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8 Verborgene Liebe

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Die Nacht verbrachte Adam damit, auf den Schlaf zu warten, der nicht kommen wollte. Nie wieder kommen würde. Der Schlaf war eine der menschlichen Fesseln, die er abgelegt hatte. Also starrte er die Einrichtung seines Gästezimmers an, das Carrière ihm überlassen hatte, sehnsüchtig auf den Morgen wartend. Als er bei Dämmerungseinbruch die Beine über die Bettkante schwang, fühlte er sich verrückterweise so frisch wie die Kleidung, die der fürsorgliche Henri ihm bereitgelegt hatte. Sein Spiegelbild verriet ihm, dass er aussah wie nach einem Morgenspaziergang: blanke Augen, unter denen nicht ein Hauch von Schatten zu finden war. Die Haut war keineswegs aschfahl, wie er es eigentlich erwartet hatte, sondern von ersten Spuren der Märzsonne gezeichnet. Sogar einige Sommersprossen waren auf Wangen und Nasenrücken aufgetaucht.

Adam schüttelte halb belustigt, halb entnervt den Kopf. Kein Schlaf, kein Essen – und er sah aus wie das blühende Leben. Der Dämon war wirklich ein Meister des schönen Scheins.

Im Salon traf er Carrière an, wo dieser immer noch exakt so dasaß, wie er ihn nach ihrer Rückkehr von Rischka zurückgelassen hatte: mit übergeschlagenen Beinen in seinem Lieblingsstuhl versunken und das aufgeschlagene Buch, das er auf seinem Knie balancierte, ignorierend. Auch für Adam hatte er keinen Blick übrig, nur einen halbherzig genuschelten Morgengruß.

Nachdenklich ließ Adam sich auf dem Schemel vor einem Klavier nieder und begann, einzelne Tasten beliebig anzuschlagen. Seitdem sie das Hausboot verlassen hatten, ähnelte Carrière einem Schlafwandler, für den ausschließlich seine Innenwelt existierte. Gewiss, der Besuch bei Rischka war äußerst aufwühlend gewesen – allerdings für ihn, während Carrière eigentlich doch nur Zaungast gewesen war. Er hatte nicht nur endgültig begriffen, dass ihn vor drei Nächten ein Dämon versklavt hatte, sondern dass er nun auch Teil einer Welt war, die mit dem Alltagsleben der Menschen wenig gemeinsam hatte. Aber warum Carrière deshalb verstört reagierte, stellte ihn vor ein Rätsel. Ihm war all das doch bestens bekannt, oder?

»Wie sieht es aus, Carrière: Wollen Sie mich begleiten, wenn ich diese Quittung eintausche, oder ziehen Sie es vor, weiterhin Löcher in die Luft zu starren?«, fragte Adam, ohne sich vom Klavier abzuwenden. Auch wenn ihm diese Lethargie eigentlich ganz recht war, wunderte er sich. Denn dem so lebhaften Mann erschien doch sonst jede Minute, in der seine einnehmende Stimme nicht erklang, eine verschenkte Minute zu sein. Adam schlug noch ein paar weitere Tasten an.

»Da schau an: Franz Liszt!«

»Wie bitte?«

Etienne hatte seinen Stuhl verlassen und kam zu ihm herüber, die Stimme zu Adams Erleichterung wieder mit Leben erfüllt. »Das Klavierstück, das Sie gerade angespielt haben. Es stammt von Franz Liszt. Ganz wunderbar.«

»Ich habe kein Stück gespielt.«

Adam fühlte sich seltsam ertappt und zog rasch die Hände von der Klaviatur zurück, obwohl er durchaus den Wunsch verspürte, sie weiterhin zu berühren. Allem Anschein nach war er so in Gedanken versunken gewesen, dass er gar nicht bemerkt hatte, wie seine Finger von der Klimperei in das Spielen eines Stücks übergangen waren. Sofort setzte er eine ausdruckslose Miene auf, um seine Verunsicherung zu vertuschen. Doch Carrière ließ sich in seiner Begeisterung nicht abschrecken. Er ging sogar so weit, Adam eine Hand auf die Schulter zu legen, was dieser nur widerwillig gestattete.

»Mein Bester, Sie spielen Klavier, und zwar ausgezeichnet, sofern ich das beurteilen kann. Ich rede hier nicht nur von einer ordentlichen Ausbildung, die man den Söhnen aus gutem Hause zukommen lässt, sondern von Talent.«

»Und wenn das Spiel bloß dem Dämon zuzuschreiben ist? Das vermute ich nämlich auch für meine Französischkenntnisse ...«

»Papperlapapp, das waren ganz eindeutig Sie. Wer sonst spielte so, als würde er sich von hinten an die Noten heranpirschen?« Carrière stieß ein Lachen aus, in das Adam nicht einstimmte. »Nun machen Sie doch nicht so ein finsteres Gesicht, Sie sollten sich freuen! Schließlich sind Sie auf der Suche nach Ihrer Vergangenheit. Und hier haben Sie ein weiteres Puzzleteil: Sie lieben nicht nur Geschichten aus der Romantik, sondern können auch Klavier spielen. Sie sind musisch veranlagt, wer hätte das gedacht?«

Diese Frage ließ Adam im Raum stehen, denn sie kannten beide die Antwort: niemand. Mit einem entschlossenen Griff senkte er den Deckel des Klaviers und stand auf. Insgeheim beschloss er, die erste Gelegenheit zu einem weiteren Spiel zu nutzen, wenn Carrière sich nicht in der Nähe befand. »Begleiten Sie mich nun?«, wechselte er das Thema.

»Selbstverständlich, wie können Sie daran nur zweifeln? Sie sind ein einziges Rätsel, und ich liebe Rätsel. Womit sonst soll man sich auch den lieben Tag und die ganze Nacht lang beschäftigen?«

Eben noch hatte Adam Carrière seinen Dank für dessen Unterstützung aussprechen wollen, doch nun biss er sich auf die Zunge. Wenn er als Unterhaltungsprogramm für einen Unsterblichen diente, war Dank wohl überflüssig.

Als sie auf die Straße traten, begrüßte sie Nieselregen, der sämtliche Konturen verwischte. Es war keineswegs unangenehm, denn obwohl die Sonne nur selten die graue Wolkendecke durchbrach, war es warm. Adam schloss die Augen und genoss es, wie sich die feinen Tropfen einem kühlen Tuch gleich über sein Gesicht legten, während Carrière mit einem Regenschirm kämpfte. Schließlich gab er es auf und winkte eine Kutsche herbei, was Adam mit einem unwirschen Schnauben bedachte. Auch wenn er gespannt war, was man ihm am Gare de lʼEst aushändigen würde, so liebte er Paris doch dafür, dass man alles hervorragend durch einen Spaziergang erreichen konnte. Außerdem stiegen beim Anblick der beengten Kabine Erinnerungen auf, die er nur allzu gern vom Dämon hätte löschen lassen. Rinnsale aus Blut auf einem weit nach hinten gebogenen Frauenhals, die er beinahe in eine tödliche Sturzflut verwandelt hätte ...

Als Adam zögerte einzusteigen, wedelte Carrière ungeduldig mit der Hand in der Luft herum. »Sie können ja laufen, wenn Sie wollen. Aber ich lasse mir auf keinen Fall die Garderobe von dieser Waschküche ruinieren.«

Mit fest aufeinandergepressten Lippen stieg Adam schließlich ein, mit dem dringenden Wunsch, etwas gegen Carrières neu erwachte gute Laune zu unternehmen. Während er sich in die Ecke der Sitzbank quetschte wie ein Gefangener, fragte er sich erneut, was Carrière vorher aus dem Gleichgewicht gebracht haben mochte.

»Während des Gesprächs gestern habe ich den Eindruck gewonnen, dass Rischka Ihnen bereits vor Ihrer ...«, Adam stockte, weil ihm nicht das richtige Wort einfallen wollte, »... Verwandlung vom Dämon erzählt hatte.«

Carrière nickte eifrig. »Ich bin ihr bereits vor Jahren auf einer Soiree vorgestellt wurden, nachdem ihr Boot nach langer Zeit wieder einmal in Paris eingelaufen war. Sie können sich sicherlich vorstellen, dass Rischka nach einigen Jahren die Stadt wechseln muss. Ganz gleich, wohin sie geht, sie wird ein bekanntes Mitglied der Gesellschaft.« An dieser Stelle stieß Adam ein höhnisches Lachen aus, für das Carrière ihn streng anfunkelte. »Ich sprach nicht von einem angesehenen Mitglied der Gesellschaft. Aber davon abgesehen, sollten Sie Ihren Dünkel hinter sich lassen. Schließlich sind Sie nun Mitglied einer Gesellschaftskaste, die noch unter den Huren steht: die der Mörder.«

Adam zuckte nur gleichgültig mit der Schulter.

Einen Moment lang sah es so aus, als würde Carrière nicht weiter fortfahren, doch dann entspannten sich seine Gesichtszüge wieder. »Sie sind noch sehr jung, mein Freund. Eins können Sie mir glauben: Je älter man wird, desto großzügiger sieht man über die Grenzen der Gesellschaft hinweg, die doch nur von Kleingeist und Vorurteilssucht aufgestellt worden sind. Die Menschheit ist viel zu interessant, um sich den Blick auf sie mit solchen Meinungen zu verstellen.«

»Das mag sein, aber Rischka gehört der Gattung, von der Sie so schwärmen, nicht an. Sie übrigens auch nicht, und wenn ich richtig schlussfolgere, sind Sie diesen Schritt freiwillig gegangen.«

»Das stimmt. Ich bin dem Dämon schon lange, bevor ich Rischka getroffen habe, auf der Spur gewesen. Jahrelang war er mein Steckenpferd, und ich bin ihm wie kein Zweiter durch die Literatur gefolgt. Sie glauben gar nicht, wie viele Zeugnisse es über das Treiben des Dämons gibt. Ihr Faible für die Geschichten der Romantik passt da bestens ins Bild, denn sie sind voller Verweise auf den Dämon. Die Begegnung mit Rischka war die Krönung einer langen Suche, denn der Dämon offenbarte ihr, dass ich ihn tragen könnte. Aber sie ist seinem Drängen nicht sofort nachgekommen, sondern hat mir die Zeit zugestanden, eine Entscheidung zu treffen.«

Adam glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. »Und obwohl Sie beim Studium der Literatur mehr als genug über die blutige Seite des Dämons erfahren haben dürften, haben Sie ihn eingelassen, rein aus dem Wunsch heraus, unsterblich zu werden?«

»Ja, genau«, erwiderte Carriere geradeheraus. »Ich wollte wissen, wie es mit der Menschheitsgeschichte weitergeht. Rischka trat zu einem Zeitpunkt in mein Leben, in dem ein Ende bereits absehbar war. Ich wollte nicht sterben, da doch gerade eins der interessantesten Kapitel der Menschheitsgeschichte aufgeschlagen worden war. Sie verstehen das nicht, denn Sie sehen einfach nicht die Möglichkeiten, die einem der Dämon bietet. Aber ich habe sie damals gesehen und meine Chance ergriffen.«

»Und Ihre Gabe in dieser neuen Welt, die sich Ihnen eröffnet hat, ist Empathie für die Menschheit, während Sie des Menschen Wolf geworden sind. Sie töten, was Sie lieben. Der Dämon verfügt wirklich über einen bösartigen Humor.« Zuerst war Adam nach einem Lachen zumute, aber kaum sann er über seine Worte nach, verging es ihm. Der Dämon war ein Sadist, durch und durch.

»Ich bereue meine Entscheidung keineswegs«, erklärte Carrière mit fester Stimme. Unter seinem Auge zuckte jedoch ein feiner Nerv, was Adam keineswegs entging. Ehe er der Angelegenheit jedoch auf den Grund gehen konnte, waren sie am Gare de lʼEst angekommen.

Nachtglanz

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