Читать книгу Nachtglanz - Tanja Heitmann - Страница 17
10 Eine russische Affäre
ОглавлениеGräfin Antonia Iwanowna – oder Toska, wie sie sich seit einigen Monaten nannte, obwohl es eine eher schmähliche Kurzform ihres Namens war – war bester Laune. Noch während des Aufstehens hatte sie den dicht fallenden Nieselregen vor den Fenstern bemerkt, der den ganzen Tag nicht nachgelassen hatte. Grau und diesig war die Welt, so wie man es im März erwarten durfte.
Die vergangenen Tage mit ihrer unnatürlichen Wärme hatten Toska zugesetzt, nicht nur ihrem Gemüt, sondern auch ihrer Wintergarderobe, die sie zu ihrem Leidwesen schon in Italien nicht hatte ausreichend vorführen können. Was nützten einem die edelsten Pelze, wenn man in ihnen wie ein Stück Butter in der Sonne zerfloss? Gewiss, die Italiener hatten keine Chance ungenutzt verstreichen lassen, um über den angeblich kalten Winter zu schimpfen, der nicht etwa Frost und Schneemassen, sondern lediglich Matsch und Langeweile mit sich gebracht hatte. Dafür hatte Toska nur ein Kopfschütteln übriggehabt. Genau wie die Pariser es offenbar für höchst angebracht hielten, dass endlich der Frühling Einzug hielt, während Toskas russische Seele nach eisklirrender Kälte verlangte. Oder zumindest nach einem Klima, das ihren üppigen Brokatmantel mit Fuchspelzbesatz nicht lächerlich aussehen ließ.
Heute sah sie endlich ihre Chance gekommen. Selbst als ihre Zofe sie auf die zwischen den Wolken hervorbrechende Sonne hinwies, hatte sie ihre Meinung nicht mehr ändern wollen. Sogar die Pelzkappe, das eigentliche Schmuckstück dieses Aufzugs, zwängte sie über ihr hochgestecktes Blondhaar, das sie normalerweise stets zu betonen bemüht war.
Als sie im Salon mit ihrer Gesellschafterin Raisa zusammentraf, entglitten der älteren Dame für einen Moment die Gesichtszüge. Auch wenn Raisa es spätestens seit ihrem Toskanaaufenthalt aufgegeben hatte, Toskas Garderobe zu beurteilen – einfach, weil es ihr nicht gelingen wollte, die jeweilige Mode eines Landes und die mit ihr einhergehenden Regeln zu begreifen –, so ahnte sie trotzdem, dass dieser Aufzug zweifelsohne Aufsehen erregen würde. Nun, vermutlich wollte Tosjenka, wie sie die junge Frau in gedankenverlorenen Momenten zärtlich nannte, auch genau das erreichen. Zwar pflegten die Pariserinnen einen ausgesprochen gewagten, gar verspielten Stil, aber Tosjenka sah in ihrem aufwendigen Brokatmantel aus wie die Heldin aus einem Wintermärchen. Fehlte nur noch der von Hirschen gezogene Schlitten.
Allerdings kannte Raisa den Hang der jungen Frau zu exzentrischen Auftritten, mit denen sie ihre Langeweile zu bekämpfen versuchte, und ließ ihn ihr gern durchgehen. Mit einem übertriebenen Aufzug konnte sie nämlich deutlich besser fertigwerden als mit den anderen Mätzchen, mit denen Tosjenka ihre Geduld in den letzten Monaten auf die Probe gestellt hatte.
Mir hätte schon viel früher klar werden müssen, dass sie mit ihren einundzwanzig Jahren kein Mädchen mehr ist, dachte Raisa, während Toska herausfordernd ihre Pelzkappe zurechtrückte, als warte sie nur auf einen Tadel, den sie in den Wind schlagen konnte. Anstatt das Kind auf Reisen zu schicken, hätten ihre Eltern sie besser schleunigst verheiraten sollen. Nun, da Tosjenka auf den Geschmack gekommen war, wie überaus unterhaltsam männliche Gesellschaft sein konnte, würden sie das möglichst rasch nachholen müssen.
Es hatte nicht viel gefehlt, und Toskas Großtante, die sie auf diese Europareise eingeladen hatte, hätte etwas von der unmöglichen Affäre bemerkt, die ihre Nichte bereits während ihres Aufenthalts in der Toskana eingegangen war. Glücklicherweise gehörte dieses Problem nun der Vergangenheit an und hatte allem Anschein nach keinen größeren Schaden als heftige Gefühlsschwankungen bei Tosjenka hinterlassen. Was allerdings nicht weiter auffiel, denn die junge Dame schwankte ohnehin stets zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt. Vielleicht war es auch dieser ewigen Unruhe geschuldet, dass Raisa sich der jungen Frau schon länger nicht mehr gewachsen fühlte und ihr deshalb entschieden mehr Dummheiten durchgehen ließ, als sie einer Dame aus gutem Hause eigentlich zustanden.
Ich werde langsam alt, gestand Raisa sich ein, als sie in Tosjenkas trotzige Miene blickte. Nein, sie verspürte nun wirklich kein Verlangen, diesen Aufzug zu kommentieren. So seufzte sie nur und sagte: »Wollen wir dann also zu einem kleinen Spaziergang aufbrechen, bevor Ihre Frau Großtante Sie zum Abendessen erwartet?«
Augenblicklich leuchtete jenes strahlende Lächeln auf, für das Toska berühmt-berüchtigt war und für das man ihr schon viel hatte durchgehen lassen. Zu einer leichten Plauderei anhebend, hakte sie sich bei ihrer Gesellschafterin ein und steuerte den Weg zum Foyer an. Erst als sie die letzten Stufen der geschwungenen Treppe nahmen, verlangsamte Toska merklich ihren Schritt, damit auch keinem der dort verweilenden Gäste ihre Ankunft entging. Obwohl sie den Kopf hoch erhoben trug, sah sie doch alles und stellte mit Genugtuung fest, dass sie – wenn auch nur für einen Augenblick – im Zentrum der Aufmerksamkeit stand. Mehr hatte sie jedoch bei diesem verwöhnten Publikum des Grand Hôtels auch nicht erwartet. Allein dafür hatte es sich gelohnt, ordentlich ins Schwitzen zu geraten. Sobald sie zur Eingangstür hinaus waren, würde sie die Pelzkappe abnehmen – das stand fest.
Während Raisa bereits zielstrebig auf den Ausgang zuhielt und an ihrem Arm zerrte, schenkte Toska der anwesenden Allgemeinheit ein Lächeln, wobei ihr Blick geübt über die Gesichter schweifte, ohne wirklich eins wahrzunehmen. Geradeso, wie sie es bei den Schauspielerinnen der hiesigen Theater gesehen hatte, denen es mit einem Lächeln gelang, das gesamte Publikum einzufangen. Allerdings entglitten Toska ganz unvermittelt die Züge, als sie an einem Gesicht hängen blieb, das man auf keinen Fall übersehen konnte. Ohne Warnung blieb sie wie angewurzelt stehen und brachte somit die arme Raisa ins Stolpern und damit um ihre Würde.
Mit offenem Mund stand Toska da und starrte den Mann an, der ein Gespräch an der Rezeption führte.
»Charles?«, brachte sie schwach hervor. In ihrer Stimme schwang etwas mit, das Verzückung und Unglauben verriet.
Raisa, die mit Schamesröte auf den Wangen gerade um eine Erklärung wegen des abrupten Halts bitten wollte, folgte dem Blick der reglos dastehenden Frau. Als sie den Auslöser für Toskas Verhalten entdeckte, schlug sie sich rasch die Hand vor den Mund, um ein Aufstöhnen zu unterdrücken.
In der Zwischenzeit löste sich Toska von Raisas Arm und schritt wie eine Traumwandlerin auf die Rezeption zu. Augenblicklich vergaß Raisa, dass einige wartende Gäste sich die Zeit damit vertrieben, sie zu beobachten. Sie packte die junge Frau so fest am Arm, dass diese aufkeuchte, und zischte ihr ins Ohr: »Sie werden nicht zu ihm gehen!«
Zunächst blickte Toska verblüfft drein, als sei sie überrascht, dass außer diesem Mann und ihr überhaupt noch jemand anders auf der Welt existierte. Aber dann wich die Verblüffung bockiger Entschlossenheit, die Raisa in den vergangenen Monaten zu fürchten gelernt hatte.
»Natürlich werde ich Charles Guten Tag sagen, warum denn nicht?«
Raisa fielen sofort unzählige Gründe ein, warum sie das tunlichst unterlassen sollte, aber sie nannte nur den herausragendsten, der Toskas Stolz beträchtlich gebrochen hatte: »Weil Charles Sie gerade verlassen hat – zum zweiten Mal übrigens innerhalb der wenigen Monate, seit Sie seine Bekanntschaft gemacht haben. Und das aus dem schlichten Grund, weil er eine alberne Zugfahrt Ihrer Gesellschaft vorzieht.«
Toska zuckte zusammen, fing sich jedoch schnell wieder. Viel zu schnell für Raisas Geschmack. »Ach, hat er das? Und warum steht er dann hier im Foyer? Vermutlich erkundigt er sich gerade nach mir. Das wird eine Überraschung geben. Charles liebt Überraschungen.«
Sie wollte weitergehen, doch Raisa weigerte sich, von ihrem Arm abzulassen. »Hören Sie, Sie haben doch bereits mehr als ein Mal herausgefunden, wie unberechenbar Charles ist. Seien Sie froh, dass Sie nach seiner unverfrorenen Abreise vor ein paar Tagen einen guten Grund haben, ihn zu ignorieren. Soll er einer anderen Frau das Herz brechen.«
»Charles hat mir doch nicht das Herz gebrochen«, erwiderte Toska mit einem künstlichen Lächeln. »Ich finde ihn unterhaltsam, mehr nicht.«
»Wenn Sie ihn nur unterhaltsam finden, dann verstehe ich nicht, warum Sie Ihre Großtante so penetrant genötigt haben, bereits im März nach Paris zu reisen anstatt wie geplant im Mai, wenn nicht seinetwegen. Unterhaltung gab es auch in den toskanischen Städten – das haben Sie ja erst bemerkt, nachdem er abgereist war. Und wozu der ganze Aufwand? Vier gemeinsame Tage in Paris, und dieser Unmensch kauft sich einfach eine Zugkarte, um sich der nächsten lockenden Zerstreuung hinzugeben. Wie gut, dass Ihre Tante sich standhaft weigert, den Osten Europas zu bereisen, weil hier demnächst die Weltausstellung eröffnet wird. Ansonsten säßen wir jetzt vermutlich ebenfalls in diesem Orientexpress.«
Doch Toska hörte ihr gar nicht zu. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt Charles und seinem weich fallenden Haar, das im Licht der Lüster wie dunkler Honig schimmerte. Sie betrachtete sein Profil, das sich ihr so sehr eingebrannt hatte, dass es jedes Mal aufleuchtete, wenn sie die Augen schloss. Sie studierte die Rückenlinie, deren kraftvolle Muskeln sie ausgiebig erkundet hatte, und die Hände, die mit einem Zylinder spielten. Sie war derartig gefangen von seinem Erscheinungsbild, dass es für verletzten Stolz und zu wahrende Würde keinen Platz mehr gab.
Während Raisa ununterbrochen in beschwörendem Ton auf sie einredete, befreite sich Toska aus ihrem Griff und ging auf die Rezeption zu. Aufgeregt wartete sie auf den Moment, in dem Charlesʼ grün funkelnde Augen sie endlich finden würden. Nicht einmal, als diese Katzenaugen sie tatsächlich streiften, ohne sie mit Beachtung zu würdigen, blieb sie stehen. Es war ganz gleich, wie er sich verhielt – Hauptsache, er war wieder zurück, Hauptsache, sie konnte ihn ansehen und sich in ihm verlieren. Ohne Zögern streckte sie die Hand aus und packte ihn am Kinn, woraufhin er gezwungen war, ihr endlich Aufmerksamkeit zu schenken.
»Charles, du Ungeheuer«, sagte sie mit einer vor Erregung bebenden Stimme. »Bist du etwa zurückgekehrt, um mich weiterzuquälen?«
Charles blickte sie an, als sehe er sie zum ersten Mal in seinem Leben. Fast hätte Toska laut aufgelacht. Ein neues Spiel begann, und sie würde auch dieses Mal mitmachen, ganz gleich, wie hoch der Preis dafür war. Sie konnte ihm einfach nicht widerstehen, auch wenn er ihr Untergang sein mochte.