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9 Spurenlese

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Die helle Fassade mit dem Halbrundfenster des Gare de lʼEst verschwand hinter einem dichten Regenvorhang, so dass die beiden Männer keine Zeit verschwendeten und durch den Säulengang hastig ins Innere des Kopfbahnhofs liefen. Für einen Augenblick verlor Adam in der Menschenmenge die Übersicht, weil zu viele Eindrücke auf ihn einströmten. Es würde wohl noch eine ganze Weile dauern, bis er seine empfindlichen Sinne nicht nur bewusst einsetzen, sondern auch ausblenden konnte. Als er ins Schwanken geriet, bohrte Carrière ihm kurzerhand den Griff seines Gehstocks zwischen die Rippen und zeigte auf die abseits des Trubels liegende Gepäckaufbewahrung.

Während eine Dame, die in der Reihe vor ihnen stand, zwei wuchtige Reisekoffer auslöste, legte sich eine eiserne Kralle um Adams Brustkorb und drückte langsam zu. Sein Atem wurde flach und schnell, und er wischte sich über die Stirn, obwohl er nicht schwitzte.

Carrière unterdrückte ein Schmunzeln. »Haben Sie etwa Angst vor dem, was Sie gleich in den Händen halten könnten?«

»Keineswegs«, log Adam.

Als er jedoch an der Reihe war und dem Mann hinter dem Tresen seine Quittung hinhielt, glaubte er, die Finger nicht von dem Stück Papier lösen zu können. Der mächtige Schnauzbart des Angestellten zitterte bereits ungeduldig, bevor Adam tatsächlich von dem Papier abließ.

»Na bitte. Ist doch gar nicht so schwer, Monsieur«, murmelte der Mann und verschwand in dem Aufbewahrungsraum.

Unruhig trommelte Adam auf dem abgegriffenen Holztresen, bis Carrière eine Hand auf seine Finger legte.

»Schonen Sie bitte meine Nerven«, bat sein Begleiter ihn.

Adam verdrehte die Augen, dann reckte er sich, um einen Blick in den Raum werfen zu können, was ihm jedoch nicht gelang. Schließlich konnte er nicht mehr an sich halten: »Was dauert das so verflucht lange?«

»Vielleicht haben Sie einen Elefanten zur Aufbewahrung gegeben und der Weg zu den Ställen dauert halt«, erwiderte Carrière trocken.

Bevor Adam zu einer geeigneten Antwort ansetzen konnte, kehrte der schnauzbärtige Mann mit einem handlichen Reisekoffer zurück. Ungläubig blickte Adam auf dieses mit dunklem Leder bezogene Gepäckstück, bis er fast über sich selbst gelacht hätte. Was hatte er um Himmels willen erwartet, ein Buch über seine Lebensgeschichte oder seine Großmutter, die ihm alles Wissenswerte über ihn erzählen könnte?

Während Adam den Koffer in Empfang nahm, beglich Carrière die Rechnung und legte ein großzügiges Trinkgeld drauf. Wohl in der Hoffnung, der Angestellte möge endlich aufhören, Adam so neugierig anzustarren.

Adam strich gedankenversunken über das Leder und flüsterte: »Ich habe diesen Koffer noch nie gesehen, aber er riecht ganz eindeutig nach mir.«

Beherzt hakte Carrière sich bei Adam ein und führte ihn in einen ruhigen Wartesaal, der unangenehm muffig nach feuchter Kleidung und Langeweile roch. Ein altes Ehepaar wurde von seinen Kindern hineinbugsiert, bis man alles geregelt habe. Ein Mann mit einem abgewetzten Koffer verbarg sich hinter einer Zeitung, und eine Frau mit einem Kleinkind an der Hand kam nur kurz herein, denn kaum begann das Kind zu greinen, floh sie wieder.

Adam sah sich mit einem entrüsteten Blick um. »Hier soll ich den Koffer öffnen?«

»Was spricht gegen den Wartesaal? Oder vermuten Sie, einen abgetrennten Frauenkopf in dem Koffer aufbewahrt zu haben?«, hielt Carrière amüsiert dagegen.

»Eine etwas intimere Umgebung wäre mir einfach angenehmer.«

»Gewiss wäre es das, aber ich bezweifele, dass Ihre angespannten Nerven eine weitere Kutschfahrt aushalten würden. Also zieren Sie sich nicht wie eine Jungfrau, sondern öffnen Sie endlich den Koffer.«

Für einen Moment froren Adam sämtliche Gesichtsmuskeln ein, während er sich vorstellte, zwei Dinge gleichzeitig zu tun: Carrière für seine Unverschämtheit aus vollen Lungen anzuschreien und panisch den Wartesaal ohne den Koffer zu verlassen. Dann riss er sich zusammen, legte sich das Gepäckstück auf die Knie und ließ die Schließen aufspringen.

Nichts von dem, was er sah, war ungewöhnlich, und genau das verwirrte Adam. Er sah sauber zusammengelegte Herrenkleidung von der gleichen italienischen Schneiderei wie die, die er bei seiner Begegnung mit dem Dämon getragen hatte, und einen Kulturbeutel mit einer bekannten Pariser Seife, wie Carrière sofort anmerkte, und deren schwerer Geruch Adam die Nase verklebte. Nichts wies auf den Mann hin, der er einmal gewesen war. Enttäuscht wollte er schon aufgeben, als er zwischen zwei Hemden einen Umschlag ertastete. Mit steifen Fingern holte er einen Pass und ein Zugticket hervor. Vor lauter Anspannung biss er sich auf die Unterlippe und schmeckte im nächsten Moment sein eigenes Blut. Geradezu betörend streichelte es über seinen Gaumen.

Herzlichen Dank, machte sich der Dämon über ihn lustig.

Adam würgte.

»Lassen Sie mich das einmal machen«, bot Carrière leise an, dem älteren Ehepaar, das besorgt zu ihnen herüberblickte, beruhigend zulächelnd. »Hier haben wir also einen italienischen Pass, ausgestellt auf einen Remo Galgani. Fühlen Sie sich wie ein Remo Galgani? Nein?«

Mehr als einen wütenden Blick brachte Adam nicht zustande, während er noch gegen seinen Ekel ankämpfte.

»Wundert mich nicht«, fuhr Carrière ungerührt fort. »Dem jungen Herrn hier sehen Sie nämlich nur auf den ersten Blick ähnlich, auch wenn die Fotografie äußerst verwischt ist. Man könnte fast von Absicht sprechen. Das ändert jedoch nichts daran, dass der Unterschied auffällt: Ihre Augen sind einfach unvergleichlich. Nun gut, neben einem falschen Ausweis habe ich hier noch eine Geburtsurkunde, ausgestellt auf einen Charles Penrose, geboren 1869 in Hampshire, England. Klingt das vertraut? Auch nicht? Zumindest einer Sache können wir uns gewiss sein: Remo oder Charles hatte ein Zugticket nach Konstantinopel erworben. Eine Fahrt mit dem luxuriösen Orientexpress, die über Budapest, Belgrad und Sofia geht – alles Orte, an denen man unbedingt einmal gewesen sein muss. Leider war die Abfahrt auf vor zwei Tagen datiert. Ein Jammer um die verpasste Chance.«

»Ich wollte nach Konstantinopel reisen, mit einem falschen Pass?«

Adams Stimme zitterte leicht, was er der allmählich weichenden Übelkeit zuschrieb. Er warf nur einen hastigen Blick auf Remo Galganis Pass, der neben seiner eigenen auch eine verräterische fremde Note trug, womit Carrières Vermutung bestätigt war. Diesen Pass hatte lange Zeit ein anderer mit sich geführt. Dann nahm er die Geburtsurkunde in die Hand und wog sie, als könne ihr Gewicht etwas über sie aussagen.

»Und einer Geburtsurkunde, die eindeutig einem anderen gehört«, ergänzte Carrière eifrig. Als er Adams verstörten Gesichtsausdruck bemerkte, fügte er schnell an: »Selbst wenn eine englische Herkunft zumindest Ihre Sommersprossen und Ihr schlechtes Benehmen erklären würden, gehört Sie Ihnen nicht. Bedenken Sie das Geburtsdatum: 1869. Sie sind zwar noch ein junger Bursche, mein Bester. Aber gerade einmal zwanzig Jahre alt? Da habe ich so meine Zweifel.«

Adam dachte kurz darüber nach, dann sagte er mit deutlichem Widerwillen: »Die habe ich auch. Über fünfundzwanzig Jahre könnte man vielleicht noch verhandeln, aber zwanzig reichen definitiv nicht aus. Schade, Charles ist kein schlechter Name.« Das Geräusch, das ihm über die Lippen kam, sollte ein Lachen sein, klang aber nur verzweifelt. »Eine Sackgasse, zum Teufel noch einmal.«

»Nicht unbedingt.« Etienne schloss den Koffer und deutete auf einen roten, quadratischen Aufkleber, der am Lederdeckel haftete. »Allem Anschein nach waren Sie im Grand Hôtel abgestiegen – eine hübsche Adresse, wenn Sie mir diese Untertreibung erlauben. ›Mit den prachtvollen Läden, den von Licht und Gold funkelnden Schaufenstern, in denen sich alle Eleganz, aller unverzichtbare Überfluss des modernen Lebens anhäuft, ist dies der klassische Spazierweg der Müßiggänger und Ausländer. Das Grand Hôtel ist eine eigene Welt. Der großzügige, prunkvolle Zufluchtsort der Reisenden‹, wie de Saulnat es so einzigartig auf den Punkt gebracht hat. Wer auch immer Sie einmal gewesen sind, Sie wussten um die schönen Seiten des Lebens. Nun blicken Sie nicht gleich wieder so finster drein. Wir machen jetzt einen Spaziergang ins Amerikanische Viertel, in dem das Hotel liegt. Vielleicht erinnert sich jemand an Sie.«

»Einer mageren Spur folgen wir da.« Adam ließ mutlos die Schultern hängen. Die Vorstellung, wie sein altes Ich sich Luxus und Vergnügungen hingab, stimmte ihn keineswegs froh, sondern war ihm so fremd wie dieses beschämend gut geschnittene Gesicht im Spiegel. »Was wird mir der Herr an der Rezeption schon über mich erzählen können? Nach welchen Bars ich mich erkundigt habe und wann ich mich für gewöhnlich am späten Vormittag wecken ließ?«

Carrière blähte die Nasenflügel auf, während er aufstand. »Was sind Sie plötzlich nur so mutlos? Eine Spur beurteilt man erst dann, wenn man ihr gefolgt ist. Außerdem sollten Sie die Neugierde Ihrer Mitmenschen niemals unterschätzen. Ein junger, schöner Mann in einer der besten Adressen der Stadt. Glauben Sie mir, so etwas fällt auf.« Da Adam sich immer noch nicht durchringen konnte aufzustehen, sagte Carrière aufmunternd: »Und falls es doch ein Schlag ins Wasser werden sollte, suchen wir uns ein Plätzchen im Café de la Paix. Ein hervorragender Ort, wenn man die Zeit totschlagen will.«

»Das klingt ungefähr so verführerisch wie ein Schluck Champagner, seit dieser Dämon in mir haust.«

Carrières schmale Augenbrauen zogen sich zusammen. »Man könnte fast meinen, Sie haben das Interesse daran verloren, der eigenen Geschichte auf den Grund zu gehen.«

Adam zögerte. »Sagen wir es so: Was ist, wenn ich herausfinde, dass es nichts zu verlieren gegeben hat? Nur einen Mann, der vor sich selbst davonläuft.«

Schlagartig wurde Carrières Gesicht ernst. »Natürlich gab es etwas zu verlieren, mein Freund. Warum sonst wäre es Ihnen wohl gelungen, den wichtigsten Teil Ihres Wesens vor dem Zugriff des Dämons zu verbergen? Wer immer Sie waren, Sie waren wertvoll.«

Auch wenn Carrière es sicherlich nicht so meinte, entging Adam keineswegs, dass er in der Vergangenheitsform sprach. Er war wertvoll gewesen, als Mensch – nur wie sah es jetzt aus? Mit einem Anflug von Gleichgültigkeit stand Adam auf, den Koffer in der Hand. Er hätte ihn auch zurücklassen können, es hätte keinen Unterschied für ihn gemacht. Einen Schritt zurückfallend, folgte er Carrière zum Ausgang.

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