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3 Wahn und Wahrheit

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Klares Morgenlicht fiel durch hohe Fenster und weckte Adam. So jäh, als hätte man ihm einen elektrischen Schlag verpasst. Mit rasendem Herzen richtete er sich auf und versuchte, noch einen Blick auf die abrupt verlassene Traumwelt zu werfen. Doch da war nichts. Bloß reine Schwärze, als gäbe es keinen Ort mehr, an den seine Seele sich zum Ausruhen zurückziehen konnte. Falls er denn noch eine besaß.

Während er seine Beine vom Sofa, auf dem er gelegen hatte, schwenkte, kehrte die Erinnerung zurück. Allerdings brach sie nach wie vor in jener Gasse im Dämmerlicht ab, als habe sein Leben erst genau in diesem Moment begonnen.

Eigentlich hatte Adam erwartet, nach dem Aufwachen unter Kopfschmerzen oder zumindest einem gequälten Magen zu leiden. Stattdessen fühlte er sich energiegeladen. Lediglich der widerwärtige Gestank, der von seiner Kleidung ausging, machte ihm zu schaffen. Außerdem war da eine unbestimmte Unruhe, die an ihm nagte. Er hatte das Gefühl, er müsse etwas Dringendes erledigen, dabei jedoch vergessen, um was es sich handelte.

»Guten Morgen, mein Guter. Da sind Sie ja wieder. Haben dagelegen wie ein Toter. Ich hätte mir ernsthafte Sorgen gemacht, wenn nicht Ihr Atmen verraten hätte, dass Sie noch unter uns weilen.«

Die singende Stimme ließ Adam zusammenfahren. Schlagartig spannte er sämtliche Muskeln an, konnte aber den Drang beherrschen, in Angriffsstellung überzugehen. Womit er sich zweifelsohne auch nur blamiert hätte, denn der zierliche Herr saß entspannt mit übergeschlagenen Beinen in einem Sessel und las den Figaro. Die Seiten der Zeitung zitterten im Wind, der durch das offen stehende Fenster hereinwehte und den Duft vom ersten Grün des Jahres mit sich trug.

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich bei Ihnen dafür bedanken soll, dass Sie mich hierhergebracht haben. Oder ob ich nicht besser umgehend eine Erklärung einfordern sollte«, setzte Adam an, während er die Miene seines Gastgebers studierte. Doch der lächelte nur gelassen, als ginge von Adam keinerlei Gefahr aus, obwohl er ihm bestenfalls bis zur Brust reichte.

»Was Sie brauchen, ist ein Bad und frische Kleidung. Blut stinkt für unsereins widerlich, wenn es erst einmal getrocknet ist. Schlimmer als jedes verrottete Stück Fleisch.« Demonstrativ zog er die Nase kraus. »Am Ende des Flurs befindet sich der Badesalon, dort liegt schon alles für Sie bereit. Die gute Seele des Hauses, Henri, wird bald mit einem frischen Hemd und neuen Hosen für Sie zurückkehren. Aus meinem Kleiderfundus werden Sie sich kaum bedienen können, dafür sind Sie eindeutig zu groß geraten.«

Obwohl Adam ebenfalls der scheußliche Geruch des Blutes quälte, weit mehr als der Dreck und Schweiß auf seiner Haut und Kleidung, verharrte er. »Zuerst möchte ich Ihnen noch ein paar Fragen stellen.«

»Dafür haben wir später noch alle Zeit der Welt.«

Adam überging diesen Zwischeneinwurf genau wie die Tatsache, dass sein Gastgeber gezwungen war, sich mit der Zeitung frische Luft zuzuwedeln.

»Wie lautet mein Name?« Diese Frage war ihm die wichtigste von allen.

»Das kann ich Ihnen leider nicht sagen, Sie haben ihn mir nämlich noch nicht genannt.«

»Als mein Onkel sollten Sie ihn aber doch eigentlich kennen.«

Der weißhaarige Mann lachte nur amüsiert.

»Sie sind also keineswegs mein Onkel, auch nicht zweiten oder dritten Grades?« Adam formulierte es zwar wie eine Frage, aber strenggenommen war es eine Feststellung.

»Nein, Ihr Onkel bin ich tatsächlich nicht. Aber wir sind verwandt, wenn auch auf eine Weise, die alles andere als gewöhnlich ist. Mein Name ist Etienne Carrière, ich bin Literaturprofessor an der Sorbonne, deren Kapelle Sie vom Fenster aus bewundern können. Mit wem habe ich die Ehre?«

Adam zögerte. Auf der einen Seite wollte ihm die Antwort nicht ohne weiteres über die Lippen, auf der anderen fühlte er eine Wut aufsteigen, die er vor diesem beherrschten Mann nicht offenbaren wollte. Denn seine Wut verriet nur seine Hilflosigkeit. Wenn er auch nicht wissen mochte, wer er eigentlich war – dass er Hilflosigkeit bei sich selbst hasste, wusste er ganz genau.

»Ich bin Adam«, sagte er schließlich ein wenig steif.

Carrières feine Augenbrauen fuhren zusammen. Säuberlich strich er die Zeitung glatt und legte sie auf einen Beistelltisch, ohne den Blick von seinem Gast abzuwenden. »Nur Adam also ... Warum überrascht mich das nicht? Sie sind wohl leicht aus der Bahn geraten, nachdem Sie unserem namenlosen Freund begegnet sind, möchte ich meinen.«

»Sie wissen also, was mir zugestoßen ist? Hören Sie ebenfalls eine Stimme, die Ihnen ihren Willen aufdrängen will?«

»Hören Sie denn eine?« Als Adam lediglich ein drohendes Knurren ausstieß, hob Carrière abwehrend die Hände. »Wir werden später in Ruhe darüber reden. Jetzt nehmen Sie erst einmal ein Bad, ansonsten verleiden Sie mir Ihre Gegenwart noch vollkommen.«

Im Badezimmer mit einem angrenzenden und großzügig geschnittenen Waschraum wiesen die Fenster auf einen Hinterhof hinaus, in dem bereits eine Felsenbirne blühte. Tatsächlich lag alles für ein Bad bereit. Trotzdem konnte Adam sich zunächst nicht dazu durchringen, sich zu entkleiden, obwohl ihn sein Geruch anwiderte. Zögernd betrachtete er das florale Bodenmosaik, das in grünem Marmor eingefasste Emailbecken und die modernen Leitungen, die nicht nur fließendes, sondern sogar warmes Wasser versprachen. Nicht viele Wohnungen in Paris dürften über einen derartigen Luxus verfügen.

Kommt mir ein solcher Luxus vertraut vor, oder sehe ich so etwas zum ersten Mal?, fragte Adam sich unwillkürlich. Gemessen an seiner Kleidung, die trotz ihrer Zerschlissenheit und der unzähligen Flecken eindeutig von guter Qualität war, vermutlich Ersteres. Es änderte jedoch nichts daran, dass er sich in all diesem Wohlstand unbehaglich fühlte. Seit er in der Gasse erwacht war, hatte er schnell herausgefunden, dass er über hervorragende Jagdinstinkte, überempfindliche Sinne und einen kräftigen Schlag verfügte. Außerdem zeigte er verblüffend wenig Hemmung, einen Gegner zu attackieren und sogar zu töten. Wie allerdings ein passendes Zuhause für ihn aussehen mochte, davon hatte er nicht einmal eine rudimentäre Vorstellung. Er hatte einfach kein Bild von einem Menschen namens Adam – falls es den überhaupt gab.

Mit dem Fuß schob er seine verdreckte Kleidung vor die Tür in der Hoffnung, dass dieser Henri tatsächlich bald mit frischen Sachen auftauchen würde. Den Gestank nach Blut wollte Adam jedenfalls keinen Augenblick länger mehr ertragen. Genauso wenig wie den Geruch der beiden Männer, der beim Kampf an ihm haften geblieben war und ihn daran erinnerte, dass er sie tot zurückgelassen hatte.

Lange Zeit sah er dem Wasser zu, wie es rötlich verfärbt im Abfluss verschwand. Selbst als es klar war, konnte er sich nur schwerlich von dem Anblick lösen, erwartete er doch geradezu, noch mehr Blut müsse folgen. Mit fest aufeinandergepressten Lippen wandte er sich schließlich den Seifen auf dem Badewannenrand zu, die für seinen Geschmack alle zu stark nach Gräsern, Hölzern oder irgendwelchen aufdringlichen Ölen rochen. Ihm gefiel der Gedanke nicht, einen künstlichen Duft an sich zu tragen, obwohl er viel dafür gegeben hätte, diesen penetranten Muskatduft zu übertünchen, der ihm aus jeder Pore strömte. Also griff er sich lediglich eine der Bürsten und machte sich an die Arbeit.

Eigentlich hätte es ihn nicht verwundern sollen, aber er fand an seinem ganzen Körper nicht eine einzige Kampfspur. Kein Bluterguss, keine Schramme, nicht die kleinste Andeutung einer Verletzung. Wären das Blut und die Gerüche der beiden Männer nicht gewesen, hätte er von einer Wahnidee ausgehen können. Aber so? Vielleicht war ja alles, was er erlebte, nichts anderes als die Wahnwelt eines Irren, dessen Geist in seinem Kopf eingesperrt war, während sein Leib wohl verwahrt in einem Hospitalzimmer dahinvegetierte.

Ein Stöhnen unterdrückend, stieg Adam aus der Wanne, schlang ein Tuch um die Hüften und näherte sich im Waschraum dem Spiegel, um den er bislang einen großen Bogen gemacht hatte. Da er noch etwas Zeit schinden wollte, inspizierte er die Rasierutensilien genau, rührte sorgfältig den Schaum an und zog das Rasiermesser über den Abziehriemen. Es gelang ihm sogar, sich zu rasieren, ohne einen genauen Blick auf sein Spiegelbild zu riskieren. Als er jedoch die Schaumspuren abwischte und dabei prüfend in den Spiegel sah, blitzten seine schillernd grünen Iriden auf. So anziehend wie zwei Edelsteine in einer verborgenen Schatulle.

Konnte man wirklich die eigene Augenfarbe vergessen?

Je länger er in dieses bestechend gut aussehende Gesicht schaute, desto fremder erschien es ihm. Auch wenn er nicht die leiseste Ahnung hatte, wer er war – er war auf jeden Fall nicht dieser Mann im Spiegel. Es war ein Gesicht, das die Aufmerksamkeit erzwang, weil man sich seiner Attraktivität nicht entziehen konnte. Aber er fühlte sich keineswegs wie jemand, der sich nach Beachtung sehnte. Er wolle seinen Weg gehen können, ohne dass man sich den Hals nach ihm verdrehte. Zu ihm passte kein schönes Gesicht, so viel stand zumindest fest.

Mit einem Anflug von Zorn spülte er das Rasiermesser ab. Während er die scharfe Stahlklinge säuberte, verflüchtigte sich der Wunsch, hinauszugehen und jemanden für seine Verwirrung büßen zu lassen. Denn eigentlich hatte er ja schon jemanden gefunden: diesen Fremden, der ihn unentwegt aus seinen Katzenaugen beobachtete und sich anscheinend bestens über seine Konfusion amüsierte.

Herausfordernd betrachtete Adam erneut das Spiegelbild und fasste einen Entschluss: Wenn all das hier nur seinem kranken Geist entsprang, hatte folglich nichts von seinem Tun Konsequenzen. Sollte es jedoch die Realität sein, wollte er sie lieber schnell hinter sich lassen. Endgültig.

Ohne zu zögern, setzte Adam die Klinge an seinem Hals an, spürte, wie sie die Haut durchschnitt und mühelos ins Fleisch glitt, während er den Blick der Katzenaugen mit einem verächtlichen Lächeln erwiderte. Dunkles, samtig glänzendes Blut quoll hervor, roch nach Salz, Metall und Leben. In schnell breiter werdenden Rinnsalen floss es über seine Brust.

Wunderschön, flüsterte die Stimme.

Adam schrie auf, zog die Klinge mehr aus Wut als aus Verzweiflung quer über seine Kehle. Er taumelte zurück und stieß unerwartet heftig gegen den Ofensockel. Gegen seinen Willen versuchte er, durch seine aufgeschnittene Luftröhre zu atmen, was ihm jedoch nicht gelang. Es drang nur Blut ein, ließ ihn zunächst husten und dann keuchen.

Die Badezimmertür wurde nach einem kurzen Klopfen geöffnet, und Etienne Carrière trat ein. Adam blinzelte ihn an und konnte ihn zwischen den tanzenden schwarzen Flecken kaum noch ausmachen, während er langsam am Ofen hinabsank. Carrière ergriff eins der Badetücher und presste es ihm gegen die klaffende Halswunde. Adam versuchte, ihn abzuwehren und ein »zu spät« hervorzubringen, aber seine durchtrennte Kehle ließ keinen Laut zu.

Dafür gelang ihm zu seinem Entsetzen jedoch ein erster Atemzug, schmerzhaft wie bei einem Neugeborenen.

Dann noch einer.

Carrière lächelte, als würde der Anblick des fließenden Blutes ihn mehr verzücken als ein paar blasse Frauenschenkel, dann wurde seine Miene ernst.

»Der Schnitt schließt sich bereits wieder. Sie haben mein Badezimmer also ganz umsonst ruiniert. Hören Sie endlich auf, sich gegen meine Hilfe zu wehren, und drücken Sie das Tuch gegen die Wunde, damit nicht noch mehr Blut das Mosaik verdirbt. Das bekommt man nämlich nur schwer wieder aus den Fugen. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede.«

Adam wollte verzweifelt auflachen, brachte allerdings nur ein blutersticktes Gurgeln zustande, während sich der Schnitt durch seine Kehle wie von Zauberhand immer weiter schloss. Bald würde er ein richtiges Lachen zustande bringen, wenn auch ein bitteres. Das hatte er jetzt endgültig begriffen. Aus seiner Welt – ob sie nun real war oder nicht – gab es keine Fluchtmöglichkeit. Er war ein Gefangener.

Du gehörst mir, sang die verhasste Stimme, für immer.

Nachtglanz

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