig auf den Tag gewartet, an dem er sein Wüstengefängnis verlassen konnte.

Vor fünf Jahren hatte er unter falschem Namen einen großen Teil einer winzigen karibischen Insel erworben und sich dort ein Haus bauen und einrichten lassen. Nicht mal seine Ältesten wussten, dass er das Anwesen am Tag der Apokalypse durch einen langen Gang verlassen wollte, der vom Schlafzimmer seiner luxuriösen Wohnung nach Norden führte – zur Olive Mesa. Sie wussten nicht mal von der Existenz des Ganges, denn Sinclair hatte ihn von Schwarzarbeitern anlegen lassen. Es war ein niedriger, eineinhalb Kilometer langer Tunnel. Gleich hinter dem Eingang befand sich ein Lagerraum, in dem ein strombetriebener kleiner Karren darauf wartete, ihn zur Olive Mesa zu bringen. Er lächelte. Um neu geboren zu werden.

Ein alter Jeep stand in einer versteckten Garage an der Nordseite. Seinetwegen hatte er morgendliche Meditationen für sich eingeführt: Zweimal in der Woche ging er in die Wüste und sorgte dafür, dass der Wagen fahrtüchtig blieb.

Wenn die Reiter kamen, würde nur Sinclair eine Reise machen. Er würde über den alten Trail fahren, der östlich hinter den Madelyn Mountains verlief, bis er in der Nähe der Grenze zwischen Kalifornien und Nevada an den Highway 127 kam. Dort würde er auf die Interstate 15 zurückkehren, weiter nach Las Vegas fahren, in ein Flugzeug steigen und den ersten Teil der Reise in sein Inselparadies in Angriff nehmen.

Sinclair sehnte sich zwar durchaus nach tropischer Einsamkeit, doch nicht mehr mit der gleichen Begeisterung wie früher. Seine Sentimentalität amüsierte ihn: Er hatte Gefallen an seiner Kirche und den vielen Menschen gefunden, die in ihr tätig waren. Seine Predigten würden ihm fehlen. Auch die beratenden Sitzungen, die er abhielt.

Es bestand kein Zweifel daran, dass er sich in den letzten zehn Jahren verändert hatte. Obwohl es ihn amüsierte, machte es ihm gleichzeitig auch Sorgen. Er hatte immer das Talent gehabt, bekümmert und mitfühlend zu wirken und den Leuten wortgewandt Ratschläge erteilen zu können, aber früher hatte ihm all dies nichts bedeutet. Es war nur ein Teil der Show. Doch in den letzten ein, zwei Jahren hatte er tatsächlich Interesse an Dingen entwickelt, die er so hörte. Er hatte eine Schwäche entwickelt: Er machte sich Gedanken über Menschen, die früher nur hirnlose Schafe für ihn gewesen waren.

Du entwickelst ein Gewissen, mein Freund. Das ist in deiner Branche nicht gesund. Immerhin hatte er kein schlechtes Gewissen. Wer hinter Führern herlief, war selbst schuld daran. Wenn er diese Leute nicht anführte, hätte ein anderer es getan. Immerhin kriegen sie bei mir was für ihr Geld. Vielleicht taten sie ihm doch irgendwie Leid. Vielleicht empfand er doch eine Spur von Bedauern.

Aber er würde die Kirche nach der Apokalypse nicht mittellos zurücklassen. Hannibal Caine würde die Herrschaft über die Organisation übernehmen und erklären müssen, dass das Datum der Apokalypse auf einer falschen Prophezeiung basierte. Obwohl ihm Sinclairs Charisma fehlte, hatte er genug Geschäftssinn, um die Sache am Laufen zu halten. Außerdem wollte Sinclair genügend auf den Kirchenkonten zurücklassen, damit jene, die auf dem Anwesen lebten, genährt und gekleidet werden konnten.

Und das hatte er nie vorgehabt. Was kümmerte ihn eine Bande neurotischer, sich an ihn klammernder Menschen, die nicht allein denken konnten?

Nun, so demütigend es auch für ihn war, dies zuzugeben: Manchmal kam er sich vor, als habe er die väterliche Pflicht, über seine Schäfchen zu wachen. »Du kommst hier gerade noch rechtzeitig raus«, murmelte er vor sich hin. »Gerade noch rechtzeitig.«

Madelyn - Ort des Schreckens

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