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11 Gefährliche Spiele
ОглавлениеEigentlich hätte Adam den Maître de réception keines Blickes würdigen müssen, um herauszufinden, dass dieser Herr ihn zum einen kannte und ihn zum anderen nicht ausstehen konnte. Von dem Mann, der die Würde dieses großen Hotels geradezu versinnbildlichte, ging eine körperlich spürbare Abneigung aus. Obwohl Adams Sinne auf äußerst unangenehme Weise darauf ansprangen, nahm er dem Mann seine Haltung nicht übel. Sicherlich empfing man in einem solchen Haus einen ehemaligen Gast nicht ohne guten Grund mit einer Grabesmiene.
»Wie schön, Monsieur wiederzusehen. Es freut uns natürlich sehr, wenn unsere Gäste uns verbunden bleiben, aber leider befürchte ich, Ihnen heute kein Zimmer anbieten zu können. Der Frühling lockt Gäste aus aller Welt nach Paris, wie Sie verstehen werden. Sicher gibt es noch einige andere Hotels, die sich sehr über Ihre Anwesenheit ...«
»Sparen Sie sich das Gerede«, unterbrach Adam ihn und ignorierte Carrières leisen Aufschrei wegen seiner Unhöflichkeit. Er war sich jedoch sicher, dass er auch mit einem Übermaß an Taktgefühl bei diesem Mann nicht weitergekommen wäre. Also hatte er kurzerhand entschieden, ohne Umwege auf sein Anliegen zu sprechen zu kommen. Falls der Maître blockte, würde er ihm zu einem anderen Zeitpunkt einen Besuch abstatten, allein, unter vier Augen.
»Ich bin heute nur vorbeigekommen, um in Erfahrung zu bringen, ob noch einige Gäste hier wohnen, mit denen ich während meines Aufenthalts verkehrt habe.«
Der pechschwarze Schnurrbart mit den gezwirbelten Enden des Maître zitterte vor Empörung. »Es steht mir in meiner Position keineswegs zu, mich für die Privatangelegenheiten unserer Gäste zu interessieren.«
»Tatsächlich, so etwas geht also spurlos an Ihnen vorüber?« Adam zog mit gespieltem Unglauben die Brauen hoch.
Anstelle einer Antwort ließ der Maître nur ein entrüstetes Schnauben hören. Etwas zu entrüstet, wie Adam fand. Ja, er würde den Mann erneut aufsuchen. Denn in diesem Fall bedurfte es nicht einmal seiner empfindsamen Sinne, um die Lüge zu erkennen. Was auch immer Adam sich während seines Aufenthaltes im Grand Hôtel geleistet hatte, es brachte das Herz des Maître immer noch dazu, ohrenbetäubend laut und viel zu schnell zu schlagen. Noch ein wenig schneller, und der Mann würde tot umfallen.
Während Carrière in beruhigendem Ton auf den Maître einredete, sah Adam sich im Foyer um. Wenn ihm schon kein vertrautes Gesicht untergekommen war, so würde er vielleicht erkannt werden.
Doch nichts geschah.
Kein Wunder, wechselten die Gäste in einem Hotel doch regelmäßig, und er war seit mindestens drei Tagen nicht mehr hier gewesen. Vermutlich eine zu lange Zeit. Solche Orte gehörten der Gegenwart an, niemand interessierte sich für das Gestern. Abgesehen vom Maître und dem Portier, der ihm mit einem breiten Grinsen die Tür geöffnet hatte, wie ihm jetzt wieder einfiel. Vielleicht sollte er sich an den Portier halten ... Mit ein wenig Geld und gutem Zureden würde der sicherlich etwas zu erzählen haben.
Derartig in Gedanken versunken, bemerkte Adam nicht, wie sich ihm eine grazile Gestalt näherte. Erst als er am Kinn gepackt wurde, registrierte er die junge Frau, die ihn mit fiebrigen Augen anstarrte. Ihre Empfindungen waren von einer derart starken Natur, dass Adam beinahe die Beherrschung verlor. Sie war aufgeregt, nein, erregt. Aber ebenfalls wütend ... Und da war Angst, wenn auch gut verborgen. Er konnte nur dastehen und zurückstarren. Ihre Lippen bewegten sich, aber das plötzlich ausgebrochene Rauschen in seinen Ohren machte es ihm unmöglich, sie zu verstehen. Es interessierte ihn nicht einmal, was sie zu sagen hatte; er war vollkommen damit beschäftigt, seine Instinkte zu zügeln.
Hör auf, dich dagegen zu wehren. Ich will sie, und das weißt du.
Die Stimme dröhnte so gellend durch Adams Kopf, dass er sich am Empfangstresen festhalten musste, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Er ahnte, was geschehen würde, wenn er nicht umgehend die Beherrschung zurückgewann. Das Gleiche, was ihm mit jener namenlosen Frau passiert war. Weiter kam er nicht, denn das Rauschen übertönte jeden nachfolgenden Gedanken.
Dann stellte Carrière sich zwischen ihn und die junge Frau, die einfach nicht damit aufhören wollte, ihn anzustarren, als sei er ein wahr gewordener Wunschtraum – und nicht etwa ihr baldiger Tod. Zu seiner Erleichterung wirkte Carrières Körper wie eine Trennwand, so dass sich nicht nur seine überreizten Sinne beruhigten, sondern auch der Dämon sich mit einem Murren zurückzog.
Gut, spiel noch ein bisschen mit ihr, bevor ich sie mir hole.
»Entschuldigen Sie bitte, Madame«, setzte Etienne mit einem Lachen an und verneigte sich vor der jungen Dame, die notgedrungen ein Stück zurückgewichen war. »Aber Ihr resolutes Auftreten hat meinen Freund wohl ein wenig aus der Fassung gebracht. Warum gehen wir nicht gemeinsam ein paar Schritte durch das Foyer?«
Widerwillig nahm die auffällig gekleidete Dame Carrières angebotenen Arm und folgte ihm, ohne Adam jedoch aus den Augen zu lassen. Gekonnt schürzte sie die Lippen. »Als ob es mir jemals gelungen wäre, Charles aus der Fassung zu bringen.«
Mittlerweile hatte sich eine ältere Dame in dunkler, hochgeschlossener Kleidung zu ihnen gesellt, bei der es sich um eine Gesellschafterin zu handeln schien. Sie war alles andere als erfreut über Adams Anblick: Ihre Lippen waren zu einer farblosen Linie zusammengepresst, der Kiefer so angespannt, dass sich Einhöhlungen unter ihre Wangenknochen gruben. Obwohl es sie sichtlich Kraft kostete, zwang sie sich zu einem Lächeln.
»So eine Überraschung«, sagte sie mit einem starken Akzent, der ihr Französisch nur schwer verständlich machte. »Wir wähnten Sie auf dem Weg nach Konstantinopel, Charles.«
»Ah! Sie sind also unserem Charles begegnet«, mischte Carrière sich ein, wobei er tapfer die Rolle des amüsierten Gentlemans aufrechterhielt. »Wir haben eigentlich gehofft, ihn persönlich anzutreffen. Leider haben wir gestern erst in Erfahrung bringen können, dass Charles in diesem Hotel abgestiegen ist. Aber das Einzige, was noch von ihm da ist, ist sein Koffer. Gestatten Sie, dass ich uns vorstelle? Mein Name ist Etienne Carrière und an meiner Seite, immer noch etwas sprachlos, ist mein Neffe Adam, Charles Zwillingsbruder, wie Sie sicherlich bemerkt haben werden.«
Die junge Dame warf den Kopf in den Nacken und brach in schallendes Gelächter aus. Einen Moment lang sah es so aus, als würde ihre Gesellschafterin sich aus lauter Verzweiflung über diese Szene einfach umdrehen und gehen, aber dann atmete sie tief ein und sagte: »Ja, was für ein Zufall. Wenn Sie uns nun entschuldigen würden? Antonia und ich wollten gerade zu einem Spaziergang aufbrechen, ehe wir zum Essen erwartet werden.« Entschlossen nahm sie den Arm der jungen Frau, doch die schenkte ihr nicht die geringste Beachtung.
»Du bist ein grausamer Mann, Charles«, sagte sie in einem akzentdurchsetzten Italienisch, das Adam jedoch vor keinerlei Probleme stellte. »Das ist doch wieder nur eins von deinen Spielchen. Auch wenn ich es eine Zeit lang aufregend fand, mich von dir verwirren und vor immer neue Rätsel stellen zu lassen, so bin ich es inzwischen müde. Dir ist es vielleicht nicht bewusst, aber Paris ist voll mit hübschen Messieurs, einer ausgefallener als der andere. Kein Vergleich zu Lucca, wo ich dankbar für jedes bisschen Unterhaltung war. Hier braucht es schon ein wenig mehr als dieses Schmierentheater, um meine Aufmerksamkeit zurückzugewinnen.«
Adam musterte sie und ignorierte dabei sowohl das nervöse Hüsteln der älteren Dame als auch die neugierigen Blicke, mit denen sie mittlerweile ungeniert bedacht wurden. Im Gegensatz zu ihren Worten deutete jede Geste von der jungen Frau, die anscheinend Antonia hieß, darauf hin, dass sie keineswegs etwas dagegen hatte, sich auf ein Spiel mit ihm einzulassen. Vielmehr lechzte sie geradezu danach. Und da sie sein altes Ich zweifelsohne kennengelernt hatte, würde er ihr geben, was sie wollte. Das war vielleicht seine einzige Chance, etwas über den Mann herauszufinden, der er einmal gewesen war.
»Sie haben Charles also in Lucca kennengelernt, in der Toskana«, sagte er mit einer ruhigen Stimme, die nichts über seine innere Anspannung verriet. Er fühlte sich wie ein Jagdhund, der sich nicht einmal von einem tosenden Unwetter von seiner Fährte abbringen ließe. »Antonia ... Wenn ich mich richtig erinnere, wird der Name Antonia im Russischen mit Toska abgekürzt. Wie passend.«
Die junge Frau legte den Kopf schief, als habe seine Stimme etwas in ihr wachgerufen. Fast rechnete er damit, sie würde vor ihn treten und ihm ihren Mund zum Kuss hinhalten. Aber sie stand nur da und hörte in sich hinein, schien in einer geliebten Erinnerung gefangen zu sein. Allem Anschein nach hatte er sie bei ihrem richtigen Namen genannt.
Adam nutzte die Gelegenheit, sie sich genauer anzusehen. Sie war wirklich ein entzückendes Wesen, mit einem spitz zulaufenden Gesicht, das von tiefbraunen Augen dominiert wurde. Obwohl sie von zierlicher Gestalt war und das eng geschnürte Korsett sie in der Mitte fast durchzubrechen drohte, wirkte sie alles andere als fragil. Vielleicht lag es an dem üppigen Busen, der sich selbst unter dem pelzbesetzten Mantel abzeichnete, oder es war ihr opulenter Duft, der verriet, dass die Dame über mehr Lebenslust verfügte, als die gesellschaftliche Moral es ihr erlaubte.
Obwohl ihr Äußeres ihm durchaus gefiel, wie auch ihr in der Öffentlichkeit ausgesprochen unangemessenes Verhalten, weckte Toska keinerlei Neigung in ihm. Zwar hätte er eine Einladung in ihr Bett sicherlich nicht abgelehnt, aber nichts an ihr rief das Verlangen hervor, sie kennenzulernen und ihr nahe zu sein, während sein altes Ich zweifellos an mehr als ihrem Körper interessiert gewesen war. Eine Zeit lang zumindest, wenn er es richtig verstand.
»Fein«, sagte Toska schließlich. »Ich lasse mich auf dieses neue Spiel ein, zumindest bis zum Abendessen. Allerdings wirst du mich dafür in den Wintergarten zum Tee einladen, ich muss nämlich augenblicklich diesen Mantel ausziehen, bevor mir vor Hitze die Sinne schwinden. Unterdessen kann dein Onkel – oder was auch immer der Herr in Wirklichkeit sein mag – Raisa mit den Vorzügen von Paris bekanntmachen. Der Reiz dieser Stadt will sich ihr nämlich nicht erschließen. Sie hat so eine schreckliche Sehnsucht nach St. Petersburg.«
»Tosjenka, bist du vollkommen von Sinnen?«, fragte Raisa auf Russisch. Mittlerweile hatte sie es aufgegeben, den Anschein eines gewöhnlichen Beisammenstehens aufrechtzuerhalten. Ihre Schultern bebten, als sie erneut nach ihrem Schützling griff. Aber die junge Frau entzog sich ihr und schmiegte sich an Adams Seite.
Fast fühlte Adam sich versucht, Toska um eine Verabredung zu einem anderen Zeitpunkt zu bitten, nur damit Raisa nicht länger so gequält dreinblickte. Doch er konnte den Verdacht nicht abschütteln, die junge Russin nach diesem Treffen nie wieder zu Gesicht zu bekommen. Gegen Raisa mochte sie sich in dieser Situation durchsetzen können, aber später würde sie sich für ihr unmögliches Benehmen den Konsequenzen stellen müssen.
»Gegen eine Tasse Tee in einem angesehenen Salon ist doch sicherlich nichts einzuwenden«, erklärte Carrière, wobei er seinen Gehstock zwischen den behandschuhten Händen rieb und damit sein Unwohlsein verriet. »An Tee in Gesellschaft ist nichts Unschickliches zu erkennen«, fügte er kleinlaut hinzu, als Raisa resigniert den Kopf schüttelte und davonging.
»Vielen Dank für Ihre Unterstützung, mein Freund.« Adam deutete mit dem Kopf eine Verabschiedung an, ehe er Toska den Arm reichte, den sie nur allzu begierig nahm. »Wir sehen uns dann später in Ihrem Appartement.«
Carrière setzte seinen Zylinder auf und hob den Koffer auf, den Adam achtlos auf dem Boden abgestellt hatte. »Nein, mir ist jetzt nach einer Ablenkung zumute. Treffen Sie mich bei Rischka. Sie wird uns ohnehin erwarten, wie ich die Dame kenne. Ich hoffe wirklich, dass die Szene eben sich Ihrer Sache als nützlich erweisen wird. Die junge Dame hier wird zweifelsohne noch eine mächtige Strafpredigt für ein solches Benehmen über sich ergehen lassen müssen. Falls es denn bei einer Strafpredigt bleibt.« Dann wendete Carrière sich zum Gehen.
Adam blickte ihm noch einen Moment lang hinterher und empfand zum ersten Mal so etwas wie Freundschaft für diesen Mann. Vielleicht wäre es das Beste, die Vergangenheit ruhen zu lassen und sich stattdessen mit den Resten seiner Seele zu beschäftigen, die ihm geblieben waren. Geradeso, wie Carrière es tat. Aber wie kümmerlich mochten diese Reste sein, wenn sogar eine Frau, für die er einst etwas empfunden haben musste, nur ein körperliches Verlangen in ihm erzeugte? So, wie die Dinge lagen, war Toskas Erinnerung an den Mann, den sie Charles nannte, alles, was ihm blieb.
Mit einem einladenden Lächeln, das sogleich erwidert wurde, führte er die junge Dame in den Wintergarten des Grand Hôtels, fest entschlossen, von dieser Fährte nicht abzulassen, bis er sein Ziel erreicht hatte.