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1 Fremde Haut

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Die aufkommende Kühle kündigte den Abend an. Es lag noch ein Hauch von Winter über Paris. Der Frühling war zwar auf dem Vormarsch, wie die Triebe der Alleebäume bewiesen, aber die Nächte waren nichtsdestotrotz kalt.

Kein Wunder, schließlich ist es erst Mitte März, sagte Adam sich und schlug eine Ausgabe von Le Parisien auf, die jemand auf einer Parkbank zurückgelassen hatte. Dabei interessierte ihn vor allem eine Information, auf die vermutlich kaum ein anderer Leser geachtet hätte: das Datum. Mehr noch als der Wochentag fesselte ihn das Jahr, denn Adam hatte nicht die geringste Ahnung, in welchem Jahrzehnt er sich befand.

Laut der Zeitung war es das Jahr 1889 – für ihn war es nur eine Zahl.

Seitdem er am Morgen in dieser Gasse zu sich gekommen war, war er wie ein Gejagter durch die Straßen gelaufen. Erst mit der einbrechenden Dämmerung hatte er begonnen, sich Gedanken um seine Umgebung zu machen. Obwohl ihm Häuser und Plätze vertraut vorkamen, hätte er keineswegs sagen können, wo er sich befand. Er verstand zwar die Verwünschungen, die sich die Straßenjungen zuwarfen, genau wie ihm Kleidung und Umgangsformen bekannt waren. Trotz alledem hatte er nicht das Gefühl, dass irgendetwas davon mit ihm zu tun hatte. Als wäre er nur ein Zuschauer, der versehentlich auf die Bühne und zwischen die Darsteller geraten war.

Adam blieb gegen eine Hauswand gelehnt stehen und gab vor, sich in die Zeitung zu vertiefen. Dabei überflog er lediglich die Schlagzeilen, unter deren Themen er sich vage etwas vorstellen konnte. Politik, Wirtschaft ... Er wusste, worum es ging, ähnlich einem Reisenden, der bei einem Zwischenstopp eine Zeitung kauft und sich sagt »ja, ja, die Franzosen und dieser Georges Boulanger. Das kann doch nicht gutgehen.« Dass es unweigerlich dunkel zu werden drohte, interessierte Adam dann jedoch mehr. Denn er wusste weder, wer er war, noch, wo er die Nacht verbringen sollte. Der ganze Tag war nicht mehr als ein böser Traum gewesen, und es sah nicht danach aus, als ob er bald endete.

Mit einem Schaudern dachte Adam daran, wie er im Morgenrot aus der Gasse gestolpert war, das Lachen dieser bösartigen Stimme noch in den Ohren, sämtliche Sinne betäubt von dem Blutgeruch eines fremden Mannes. Augenblicklich war ihm, als wäre er wieder dort, so lebendig stand ihm die Erinnerung vor Augen.

Der Geruch des Blutes ... die fordernde Stimme in seinem Kopf ... beseelt von dem Entschluss, seinem Jagdinstinkt auf keinen Fall nachzugeben, ganz gleich, wie drängend er sein mochte. Niemand anders würde für ihn entscheiden, verflucht noch einmal! Er würde exakt den Weg einschlagen, der von der Fährte des Mannes, dessen Blut an ihm haftete, wegführte.

Kaum hatte er der Gasse den Rücken zugedreht, setzte jener schreckliche Schmerz erneut ein, als werde er für seine widerspenstige Entscheidung bestraft. Trotzdem hielt er nicht inne, sondern taumelte voran, immer weiter, die ihn anstarrenden Menschen ignorierend.

Erst als sein Körper leidlich zur Ruhe kam, blieb er stehen und fand sich auf einem Platz wieder, der eigentlich eher eine breite Straße war. Die umstehenden Häuser waren vier, manchmal sogar fünf Stockwerke hoch. Jede Stelle freien Mauerwerks war mit Schriftzügen bemalt, die auf die Läden verwiesen. »Vins & Liqueurs« las er im dunstigen Morgenlicht, »Pâtisserie« und noch mehr »Vin«. Während er die kunstvollen Schriftzüge und Plakate betrachtete, wurde ihm bewusst, dass er selbst Wein niemals »Vin« genannt hätte. Welche andere Sprache er bevorzugt hätte, welche vielleicht sogar seine Muttersprache war, fiel ihm jedoch nicht ein. In was für einer Sprache hatte eigentlich diese aufdringliche Stimme zu ihm gesprochen? Kein Französisch, wenn er sich richtig erinnerte.

Über dieses Geheimnis nachsinnend, schritt er aus, wurde aber sogleich am Kragen gepackt und zurückgerissen. Nicht eine Armlänge von ihm entfernt trabte ein schwarzer Kaltblüter vorbei, der ein schwer beladenes Gespann hinter sich herzog.

»Bist du selbst zu dieser frühen Stunde noch nicht ausgenüchtert, du Säufer? Oder schon wieder betrunken?«, brüllte der rotwangige Kutscher ihn an. In seinem Mundwinkel hing eine Pfeife, die aufgeregt auf und ab hüpfte. Dann war er schon an ihm vorbeigefahren.

»Sie sollten vorsichtiger sein, Monsieur. Die Rue Mouffetard ist gewiss nicht der richtige Ort zum Flanieren oder gar zum Tagträumen. Der Morgen ist eine geschäftige Zeit, und diese Lieferanten fahren wie die Teufel.« Der ältere Herr, der Adam so umsichtig zurückgerissen hatte, damit er nicht unter die Hufe des Kutschpferdes geriet, strich sich über seinen grau melierten Bart. »Vielleicht wäre es das Beste, wenn Sie sich zurückziehen würden. Sie sehen etwas derangiert aus.«

»Rue Mouffetard?«, wiederholte Adam in der Hoffnung, sein Gedächtnis möge endlich wieder funktionieren.

Doch in diesem Augenblick meldete sich unvermittelt jener unwiderstehliche Instinkt, der bereits auf das blutbeschmierte Einstecktuch mit solcher Vehemenz reagiert hatte. Der Auslöser war ein rhythmisches Schlagen, das alle anderen Geräusche übertönte.

Adam sah sich suchend um.

An der Seite des Herrn stand eine junge Frau, vielleicht seine Tochter. Sie hatte sich bei ihm eingehakt und gab vor, mit großem Interesse die Auslagen eines Blumenstandes zu betrachten. Alles, was Adam von einem Moment zum nächsten wahrnahm, war die leichte Drehung ihres Halses, wodurch der Pulsschlag unter ihrer gespannten Haut sichtbar wurde.

Für einige Atemzüge gab es nur noch das ohrenbetäubende Schlagen ihres Herzens.

Beruhige dich. Das hier ist weder der richtige Ort noch der richtige Zeitpunkt für ein Opfer. Außerdem gefällt sie mir nicht.

Adam fuhr beim Klang der Stimme zusammen. So plötzlich, wie seine Sinne sich übersteigert hatten, so schnell verflog dieser Eindruck auch wieder. Zurück blieb nur ein Kribbeln in den Fingerspitzen, die sich fast auf den Hals der jungen Frau gelegt hätten. Zwar mochte er die Stimme verwünschen, aber soeben hatte sie ihn zweifelsohne vor einer Dummheit bewahrt.

Als der ältere Herr sich mit einem Nicken und einem äußerst beklommenen Ausdruck zum Gehen abwandte, brachte Adam gerade noch ein »Danke« hervor. Seine Zunge formte das Wort mühelos, trotzdem konnte er sich des Verdachts nicht erwehren, eigentlich auf eine andere Sprache zurückgreifen zu müssen. Dann lief er los, getrieben von dem Bedürfnis, möglichst viel Abstand zwischen sich und den unwiderstehlich schlagenden Puls dieser Frau zu bringen.

Etwas stimmte nicht mit ihm – ungeachtet der Tatsache, dass er nicht wusste, wer er war, und dass eine körperlose Stimme zu ihm sprach. Nein, etwas war grundlegend verkehrt, so verhielt sich kein Mensch, schlicht aus dem Grund, weil kein menschliches Wesen über solche empfindlichen Sinne verfügte.

Geschickt bahnte Adam sich einen Weg durch die belebten Straßen: Dienstmägde mit beladenen Körben in ihren Armbeugen, Gruppen von plaudernden Männern mit Schnauzern, Bärten und Pfeifen im Mund, und Kinder, die sich die Zeit mit Hüpfspielen auf den quadratischen Pflastersteinen vertrieben. Erstaunlich leichtfüßig umschiffte er Waren, die die Ladenbesitzer auf dem Gehweg aufgebaut hatten, und wich der Schnauze eines Straßenköters aus, der nach seiner Ferse schnappte. Erst als er das Gefühl hatte, sich wieder unter Kontrolle zu haben und auch die Fährte der jungen Frau nicht mehr auszumachen war, verlangsamte er seinen Schritt. Zu seiner eigenen Verwunderung war er trotz seines raschen Gangs nicht außer Atem gekommen, auch auf seinen Wangen spürte er keine Erhitzung. Das Laufen hatte ihm keine nennenswerte Anstrengung abverlangt.

Adam blieb vor einem Möbelladen mit großen Schaufenstern stehen und wagte einen Blick auf sein Spiegelbild. Unvermittelt setzte er einen Schritt zurück und blinzelte im festen Glauben, dass die Scheibe ihm einen Streich spielte. Zu seinem Entsetzen starrte ihm ein Fremder entgegen. Denn dieses durch die Spiegelung leicht unscharfe Gesicht konnte unmöglich ihm gehören! Es war ihm so unbekannt wie jedes beliebig andere, dem er bislang auf der Straße begegnet war.

Vorsichtig, als befürchtete er, sich zu verbrennen, tastete er nach seiner Wange. Dabei beobachtete er, wie sein Gegenüber die Bewegung exakt nachahmte. In dem Moment, als er seine Finger auf seinem Gesicht spürte, berührte auch das Spiegelbild die Wange des Fremden.

Schlagartig erfüllte Adam das Verlangen, die Scheibe mit der Faust einzuschlagen, zuzusehen, wie das Lügenbild in tausend Scherben zersprang. Und dann würde er flüchten, bevor er in einem der Bruchstücke erneut dieses unbekannte Gesicht entdeckte, das nun seins sein sollte. Doch trotz des Sturms in seinem Inneren gelang es ihm, sich zu beherrschen. Die Hände zu Fäusten geballt, stand er da und versuchte herauszufinden, mit was für einem Gesicht er eigentlich gerechnet hatte. Einige der Männergesichter, die seinen Weg gerade erst gekreuzt hatten, tauchten vor seinem geistigen Auge auf – lauter Gesichter, die anderen gehörten, genau wie das im Spiegel, das ihn ungeduldig ansah.

Es dauerte eine Weile, bis Adam sich eingestand, dass er keine Vorstellung davon hatte, wie er eigentlich aussehen sollte. Aber es sollte etwas sein, das zu seiner Selbstwahrnehmung passte, und dieser viel zu junge Mann mit den klassischen Zügen konnte das unmöglich sein. Zu edel, geradezu schön war dieses Gesicht, mit genau dem richtigen Bruch in der Perfektion, dass es nicht einer Maske glich. Der Mund einen Hauch zu sinnlich – zumindest aus Sicht eines Mannes ... eine griechische Nase ... Am meisten jedoch irritierte ihn der Blick aus den eindringlichen Katzenaugen, deren Grün sogar im trüben Fensterglas aufleuchtete.

Ich habe eine gute Wahl getroffen, nicht wahr? Du bist ein wahres Schmuckstück, sehr schön, wortwörtlich, brachte sich die Stimme voll Besitzerstolz ein.

Sofort lag Adam eine Erwiderung auf der Zunge, obwohl er kaum verstand, was die Stimme tatsächlich meinte. Aber trotz seiner Aufgebrachtheit war ihm klar, dass er mit einer an sein Spiegelbild gerichteten Antwort unnötig Aufmerksamkeit erregt hätte. Und davon erzielte er auch ohne hitzig geführte Selbstgespräche schon genug. Der Ladenbesitzer hatte sich auf der Innenseite des Schaufensters aufgebaut und machte keinen sonderlich glücklichen Eindruck. Nicht mehr lange, dann würde er durch die Tür treten und ihn auffordern, zu gehen. So, wie Adam aussah, verscheuchte er zweifelsohne die Kundschaft.

Sein Äußeres als »derangiert« zu bezeichnen, wie der ältere Herr es getan hatte, war milde ausgedrückt. Im Gegensatz zu den meisten Männern auf der Straße trug Adam nämlich weder einen Hut noch einen Zylinder, der eigentlich zu seinem eleganten Anzug gepasst hätte. Stattdessen stand sein dunkelblondes Haar zerzaust in alle Himmelsrichtungen ab. Sein Mantel war an der Schulter eingerissen, so dass die Füllung hervorquoll, seine Weste stand offen, genau wie sein zerknittertes und mit getrockneten Blutspuren übersätes Hemd. Von einem Plastron war nichts zu sehen, dafür jedoch seine ebenfalls mit dunklen Schlieren überzogene Brust. So viel Blut – und nichts davon gehörte ihm, wie seine Haut bewies: Nirgends war eine Schnittwunde zu entdecken.

Hastig machte Adam sich daran, alles, so gut es ging, in Ordnung zu bringen, wobei ihm die fehlenden Knöpfe einige Probleme bereiteten. Dann wandte er sich von dem Spiegelbild ab und ging mit gesenktem Kopf davon.

Von einer plötzlichen Erschöpfung heimgesucht, warf Adam die zerknüllte Zeitung aufs Pflaster und stieß sich von der Häuserwand ab. Da währte seine Vergangenheit erst einen Tag und machte ihm schon derartig zu schaffen. Vielleicht war Vergessen doch nicht das Schlimmste, das einem passieren konnte, dachte er zynisch.

Mit der einbrechenden Dämmerung ließ sich immer häufiger beobachten, wie die Leute ihre Mantelkragen aufstellten. Jedermann beeilte sich, von der Straße zu kommen, um in einem der Restaurants einzukehren oder zu Hause die Füße hochzulegen. Ihn jedoch berührte die aufziehende Kälte nicht, zu seiner Verwunderung wurden nicht einmal seine Hände klamm, wobei doch alle anderen Handschuhe zückten oder ihre Manteltaschen ausbeulten. Das Gefühl, sich außerhalb aller Regeln zu bewegen, verstärkte sich. Und noch eine andere Beobachtung setzte Adam zu: Immer wieder hatte er die Tafeln vor den unzähligen Bistros und Restaurants überflogen und stets damit gerechnet, dass sein Magen Hunger melden würde. Aber nichts dergleichen war geschehen.

Wenn ihm schon nicht kalt wurde und er auch keinen Hunger verspürte, so musste er doch wenigstens müde werden, verdammt! Aber er fühlte sich bloß ausgebrannt, sein Geist war erschöpft – mehr nicht. Während sein Körper anscheinend endlos weiterwandern konnte, fühlte er sich innerlich, als hätte er seit hundert Jahren nicht mehr geschlafen. Ganz gleich, wie die Dinge standen – er würde sich bald ein Quartier für die Nacht suchen müssen. Dann würde er sich unter den Decken verkriechen und sich mit ein paar ernsthaften Fragen auseinandersetzen. Aber erst nach einem ausdauernden Schlaf, das nahm er sich fest vor. Einige Stunden lang weder denken noch fühlen – das brauchte er.

Während er die von Gaslampen beleuchteten Straßen und mit ihnen das Menschentreiben hinter sich ließ, wurden die Häuser ärmlicher und schlichter. Die eben noch stolz herausgeputzten Läden wurden von verrammelten Schaufenstern abgelöst, das bunte Duftkaleidoskop der Küchen wurde von Kohlgeruch überlagert, und der überlaufende Rinnstein passte nicht zu dieser Weltstadt.

Obwohl es Adam widerstrebte, durchsuchte er abermals seine Manteltaschen. In den letzten Stunden hatte er ein ums andere Mal seine Kleidung nach Hinweisen auf seine Identität durchforstet, wobei er lediglich ein paar Münzen zum Klingen gebracht hatte. Fast schien es, als seien seine Taschen genauso leer wie seine Erinnerung. Jetzt konnte er sich nicht länger drücken, es sei denn, er wollte die Nacht auf der Straße verbringen. Und er wollte sich lieber nicht darauf verlassen, dass die Kälte ihm tatsächlich nichts anhaben konnte.

Für eine gründliche Tascheninspektion nutzte er die Gunst eines offen stehenden Tors und huschte in den dahinterliegenden Hinterhof. Falls ihm angesichts des Ergebnisses die Gesichtszüge entgleisen sollten, wollte er lieber für sich sein. Nun blickte er auf die Münzen in seiner Hand, und zu seinem Erstaunen konnte er ihre Konturen trotz des spärlichen Lichts bestens erkennen. Auch so eine Seltsamkeit, aber damit wollte er sich jetzt nicht auseinandersetzen. Farben konnte er kaum ausmachen, allerdings zeichnete sich die Prägung lesbar ab. Es handelte sich um italienische Lire.

Ein Lächeln schlich sich auf Adams Gesicht. Wenn er aus Italien stammen sollte, erklärte das zumindest schon einmal das nicht abzustreifende Gefühl, mit Frankreich und seiner Sprache lediglich vertraut zu sein, mehr aber auch nicht. Vielleicht war er ein Reisender auf Abwegen.

Adam versuchte bewusst, etwas auf Italienisch zu denken, als er die beiden Schatten bemerkte, die gerade das Tor hinter sich schlossen. Allerdings nicht, ohne zuvor noch einen prüfenden Blick auf die Straße zu werfen, ob sie dabei auch niemand beobachtete.

Während Adam mit den Münzen in der hohlen Hand klimperte, verengte er die Augen zu Schlitzen. Vermutlich war das gar nicht nötig, denn er konnte die beiden Männer auch so gut sehen, obgleich eine innere Stimme ihm verstört zuflüsterte, dass das in dieser Dunkelheit eigentlich unmöglich sein sollte.

Die Männer standen im lichtlosen Durchbruch, von wo aus sie ihn sehen konnten, während er bestenfalls ihre Umrisse erahnen müsste. Stattdessen sah er deutlich, dass der eine im besten Mannesalter war, obwohl nichts an ihm mehr gut aussah – weder sein zerquetschtes Nasenbein und die verquollene Augenpartie noch die krummen Finger, mit denen er sich unter der Schirmmütze kratze. Die Schultern breit, die Beine krumm. Ein ausgemachter Schläger, jemand, der sich in einem anderen Leben als Boxer verdingt haben mochte. Der Mann neben ihm war einige Jahre jünger und von einer Schlaksigkeit, die man vorschnell mit Kraftlosigkeit gleichsetzen konnte.

Doch Adam unterlief dieser Fehler nicht. Er sah den jungen Kerl nicht nur, er nahm ihn mit allen Sinnen wahr. Wie ein vielstimmiger Chor flüsterten sie ihm zu, dass es sich trotz der schlechten Ernährung um einen gesunden und muskulösen Kerl handelte. Und um einen flinkeren Gegner als bei dem Exboxer an seiner Seite.

Nicht Gegner – Opfer, meldete sich die Stimme zurück, freudig erregt wie ein Kind, das zum Jahrmarkt geht. Zugleich schwang unüberhörbar auch eine perverse Vorfreude auf den bevorstehenden Übergriff mit.

Adam keuchte auf, denn in den letzten Stunden hatte er zunehmend gehofft, dass die Stimme nur von dem Schrecken herrührte, als er in jener dunklen Gasse aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht war. Sie nun plötzlich wieder hören zu müssen, schockierte ihn zutiefst.

Der Exboxer verstand sein Aufstöhnen jedoch falsch. »Der Herr braucht doch keine Angst zu haben«, setzte er in einem um Vertrauen heischenden Ton an. Betont nebensächlich schlenderte er auf Adam zu, wobei ihm ein abstoßender Gestank nach Kampflust und Habgier vorauseilte.

Der jüngere Mann hielt sich unterdessen zurück – eine vorbildliche Nachhut, die vermutlich davon ausging, nicht viel zu tun zu bekommen. Wie viel Widerstand konnte schon ein elegant gekleideter Herr leisten, der sich offensichtlich durch sämtliche Lokale getrunken hatte, bis ihm Zylinder und Halstuch abhandengekommen waren?

»Yves und ich wollten nur einmal nachsehen, ob bei Ihnen auch alles zum Besten steht«, plauderte der Exboxer weiter. »Die Hinterhöfe von Belleville haben nämlich keinen sonderlich guten Ruf. In der letzten Zeit sind hier einige Leichen gefunden worden. Blutleer, wie es heißt. Vermutlich nicht mehr als ein dreckiges Gerücht, aber niemand will ein Risiko eingehen. Sie doch ganz bestimmt auch nicht oder, Monsieur?« Er zeigte ein Lächeln voller Zahnlücken, während er den einen Arm hinter den Rücken hielt, als wolle er etwas verbergen. Adam ahnte, worum es sich handelte, denn er hatte das ledernde Geräusch gehört, das der Totschläger in der Hand verursacht hatte.

Reiß diesem wandelnden Abfall einfach die Kehle heraus, und dann widmen wir uns dem Jungen. Yves hat in seiner Kindheit gesungen wie ein Vögelchen. Es ist immer noch etwas von seiner Begabung spürbar . Bring ihn für mich zum Singen. Ich mag das.

In Adams Arm- und Rückenmuskulatur breitete sich ein warmes Kribbeln aus, dann spannte sie sich ohne sein Zutun an. Sein Körper glitt in eine Angriffshaltung, als bräuchte er gar nicht erst sein Einverständnis dafür. Als wäre ein Kampf die natürlichste Sache der Welt für ihn. Ehe er sichʼs versah, schenkte er dem Mann ein einladendes Lächeln.

»Ausgeblutete Leichen? Und niemand hat etwas von den Morden mitbekommen?«

»Nein, in Belleville kümmert man sich um seine eigenen Angelegenheiten, selbst wenn sich jemand im Hof die Seele aus dem Leib schreit. Ist auch besser so, wenn Sie mich fragen.«

Der Mann mit dem zerschlagenen Gesicht blieb eine Armlänge von Adam entfernt stehen. Mittlerweile machte er sich nicht einmal mehr die Mühe, sein Opfer mit einem Lächeln in Sicherheit zu wiegen. Hätte er nicht derartig auf seine Überlegenheit vertraut, wäre ihm vermutlich aufgefallen, dass Adam nicht sonderlich beunruhigt wirkte. Stattdessen ließ er sogar aufreizend die Münzen in seiner Hand klingen.

»Sie haben doch sicherlich nichts dagegen, dass ich mir die Münzen mal genauer ansehe. Hab eine Schwäche für die klimpernden Dinger«, knurrte der Exboxer, während er eine herausfordernde Grimasse zog.

»Das glaube ich gern«, erwiderte Adam leichthin. Dann schleuderte er ihm die Münzen ins Gesicht.

Der Exboxer setzte mit einem Schrei zurück, mehr überrascht als verletzt, obwohl eine Münze sein Augenlid aufgeritzt hatte. Doch im nächsten Moment hatte er sich wieder gefangen und brachte den versteckten Totschläger zum Vorschein.

Damit hatte Adam gerechnet.

Nicht gerechnet hatte er damit, wie langsam der Angriff des Mannes sich in seiner Wahrnehmung vollzog. Er hätte die Bewegungsabläufe quasi mit dem Zeigefinger verfolgen können. Dadurch hatte er die Bahn des Schlages schon erkannt, kaum dass sich die Schulter des Mannes in Bewegung setzte. Wäre Adam darüber nicht so verwundert gewesen, hätte er den Angriff gleich im Keim ersticken können. So wehrte er den Totschläger erst im letzten Moment mit dem Unterarm ab.

Dieser Kampf war ein derart leichtes Spiel, dass Adam vor Überraschung die Augenbrauen hochzog. Er hatte fest damit gerechnet, der Aufprall des Schlagarms würde ihn zumindest ein Stück zur Seite taumeln lassen. Stattdessen stand er wie ein Fels da, während der Schmerz in seinem Arm aufflammte ... und sofort wieder erlosch. Restlos. Sein Angreifer dagegen jaulte qualvoll auf und ließ den Totschläger fallen, als besäße er plötzlich nicht mehr die Kraft, ihn zu halten.

Vermutlich hätte Adam weiterhin dagestanden und den fluchenden und gleichzeitig jammernden Mann beobachtet, aber der jüngere Kerl namens Yves attackierte ihn nun von der Seite. Es war ein geschickter und vor allem schneller Angriff, der ihm eigentlich hätte entgehen müssen. Aber nicht nur Adams Instinkte sprangen sofort an, sondern auch seine Beine setzten sich wie von Zauberhand in Bewegung.

Für Adam galten offenbar andere Zeitgesetze, als er sich drehte und so Yvesʼ Nierenhaken auswich. Der Junge hatte noch nicht richtig begriffen, dass sein Angriff daneben gegangen war, da schlug Adam ihm schon die Faust ins Gesicht. Während Yves ins Straucheln geriet, verpasste Adam dem Jungen einen Tritt in den unteren Rücken, woraufhin der in die Knie sank.

Nicht zu fest! Nicht zu fest!, krakeelte die Stimme wie ein überdrehtes Aufziehmännchen.

Dennoch hatte Adam den Verdacht, dass die Stimme vor Begeisterung aufjauchzen würde, wenn er dem am Boden liegenden Jungen seine Stiefelspitze in die Rippen rammte. Adam sollte Blut fließen lassen, darum ging es der Stimme. Je mehr Blut, desto besser. Augenblicklich fühlte Adam sich wie ausgenüchtert, ja, regelrecht angewidert.

Der Exboxer nutzte den günstigen Moment und ließ ein Klappmesser aufspringen. Adam konnte zwar den Rost auf dem Stahl riechen, hegte aber keinen Zweifel daran, dass die Klinge durchaus ihren Zweck erfüllte. Fasziniert bemerkte er das leichte Zittern der Hand, die das Messer in seine Richtung stieß. Dieses Mal gelang ihm keine Abwehr, sondern lediglich ein Ausweichmanöver. Mit einem reißenden Geräusch drang die Schneide durch den Mantel und streifte seinen Rippenbogen.

Wieder ein Aufflammen, dieses Mal ein wenig länger, dann erlosch auch dieser Schmerz. Adam griff in den klaffenden Schnitt im Mantel, spürte Blut und ertastete schließlich etwas wie einen frisch verheilten Schnitt.

»Das kann nicht sein«, brachte er atemlos hervor.

»Oh, doch«, sagte der Exboxer, wobei er nach Adams Mantelaufschlägen griff und ihm das Messer an die Kehle hielt. »Das kann es sehr wohl, du dreckige Ratte.«

Bevor er allerdings auch nur zum Schnitt ansetzen konnte, ging Adam in die Knie. Zu guter Letzt hatte er doch noch einen Nierenhaken von Yves einstecken müssen. Hinter ihm keuchte der Junge vor Befriedigung auf, ehe er ihm den Ellbogen in den Nacken rammte.

»Du gottverdammter Hurensohn, mir derartig in den Hintern zu treten. Wenn ich mit dir fertig bin, wirst du auf deinem nie wieder sitzen können.« Yves packte Adam ins Haar und zerrte seinen Kopf in den Nacken. Als sein Kompagnon erneut das Messer ansetzen wollte, verpasste er ihm einen leichten Schlag. »Steckt das verfluchte Messer weg, Benoit. Wenn du ihn auf diese Weise bearbeitest, geht ihm viel zu schnell die Puste aus. Und das will ich nicht. Nicht nach diesem verfluchten Tritt.«

Adam atmete weiterhin schwer, obwohl der Schmerz in seiner Nierengegend bereits nachließ. Fast war er versucht, den Jungen gewähren zu lassen, einfach um herauszufinden, wann die Grenze erreicht war, ab der der Schmerz sich nicht mehr in nichts auflösen konnte.

Das reicht jetzt. Nun klang die Stimme keineswegs mehr amüsiert, sondern ungeduldig, gar gereizt. Ich will meine Kraft nicht damit verplempern, dich zu heilen. Ich will diesen Jungen. Also?

»Was also?«, fragte Adam und fing zu lachen an, so verrückt war die ganze Situation.

Doch er hörte schlagartig auf, als Yves ihm den Arm auf den Rücken drehte und ihn hochzog. Kaum war er auf den Beinen, boxte Benoit ihm gezielt in den Magen. Mit dem Exboxer habe ich wohl Recht gehabt, dachte Adam, während ihm sämtliche Luft jäh aus den Lungen wich. Dann traf ihn der nächste Faustschlag.

Ein gehässiges Lachen erklang. »Sein Gesicht, das braucht unbedingt eine Spezialbehandlung«, ereiferte sich Yves, während er an Adams Unterarm riss, dass es im Schultergelenk knackte.

»Das hättest du dir alles ersparen können, du Schönling.« Benoits Vorfreude war offensichtlich.

Der Schlag traf Adam mitten ins Gesicht, und er hörte sein Nasenbein brechen. Zu seiner Überraschung verloschen die Schmerzen dieses Mal nicht. Dafür ließ das Gefühl nach, lediglich einen verrückten Traum zu erleben. Erleichterung machte sich breit ... und Wut, gepaart mit dem Bedürfnis nach Revanche.

Der Exboxer, dessen Erregung ihm widerwärtig in die Nase stieg, packte ihn am Kinn und erzwang seinen Blick. Adam sah das breite Grinsen nur eine Handbreit vor sich.

»Nun, hast du keinen Trick mehr auf Lager?«, fragte Benoit.

Adam leckte über seine Oberlippe, über die ein Rinnsal Blut floss. Dann stieß er seine Stirn schnell und hart ins Gesicht seines Gegners. Dessen Schmerzschrei erschallte, und im selben Moment hatte Adam sich aus Yvesʼ Griff gewunden. Ohne jedwede Hemmung drückte er dem erstaunt dreinblickenden Jungen den Kehlkopf mit den Fingerknöcheln ein. Yves riss die Augen auf und umschlang mit beiden Händen seinen Hals, als Adam dem blind um sich schlagenden Exboxer mit einer geschickten Bewegung das Messer abnahm. Geradewegs rammte er ihm die Klinge unterhalb des Brustkorbs in den Leib und ließ nicht zu, dass der niedersinkende Mann sich von ihr befreite.

Warmes Blut drang an seine Hände, benetzte seine Haut. Tief in seiner Brust schlugen plötzlich zwei Herzen, wobei das eine stetig langsamer wurde, bis es erlosch. Ein Gefühl von Erlösung streifte ihn, dann verflüchtigte es sich im Nachtwind.

Erst als Benoit nicht mehr zuckte, konnte Adam von ihm ablassen. Stolpernd hielt er auf den Jungen zu, dessen Züge im Tod zu einer grauenhaften Maske erstarrt waren.

Jetzt will ich ihn nicht mehr.

Die Stimme klang geradezu beleidigt. In diesem Moment hätte Adam alles dafür gegeben, ihr den Hals umzudrehen. Gereizt wischte er sich mit der Hand übers Gesicht, ungeachtet der Tatsache, dass sie blutverschmiert war. Dann erst blickte er sich um, doch niemand war auf den Hof gekommen, um nach dem Rechten zu sehen. Kein zufälliger Passant, kein Bewohner aus dem düsteren Mietshaus. In einer Hinsicht hatten die beiden toten Männer Recht behalten: In diesem Viertel scherten sich die Leute tatsächlich nicht darum, wenn sich jemand vor Angst und Schmerz die Lungen aus dem Leib schrie. Sogar die eben noch erleuchteten Fenster waren jetzt dunkel, als habe man rasch die Lichter gelöscht.

Nachtglanz

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