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4 Tempelopfer

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Nachdem sich die Halswunde geschlossen und Adam sich abermals gereinigt und angezogen hatte, war er Etienne Carrière im verschwenderisch breit angelegten Flur begegnet. Hier reihten sich Regale an Regale, alle bestückt mit aufwendig in Leder gebundenen Büchern. Die Professur in Literatur war allem Anschein nach eine wahre Berufung.

Carrière, mit Mantel und Zylinder, rückte seinen bereits perfekt sitzenden Kragen zurecht. »Ich sehe nun ein, dass es ein Fehler war, Sie nicht umgehend über Ihren Zustand aufzuklären, da er Ihnen doch zweifelfrei so viele Rätsel aufgibt. Ich werde mich aufrichtig bemühen, Ihnen zu helfen – aber eine leicht zu bewältigende Aufgabe wird es wohl nicht. Ihr psychisch labiler Zustand und die Rede von einer Stimme, die zu Ihnen spricht, verheißen nichts Gutes.«

Mit der behandschuhten Hand deutete Carrière auf seinen Hausdiener Henri, der noch zierlicher war als sein Herr und fast unter dem Mantel begraben wurde, den er für Adam bereithielt.

»Ein Cafébesuch wird genau das Richtige für unsere strapazierten Nerven sein«, verkündete Carrière strahlend, als würde allein die Vorstellung ihm schon das Herz erwärmen.

Zuerst wollte Adam protestieren, weil ihm jede weitere Zeitverzögerung zuwider war. Dann nahm er jedoch den Geruch seiner alten Kleider wahr, die noch irgendwo in dem Appartement ihrer Reinigung – oder wenn es nach ihm ging: Verbrennung – harrten. Plötzlich klang ein Cafébesuch sehr verführerisch. Vielleicht wäre das ja eine Art Neuanfang.

In der Nähe von Carrières Appartement, das sich in einem eleganten Wohnhaus befand, lag die Place Pigalle. Dort reihte sich ein Café an das andere, alle erstaunlich gut besucht. Zielstrebig steuerte Carrière auf ein besonders trubeliges Lokal zu. Mit seiner Kirschholzvertäfelung und dem mit Messing beschlagenen Tresen strahlte es Gemütlichkeit aus, genau wie die mit Samt bezogenen Sitzbänke und die von Tabakrauch durchsetzte Luft, die träge unzählige Gesprächsfetzen einhüllte. Allerdings übertrug sich diese Gemütlichkeit keineswegs auf die Gäste, die einander lärmend begrüßten und auch ansonsten unentwegt in Bewegung waren. In jeder Ecke schien jemand mit einer Zeitung zu rascheln, Schachfiguren niederzuknallen oder seinen Mantel auf einen der wenigen freien Stühle zu werfen. Trotz der herrschenden Enge gelang es Carrière, einen Holztisch in einer ruhigen Ecke zu ergattern.

»Die Leute in Paris, besonders in der Nähe der Sorbonne, verschwenden keine Zeit mit dem Frühstück, nur ein Café noir und ein Croissant auf die Schnelle. Selbst die Studenten und Künstler sind in Eile, wenn auch nur auf der Suche nach einem noch interessanteren Gesprächspartner. Ständige Bewegung entspricht dem modernen Zeitgeist. Hier können wir uns also in Ruhe unterhalten, die Gesellschaft um uns herum wird abgelenkt sein und außerdem die Fensterplätze bevorzugen, um nur nichts zu verpassen.«

Adam nickte zustimmend und bestellte beim Kellner einen Café noir – genau wie Carrière. Und genau wie dieser verzichtete er auf ein Gebäck, obwohl der Kellner sich dazu herabließ, darauf hinzuweisen, dass das Haus seine Waren von einer hervorragenden Konditorei bezog.

Allein die Vorstellung, in etwas hineinzubeißen, das kalt und leblos war, erzeugte bei Adam sofortige Übelkeit. Kalt und leblos, wiederholte er schockiert. Welcher gesunde Geist brachte solche Worte mit einem Croissant in Zusammenhang? Aber er verspürte keinerlei Hunger, obgleich er schon seit mindestens einem Tag nichts mehr gegessen hatte. Da war nur ein Verlangen nach etwas Bestimmtem, etwas, das auch nicht für seinen leeren Magen bestimmt war, sondern ... Der Café noir wurde serviert, und Adam nippte kurz daran. So gut wie das Getränk roch, so scheußlich schmeckte es. Als würde er Teer trinken.

Auch Carrière verzog das Gesicht. »Widerlich, ich weiß. Aber Sie werden den Kaffee tapfer wie ein Mann herunterstürzen müssen, ansonsten beleidigen Sie den Kellner, und wir werden vielleicht noch im hohen Bogen hinausgeworfen.«

»Das Zeug ist ungenießbar«, protestierte Adam.

»Lassen Sie mich Ihnen versichern, dass nur unsere Geschmacksnerven das so wahrnehmen. Und wir wollen doch keine unnötige Aufmerksamkeit erregen, oder?«

Mit einer genuschelten Verwünschung trank Adam seinen Café noir aus und stellte die Tasse dann hastig auf die Untertasse zurück.

Carrière beobachtete ihn mit unverfälschter Neugier. »Ihr Französisch ist wirklich interessant. Vollkommen akzentfrei und fehlerlos.« Als Adam fragend die Augenbrauen hob, lächelte Carrière. »Kein Mensch spricht so. Weder jemand, dessen Muttersprache Französisch ist – so jemand hat immer eine gewisse Färbung oder weist zumindest ein paar Eigenarten auf. Noch jemand, der die Sprache erlernt hat, nicht dermaßen rein, denn die eigentliche Muttersprache würde ihre Spuren hinterlassen.« Das Lächeln verflüchtigte sich, als Carrière sein Kinn massierte und dabei ein Brummen hören ließ. »Lassen Sie uns damit beginnen, wie der Dämon seinen Tempel, also Ihren Körper, in Besitz genommen hat.«

Adams Gesicht verlor an Farbe. »Warum, zum Teufel, reden Sie von einem Dämon in einem Tempel? Wollen Sie sich über mich lustig machen?«

»Keineswegs. Ich beschreibe nur, was Ihnen widerfahren ist. Aber wenn Ihnen eine andere Umschreibung lieber ist: Etwas, meinetwegen eine fremde Macht, ist in Ihren Körper eingedrungen und hat ihn seinem Willen unterworfen. Dabei ist es dieser Macht allerdings nicht gelungen, auch Ihrer Persönlichkeit Sklavenringe anzulegen – was ich überaus interessant finde.« Obwohl seine Worte vollkommen abstrus klangen, machte Carrière einen ernsten Eindruck. Auf seinen hageren Zügen lag sogar ein Hauch von Respekt. »Nun schauen Sie doch nicht so drein, ich will Sie nicht verwirren. Erzählen Sie mir bitte zuerst Ihre Geschichte, vielleicht macht es das leichter.«

Adam lehnte sich im Stuhl zurück, während seine Finger wie von selbst nach einem Silberlöffel griffen und mit ihm herumzuspielen begannen. »Ich bin in der vorletzten Morgendämmerung in einer Gasse zu mir gekommen, das Hemd voller Blut, aber ohne eine einzige Verletzung am Leib. Allerdings auch ohne jegliche Erinnerung, weder an das, was geschehen ist, noch an den Mann, der ich zuvor gewesen bin.«

»Aber Sie sagten mir doch Ihren Namen: Adam.«

»Ja, das ist mein Name, auch wenn die Stimme behauptet, sie hätte ihn mir gegeben.«

Carrière nickte langsam. »Sie erwähnten diese Stimme bereits. Ihre Existenz gibt mir, ehrlich gesagt, ein Rätsel auf. Ein Wispern oder ein fernes Rauschen, davon habe ich gehört. Ich kenne jedoch keinen von uns, dessen Dämon mit einer eigenen Stimme redet. Aber darum werden wir uns später kümmern. Nun möchte ich Ihnen zunächst einmal nahebringen, was Ihnen in der Gasse zugestoßen ist – zumindest so, wie ich es mir erklären kann. Jemand hat Sie in dieser riesigen Stadt aufgespürt und in Ihnen besondere Eigenschaften erkannt. Ich vermute, dass das Triumphgefühl für unseren unbekannten Freund spektakulär gewesen ist und deshalb keine Zeit für Erklärungen blieb. Sie wurden überwältigt, Adam. Aber nicht auf die Weise, die Ihnen vorschwebt. Kein Überfall und auch kein Kampf. Sie haben nach dem Erwachen nur fremdes Blut und keine Wunde an Ihrem Körper ausmachen können, weil Ihnen keine einzige Wunde zugefügt worden ist. Wer auch immer mit Ihnen in dieser Gasse gewesen ist ...«

»Es war ein Mann. Ich habe sein Einstecktuch gefunden. Es war eindeutig ein Mann, der mich überfallen hat.«

Carrières Mund verzog sich kurz. »Nun ja, überfallen ist, um es noch einmal zu betonen, nicht der richtige Ausdruck. Ihnen wurde eher ein Geschenk gemacht, angefangen mit einem Kuss.«

Adam stand mit solchem Schwung auf, dass der Stuhl beinahe nach hinten umkippte. Am liebsten hätte er Carrière am Revers gepackt und den zierlichen Mann durchgeschüttelt. Was fiel ihm ein, ihn in seiner Misslage zu verspotten!

Da durchzuckte ihn ein Schmerz, der von seiner Wirbelsäule Stromstöße bis zu seinen Zehen hinabjagte. Augenblicklich sank er auf den Stuhl zurück.

Was bist du nur für ein elender Sturkopf, zischte die Stimme ihn an. Du wirst jetzt zuhören, oder ich werde dafür sorgen, dass deine Nervenbahnen zu brennen anfangen. Dein Körper ist zwar unzerstörbar, aber das bedeutet noch lange nicht, dass ich ihm keine Schmerzen zufügen kann. Hast du mich verstanden?

»Ja«, flüsterte Adam.

Während er sich den kalten Schweiß von der Stirn wischte, blickte Carrière ihn erstaunt an. »Was ist passiert? Sie sahen eben so aus, als habe man Sie ...«, setzte er an, doch Adam bedeutete ihm mit der Hand, fortzufahren.

Zunächst zögerte Carrière, dann räusperte er sich. »Vielleicht sollten wir über den Kuss des Dämons ein anderes Mal reden, wenn Ihnen diese Vorstellung im Moment noch zu sehr zu schaffen macht.« Mit dem Finger fuhr er unter seinen Kragen und lockerte ihn. Offensichtlich fiel es ihm nach dem Zwischenfall schwer, den Faden wieder aufzunehmen. Bald jedoch redete er so leicht dahin, als hielte er seinen Lieblingsvortrag.

»Nun gut. Auch wenn es eine wohl verborgene Wahrheit ist, Dämonen existieren und sie wandeln unter uns. Nicht in einer eigenen Gestalt, das bleibt ihnen verwehrt. Aber sie erwählen Menschen, deren Körper dafür geeignet sind, sie zu beherbergen. Ich sage bewusst Körper, denn auf unseren Geist, also das, was unsere Persönlichkeit ausmacht, legt der Dämon wenig Wert. Wenn es ihm möglich ist, verdrängt er unseren Geist. Mit den Überbleibseln verschmilzt er so sehr, dass kaum noch gesagt werden kann, welcher Anteil Mensch ist und welcher Dämon. Das ist auch überflüssig, denn in der Regel sind wir willige Diener. Nur auf Sie scheint das nicht zuzutreffen.«

Als Carrière innehielt, um diese Botschaft wirken zu lassen, schloss Adam die Augen und hörte in sich hinein. Sein Gegenüber hatte Recht: Er war versklavt worden, auch wenn die Stimme gerade schwieg. Er wusste es einfach, hatte es vom ersten Moment an gewusst, als er zu sich gekommen war. Er war ein Sklave, der nicht länger Herr über seinen Willen und seinen Körper war. Adam wusste allerdings noch etwas anderes: Er würde niemals ein ergebener Sklave sein, nicht, solange noch ein Rest von ihm existierte.

»Wie kann nur irgendjemand diesen Zustand freiwillig ertragen?«, fragte er mit rauer, kaum hörbarer Stimme.

»Aber, aber, mein Guter. Sie ziehen voreilige Schlüsse.« Carrière streckte die Hand aus, als wolle er ihm aufmunternd die Schulter tätscheln, besann sich im letzten Augenblick eines Besseren und strich sich stattdessen das Haar aus der hohen Stirn. »Im Moment sehen Sie nur die dunkle Seite unseres Daseins. Als ich den Dämon empfangen habe, war ich wochenlang euphorisch, obwohl er auch meine Menschlichkeit nicht gänzlich ausgeräumt hat. Unsterblichkeit, unberührbar für Krankheiten und Alter. Fast ein wenig gottgleich. Lassen Sie mich den Dämon also erst etwas ausführlicher beschreiben, ehe Sie Ihr Urteil fällen. Der Dämon ist nicht nur unser Beherrscher, er ist auch ein Geschenk, das nur wenige Sterbliche annehmen können. Denn die meisten Körper sind zu schwach, um den Einzug des Dämons zu überstehen. Sie werden von der Wucht des Eindringlings zerrissen, verbrennen, wenn er ihren Leib mit Feuer von der Sterblichkeit reinwäscht, zerfallen, bevor er sie gegen jeden Schaden immun macht. Doch wenn die Vereinigung funktioniert, büßen Sie nur ein Stück Ihrer Menschlichkeit ein und erhalten dafür Unsterblichkeit – nun sagen Sie mir noch einmal, dass das ein schlechter Handel ist.«

»Der Handel klingt zu gut, um wahr zu sein – einmal davon abgesehen, dass der Dämon mir nicht meine Menschlichkeit, sondern meine gesamte Vergangenheit geraubt hat.« Adam ließ seine Fingergelenke knacken, während er nachdachte. Schließlich richtete er sich auf dem Stuhl auf und nahm Carrière ins Visier. »Wo ist der Haken?«, fragte Adam, während sich eine Eiseskälte in ihm ausbreitete.

»Den haben Sie also noch nicht entdeckt, trotz des Zustands, in dem ich Sie gestern aufgefunden habe – blutbeschmiert. Hören Sie es denn nicht, diese diffuse Einflüsterung, das Sehnen und Zerren, dort, wo früher Ihre Seele gehaust hat? Es ist der Kern des Dämons, der uns die Menschen zu Fremden macht. Wir sind nicht länger ihresgleichen, auch wenn wir unerkannt unter ihnen leben.«

Unter Carrières Wangenknochen gruben sich tiefe Schatten ein. Mit der Hand deutete er auf das lebhafte Publikum des Cafés, als beobachte er nur ein Theaterstück und nicht das lebendige Treiben von Menschen.

Zum ersten Mal erkannte Adam, warum Carrière von einer Verwandtschaft zwischen ihnen beiden gesprochen hatte: Sie waren vom selben Stamm, ein Fremdkörper inmitten dieses Bienenschwarms. Ohne ersichtlichen Grund umkreisten die Gäste ihren Tisch, doch keiner verweilte oder setzte sich gar an einen der Nachbartische. Sie hielten Abstand und würden ihn beibehalten, bis sie aufgefordert wurden, heranzutreten. Eine unsichtbare Barriere, die die Gäste vermutlich mit einem Lächeln auf dem Gesicht durchschritten hätten, sobald es ihnen erlaubt wurde.

»Sie spüren es ebenfalls, nicht wahr?«, sagte Carrière in einem verschwörerischen Ton. »Auch ohne dass es Ihnen jemand erklärt hat, denn es liegt in Ihrer Natur. Wir können sie zu uns rufen. Es ist Teil des Geschenks, allerdings ist es nicht ohne Hintergedanken.«

Adam nickte widerwillig. »Der Dämon, er erwartet einen Ausgleich für sein Geschenk. Er fordert ihn unablässig, wie ein nicht enden wollendes Wispern in jeder Ecke und jedem Winkel meines Seins.«

»Ja, so ist es. Dieses Wispern höre auch ich. Allerdings wäre es ehrlicher, von einem Opfer zu reden als von einem Ausgleich.«Bei dem Wort Opfer stieß Adam ein angewidertes Geräusch aus, aber Carrière nahm darauf keinerlei Rücksicht. »Natürlich kann man über diese verlangte Opfergabe streiten, dazu bin ich durchaus bereit. Aber das ändert nichts an der Wahrheit: Der Dämon ist unsere Gottheit, und wir sind Tempel und Diener, einzig und allein dazu bestimmt, ihm zu opfern.«

»Menschenleben zu opfern«, raunte Adam, die Hände so fest in die Tischplatte gekrallt, dass ein leises Knarren zu hören war. Vor seinem geistigen Auge tauchte der schlagende Puls der jungen Frau in der Rue Mouffetard auf, ein Bild von einer überwältigenden Schönheit. Ein Bild, das in ihm das Verlangen hervorgerufen hatte, ihm die Lebenskraft zu rauben, es zu zerstören. Noch etwas anderes fiel ihm ein: die Erregung der Stimme, als sie ihn zu dem jungen Schläger Yves hinlocken wollte, damit er ihn für sie in Besitz nahm. Oder als der Dämon sich dem Anblick des Blutes hingab, das aus Adams geöffneter Schlagader hervorquoll. Der aufreizende und zugleich besänftigte Ton klang ihm immer noch in den Ohren.

»Es ist das Blut, mein Freund, nach dem der Dämon verlangt«, bestätigte Carrière seinen Verdacht. »Menschenblut, obwohl der Dämon auch gern das dazugehörige Leben nimmt. Er wird es Ihnen jedenfalls nicht übelnehmen, wenn das Lamm stirbt, das Sie zu seinen Ehren zur Ader lassen. Er liebt es, wenn seine Diener sich im Blutrausch verlieren.« Dabei klang er, als offenbarte er ein wunderbares und gleichzeitig schreckliches Geheimnis. Obwohl die Schatten in Carrières Gesicht immer tiefer geworden waren, leuchtete hinter seinen Brillengläsern ein gieriges Funkeln auf, das überhaupt nicht zu dem eleganten Herrn passen wollte.

»Der Dämon liebt es, aus dem reichlichen Fischschwarm der Menschen die schönsten Exemplare herauszusuchen. Er sieht verborgene Begabungen, interessante Lebensgeschichten oder schlicht äußere Schönheit. Einige lässt er nur ausbluten, um seine eigene Macht zu feiern, andere will er zu seinem Eigentum machen. Oft misslingt es, selten glückt es. In Ihrem Fall ist es geglückt, Adam. Sie können darüber zürnen oder dem Dämon Lobpreisungen singen, aber es lässt sich nicht rückgängig machen. Sie haben nicht nur Ihre Vergangenheit verloren, sondern auch den Anspruch darauf, sich einen Menschen nennen zu dürfen – exakt in dem Moment, als Sie vom Kelch des Dämons getrunken haben.«

»Es soll also meine eigene Entscheidung gewesen sein, ich soll mir das freiwillig angetan haben? Niemals!«

Obwohl Adams Reaktion so lautstark ausfiel, dass sich sämtliche Gäste zu ihnen umdrehten, wich Carrière ihm nicht aus. »Das Blut des Mannes, das Sie an sich gefunden haben – er war der Kelch. Stellen Sie sich endlich der Tatsache, alles andere ist doch sinnlos.«

Die Gewissheit, dass Carrière die Wahrheit sprach, raubte Adam fast den Verstand. Bei jeder einzelnen Bewegung bemüht, nicht die Beherrschung zu verlieren, erhob er sich.

»Ich muss hier raus.«

»Nur um sich zu bewegen? Verstehen Sie mich nicht falsch, aber Sie haben den Dämon seit Ihrer Verwandlung sehr gefordert, er wird schon bald sein Opf ... seinen Augleich verlangen.« Allein die Anspielung auf das Blutopfer ließ Adam zusammenfahren, woraufhin Carrière sich auf die Unterlippen biss. Behutsam streckte er den Arm nach ihm aus, doch Adam wich zurück. »Warten Sie, wir gehen gemeinsam. Ich möchte nicht, dass Sie einen Fehler begehen, weil Sie die Beherrschung verlieren. Vermutlich hätte ich unser Gespräch anders anfangen sollen, es tut mir leid.«

Adam beachtete Carrière gar nicht mehr. Während seine Gefühle bei der Vorstellung, zu welcher Art Monster er geworden war, zwischen Abscheu, Zorn und Verzweiflung schwankten, hatte sich das Wispern gesteigert, bis es einem vielstimmigen Chor glich, der in seiner Brust jubilierte. Es war die Stimme, die ihn geweckt hatte, die Stimme, die ihre Forderungen stellte und sich nach Blut sehnte. Die Stimme des Dämons.

Blut, sang der Dämon in einer Sprache, für die Adam keinen Namen kannte. Blut, Blut ...

Das Lied füllte Adam aus, übertönte seine eigenen Empfindungen und Gedanken. Immer mehr glich sich der Rhythmus seines Blutes dem Takt des Liedes an. Während Adam zusehends die Kontrolle verlor, übersteigerten sich seine Sinne; Farben und Konturen gleißten vor seinem Auge in unnatürlicher Brillanz auf, das leiseste Geräusch warf ein Echo, unzählige Gerüche strömten auf ihn ein und verwandelten sich in lockende Fährten. Als würde der erstarkte Dämon seine Sinne befeuern. Plötzlich war das Café voll mit potenziellen Opfern.

Ungläubig betrachtete Adam seine Hände, die trotz seines inneren Aufruhrs vollkommen ruhig auf der Stuhllehne lagen. »Ich suche Sie später in Ihrem Appartement auf, dann können wir dieses Gespräch fortsetzten. Aber jetzt entschuldigen Sie mich bitte.« Das konnte unmöglich seine Stimme sein, die so höflich und ausgeglichen klang.

»Bleiben Sie! In diesem Zustand werden Sie sich nur selbst ein Leid antun. Denn was auch immer Sie jetzt tun, es wird Teil Ihrer Vergangenheit sein. Es lässt sich nicht auslöschen«, rief Carrière ihm hinterher, hastig die Geldbörse hervorzerrend, um die Rechnung zu begleichen.

Obwohl sich ihm jedes einzelne Wort einbrannte, drehte Adam sich nicht einmal mehr um. Er wollte nur noch fort von diesem Wahnsinn, wollte, dass das Rauschen hinter seiner Stirn aufhörte und er endlich wieder einen klaren Gedanken fassen konnte. Er musste den Dämon zurückdrängen, sein Lied vom Blut zum Verstummen bringen, ehe er sich noch dabei ertappte, mit einzustimmen.

Blut, glänzend roter Fluss. Finde die Quelle für mich. Bring sie zum Fließen.

Auf der Straße legte Adam den Kopf in den Nacken und wartete darauf, dass sich Erleichterung einstellte. Die von der Sonne erwärmte Frühlingsluft umschmeichelte sein Gesicht. Darauf wollte er sich konzentrieren, eine schlichte, helle Empfindung. Wenn es ihr nicht gelang, den Dämon zu bannen, dann wusste er nicht weiter.

Allerdings führte die Luft, die Adam tief einatmete, etwas mit sich: weitere Fährten, die der Dämon wie Seidenfäden durch seine Hände gleiten ließ, bis er den richtigen gefunden hatte – das Opfer, das er einforderte. Er hatte es gefunden.

Meins, stellte er voller Überzeugung fest. Dann zog er an dem Faden, und die letzten Reste von Adams Widerstand zerfielen.

Adams Vorsätze waren wie fortgewischt. Noch einmal atmete er tief ein, um die Fährte richtig zu erfassen, dann fing er zu laufen an. Seine ganze Welt bestand mit einem Schlag nur noch aus dem Geruch einer Frau, die sich gerade von ihrem Liebhaber getrennt hatte. Adam glaubte, ihre erhitzte Haut auf seiner zu spüren, während das schwere Parfüm, das sie aufgetragen hatte, um die Duftspuren ihres Liebsten zu übertünchen, Übelkeit erzeugte. Dabei befand sich die junge Dame noch einige Straßen von ihm entfernt. Vor seinem inneren Auge sah er, wie sie ihren Aufzug kritisch in einem Schaufenster überprüfte und den Nichtsnutz von einem Liebhaber verfluchte, der sich nicht nur im Bett ungeschickt angestellt hatte, sondern obendrein unfähig gewesen war, ihr Korsett ordentlich zu schnüren.

Gleich würde er bei ihr sein.

Dabei kümmerte Adam nicht einmal die Frage, was er eigentlich zu tun gedachte, wenn er vor dem Ziel seiner Hatz stand. Für ihn existierte nur noch das Rauschen des Blutes in seinen Adern, das zu ihm sang. Die Jagd tilgte jeden Gedanken und jede Regung, die ihn von seinem Ziel abgebracht hätte. Als er sah, wie die Frau gerade in eine Kutsche einsteigen wollte, hielt er jedoch inne, nur zwei Schritte von ihr entfernt, die Hand schon nach ihr ausgestreckt. Eine Dame aus besserem Hause, wie ihre Aufmachung verriet.

Das rhythmische Brüllen und Pochen verstummte kurz, und er hörte sich selbst nach Luft schnappen. Was mache ich hier eigentlich?, fragte er sich.

Die Dame musterte ihn, zunächst empört über seine Aufdringlichkeit, dann mit einem plötzlichen Interesse, dessen Grund sich Adams überregten Sinnen offenbarte: Ihr gefiel, was sie sah. Ihr Mund, noch gerötet von den Erlebnissen in einem der Hinterhäuser, verzog sich zu einem einladenden Lächeln, für das Adam sie am liebsten scharf angefahren hätte. Stattdessen wich er zurück, um ...

Sie gehört mir! Ich will mein Opfer!

Die Worte waren mehr als ein Befehl – sie waren ein Gesetz, dem Adam sich beugen musste. Zumindest führte sein Körper den Befehl aus, während sein Geist von dem erneut aufbrandenden Rauschen fortgespült wurde.

Adam erwiderte das Lächeln und reichte der entzückt aussehenden Dame die Hand, um ihr beim Einsteigen behilflich zu sein. Danach stieg er ebenfalls in die Kutsche, wobei er den verlegen von einem Bein aufs andere tretenden Fahrer nur mit einem raschen Blick würdigte. Doch dieser reichte aus, um das Verhalten des Kutschers zu ändern: Während seine Miene einen verklärten Ausdruck annahm, straffte der Mann die Schultern. Dann saß er auf den Bock auf und trieb die Pferde an, darauf hoffend, dass der Herr etwas anderes wünschte als eine ziellose Rundfahrt.

Obgleich er es schon unzählige Male erlebt hatte, geriet er bei jedem ersten Mal in einem neu bezogenen Tempel stets in Verzückung. Als er die Schlagader am Hals, in Erwartung eines Kusses leicht gebeugt, aufriss, wurde er von einer unsäglichen Macht durchflutet, während sein Tempel eingeweiht wurde. Auch wenn der Lebensfluss, den er beanspruchte, nicht bis zu ihm durchdringen konnte, so nahm er ihn doch, weil es ihn so sehr verzückte. Das Blutopfer war das wunderbarste von allen, und er aalte sich darin, als wäre er tatsächlich am Leben.

Adam war ein Geschenk! Eins, das er sich im Kampf erstritten hatte.

Dabei hatte es zunächst danach ausgesehen, als würde er bei seinem Versuch, diesen Tempel in seinen Besitz zu nehmen, scheitern. Zu stark war der Widerstand gewesen, nicht etwa des Körpers, sondern des Geistes, der sich nicht zähmen lassen wollte. Der Teil von ihm, der dem Ganzen angehörte, hatte wild aufgejault und gefordert, den Tempel zu zerstören, aber er war ungehorsam gewesen. Dies war der perfekte Tempel für ihn, der einzige Tempel, der je existieren würde. Selbst wenn es bedeutete, auf ewig um seine Herrschaft kämpfen zu müssen – dazu war er bereit.

Und während die junge Dame kaum wusste, wie ihr im Dämmerlicht der Kutsche geschah, und vor Leidenschaft aufstöhnte, hatte er den Verdacht, dass es ihm durchaus gelingen konnte, diesen Kampf schneller als gedacht zu gewinnen. Er könnte Adams Widerwillen brechen, indem er sich dessen aufblühendes Talent zunutze machte: die Jagd.

Er würde Adam jagen lassen, bis er sich selbst verlor.

Nachtglanz

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