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Der Abend war bereits angebrochen, als Etienne den dritten Anlauf nahm, sich in Victor Hugos Der Glöckner von Notre-Dame zu vertiefen. Er liebte diesen historischen Roman, besonders jene Passagen über den gewitzten Poeten Pierre Gringoire, der alles im Auge behielt, was in der Nähe der Kathedrale passierte.

Mit dem Namen Victor Hugo verband Etienne allerdings noch etwas anderes als die Erfüllung seiner Leseleidenschaft. Denn an jenem Tag vor gut vier Jahren, als der große Schriftsteller Frankreichs starb, hatte Etienne sich dazu entschieden, sein Leben als Mensch abzustreifen und ein neues anzufangen. Allen Pflichten, die der Dämon einem abverlangte und über die er bereits vor seiner Neugeburt genau Bescheid wusste, zum Trotz. In Anbetracht der gebotenen Möglichkeiten hatte ihn die Vorstellung, in den Blutdienst zu treten, wenig geschreckt. Sein ausgeprägter Forschergeist hatte es ihm schon als jungen Mann schwer gemacht, sich mit dem Gedanken abzufinden, dass die Zukunft ihm für immer verschlossen blieb, weil eines Tages der Tod an seine Tür anklopfen würde. Unsterblichkeit zu erlangen, auch wenn er dafür einen nicht absehbaren Teil seiner Menschlichkeit verlor, erschien ihm damals als Geschenk. Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits ein reifes Alter erreicht, in dem es absehbar war, dass die kommenden Jahre einem noch viel mehr als der Dämon raubten: nicht bloß die Erinnerung, sondern auch die Würde, wenn man plötzlich nicht mehr wusste, wozu ein Löffel gut war, oder sich vor Schmerzen kaum rühren konnte. All diese weltlichen Dinge ließ man mit dem Eintritt des Dämons hinter sich. Seitdem hatte Etienne Dinge erlebt – oder vielmehr getan –, die ihn zutiefst schockierten. Nichtsdestotrotz hatte er nie an der Richtigkeit seiner Entscheidung gezweifelt.

Bis zum heutigen Tag. Bis er gesehen hatte, wie es Adam mit dem Dämon erging.

Etienne hatte die Lage unterschätzt, in der sich der junge Mann befand – und er hatte Adam unterschätzt. Dabei hatte er ursprünglich geplant, diesen Frischgeborenen, der Adam zweifelsohne war, behutsam in die Welt des Dämons einzuführen. Er hatte sich zunächst auf Umwegen an die Existenz dieser unglaublichen Macht heranpirschen und dann rasch von den Vorzügen sprechen wollen, die der Dämon bereithielt. Später, wenn Adam Furcht und Wut überwunden hätte, hätten sie über das Rätsel diskutieren können, das die Existenz des Dämons aufgab. Und vielleicht auch schon über den Blutdurst, obwohl Etienne dieses Thema in der letzten Zeit immer unangenehmer geworden war. Doch dann hatte er Adam mit durchtrennter Kehle aufgefunden, und das hatte seinen sorgfältig überlegten Plan zunichtegemacht. Das aufbrausende Temperament dieses Mannes machte ihn unberechenbar, wie auch sein ausgeprägter Eigensinn. Etienne musste sich beeilen, wenn er vermeiden wollte, dass Adam einen größeren Fehler beging, als sich selbst zu richten. Da brauchte er einen Freund an seiner Seite, der nicht zögerte, ihm den Weg zu weisen, notfalls auch gegen Adams Widerstand.

Mit einem Seufzen beschloss Etienne, sich dieser Verantwortung zu stellen, obgleich es wenig seiner Persönlichkeit entsprach, die Position des Beobachters zu verlassen und aktiv einzugreifen. Er fühlte eine Verbindung zu dem jungen Mann, die er nicht ignorieren konnte – ob ihm das nun gefiel oder nicht. Nun, zumindest im ersten Anlauf war er dabei mit Pauken und Trompeten gescheitert, wie Etienne sich schonungslos eingestand. Er hatte nicht nur Adams ohnehin ausgeprägten Widerwillen gegen den Dämon geschürt, sondern ihn auch noch im Blutrausch davonstürmen lassen. Das ansonsten stete Surren und Ziehen des Dämons war bei seinen Versuchen, Adam zu finden, verstummt – als wolle der Dämon verhindern, dass Etienne ihn fand.

Sich die Schläfe massierend, hinter der sich von Minute zu Minute ein zunehmend unangenehmer Druck aufbaute, legte Etienne den Roman beiseite. Heute würde er keinen Trost in Hugos Beschreibungskunst finden, falls er überhaupt einen Anspruch darauf hatte. Missmutig starrte er in die Dämmerung hinaus, die ersten künstlichen Lichter der Gaslaternen erhellten die Gehwege. Wie sollte er Adam bloß dazu bringen, den Blutdienst zu akzeptieren? Als er den Dämon damals eingelassen hatte, hatte er geglaubt, seinen Wunsch nach Blut akzeptieren zu können. Inzwischen war er sich da nicht mehr so sicher. Gerade dieser Punkt bereitete ihm zusehends Unbehagen, und der Widerwille des jungen Mannes verstärkte es nur.

Erneut ging Etienne seine Möglichkeiten durch, Adam im Geflecht der Großstadt doch noch ausfindig zu machen, nur um zu demselben Schluss wie zuvor zu gelangen: Es war unmöglich. Als er ihm vor dem Café nachgesehen hatte, hatte er den Dämon auf der Jagd erkannt. Etienne wusste das so genau, weil auch sein Dämon bei einigen Gelegenheiten die Kontrolle an sich gerissen hatte. Diese Erfahrung machten nur jene unter ihnen, denen ein Rest ihrer Menschlichkeit geblieben war. Die anderen lebten für den Moment, wenn der Dämon ein Opfer auserkor. Vielleicht wäre es für Adam das Beste gewesen, wenn der Selbstmord für ihresgleichen tatsächlich eine Option wäre. Aber das war er nun einmal nicht, der Dämon ließ es nicht zu.

Noch nie zuvor hatte Etienne Unsterblichkeit als eine Bürde angesehen, immer nur als unermessliches Geschenk, das einen als Zeugen der Geschichte und gelegentlichen Diener des Blutes unangetastet durch die Jahrhunderte wandeln ließ. Nicht sterben zu müssen war etwas ganz anderes, als nicht sterben zu können.

Solch düsteren Gedanken nachhängend, fuhr Etienne erschrocken zusammen, als Henri an die Tür klopfte und Besuch ankündigte. Erleichtert begrüßte er Adam, der nur ein Nicken für ihn übrighatte.

Ein verräterisches Glühen umgab den jungen Mann. Ihn schien genug Lebensenergie zu durchfluten, um die Welt aus den Angeln zu heben. Etienne wusste nur zu gut, was der Grund für dieses Leuchten war: ein Blutopfer. Zumindest war Adam dieses Mal geschickt genug gewesen, Kleidung und Gesicht nicht zu beschmutzen, auch wenn ihn ein beißender Geruch nach trocknendem Blut umgab. Den würde allerdings niemand außer ihnen beiden wahrnehmen. Die Nasen der Menschen waren dafür nicht gemacht.

»Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie würden einen Fehler begehen, wenn Sie in einem solchen Zustand auf die Straße laufen.« Etiennes Ton fiel schärfer als beabsichtigt aus. Mit verschränkten Armen baute er sich vor Adam auf, der ihn um gut eineinhalb Köpfe überragte. »Vermutlich werden die Gendarmen schon bald mit einer Zeichnung Ihres Gesichts durch die Straßen laufen und jeden nach dem Verrückten fragen, der am helllichten Tag Passanten anfällt wie ein Raubtier. Sehr ungünstig, wenn ohnehin schon Gerüchte über blutgierige Mörder in der Stadt kursieren. Und noch ungünstiger, wenn man über ein Gesicht verfügt, das wegen seiner Attraktivität niemandem entgeht und an das sich sicherlich jeder erinnert, vor allem die Damen.«

»In diesem Fall wird sich die Dame kaum bei jemandem beschweren, obwohl ich sie in einem derangierten Zustand zurückgelassen habe. Der Dämon ist sehr gut darin, einen Gewaltakt wie Leidenschaft aussehen zu lassen. Sie hat mir zum Abschied sogar ein Lächeln geschenkt, als wäre die klaffende Wunde an ihrem Hals nicht mehr als ein Liebesmal«, erwiderte Adam mit einer Ruhe, als herrsche in seinem Inneren nur Leere. Nur die Hand mit den schwarz geränderten Fingernägeln, mit der er sich über den Mund wischte, zitterte verräterisch. »Ich sollte wohl dankbar dafür sein, dass der Dämon sich mit wenig Blut zufriedengegeben hat und die Dame lediglich erschöpft in sich zusammengesunken ist. Bis der Dämon sich aus eigenen Stücken zurückgezogen hat, habe ich nämlich kaum begriffen, was geschah.«

Augenblicklich breitete sich Mitleid in Etienne aus, eine Empfindung, die er stets an sich verabscheut hatte, weil sie es einem unmöglich machte, gewisse Dinge mit der notwendigen Objektivität zu betrachten. »Ich würde Ihnen ja gern einen Drink anbieten, aber ich befürchte, damit erweise ich Ihnen keinen Gefallen.«

Adam lachte leise, wodurch seine ausdruckslose Maske feine Sprünge bekam. »Das Angebot würde ich nur annehmen, wenn Kognak und Ähnliches nicht bloß wie Gift schmecken, sondern auch wie Gift wirken würden.« Einen Moment lang sah Adam so aus, als würde er die Fassung verlieren. »Mir geht das befriedigte Lächeln dieser Frau einfach nicht aus dem Kopf. Dieser verfluchte Dämon hat es aussehen lassen wie eine Verführung, und ich werde das Gefühl nicht los, dass es ihm gar nicht um das Blut ging, sondern darum, mich zu demütigen. Er hat mich erst als Lockmittel und dann als Waffe missbraucht – und ich habe das einfach zugelassen. Ich werde mir nie wieder in die Augen sehen können.«

»Nun seien Sie doch nicht so streng mit sich! Sich selbst verachten müssten Sie nur, wenn diese Verführung auf Ihr Konto gegangen wäre. Und das ist ja wohl nicht der Fall«, unterbrach Etienne ihn erregt. »Allerdings müssen Sie sich vorwerfen, es so weit haben kommen zu lassen, dass der Dämon gezwungen war, die Macht an sich zu reißen. Wenn Sie ihm sein Blutopfer freiwillig brächten, dann könnten Sie sowohl das Wie als auch das Wie viel bestimmen.«

»Dann würde so etwas nie wieder geschehen?«

Zwar freute sich Etienne darüber, etwas wie Hoffnung in Adams Augen aufleuchten zu sehen, doch er musste ihn sogleich enttäuschen. »Wenn Sie dem Dämon regelmäßig huldigen, werden solche Exzesse die Ausnahme bleiben. Dass Sie jedoch den Blutrausch vermeiden können, kann ich Ihnen leider nicht zusichern. Mit einigen seiner Opfer hat der Dämon eigene Pläne, und in solchen Momenten lässt er sich nicht bezwingen. Das ist jedenfalls meine Erfahrung.«

Schlagartig wich die neu erwachte Hoffnung aus Adams Zügen, aber er nickte, als habe er endlich akzeptiert, einen Kampf gegen den Dämon nur verlieren zu können. »Ich will nicht behaupten, dass ich damit leben kann – wenn man das, was ich tue, überhaupt leben nennt. Allerdings werde ich versuchen, den entstehenden Schaden möglichst gering zu halten. Das ist es doch, worauf Sie hinauswollen.«

»Ja«, sagte Etienne. Vermutlich hätte er froh sein sollen über Adams Einlenken, aber er war es nicht. Unwillkürlich verspürte er den Wunsch, die Überreste von Adams menschlichen Zügen zu erhalten, anstatt ihn dazu zu überreden, dem Dämon den Raum zu überlassen. Was war nur los mit ihm? »Henri hat übrigens die Taschen Ihrer alten Kleidung durchsucht und diesen Schnipsel hier gefunden«, lenkte er das Gespräch auf ein anderes Thema. »Es wundert mich, dass Sie sich Ihres Tascheninhaltes nicht selbst angenommen haben, da Sie doch so verzweifelt nach Ihrer Vergangenheit suchen. Wenn ich mich nicht irre, sind Sie ein hervorragender Fährtenleser.«

Adam nahm den Streifen gelben Papiers entgegen und drehte ihn zwischen den Fingern, ohne ihn wirklich anzusehen. »So weit bin ich bei meiner Tascheninspektion nicht gekommen. Als ich gerade dabei war, hat der Dämon meine Aufmerksamkeit nämlich kurzerhand auf etwas anderes gelenkt, und zwar auf sein höchst eigenes Interesse. Verstehen Sie, was ich meine?«

Etienne verstand ihn sehr wohl. Ein Schauer lief ihm über den Rücken, als das Wispern des Dämons bei Adams Andeutung aufgeregt zu rauschen begann. Dieser junge Mann kostete ihn zunehmend seinen Seelenfrieden. »Bei dem Papierstreifen handelt es sich um die Quittierung eines Gepäckstücks«, erklärte er kurz angebunden. »Allem Anschein nach haben Sie etwas am Gare de lʼEst im zehnten Arrondissement hinterlassen. Außerdem hat Henri außer Bargeld auch dieses Heftchen in Ihrer Mantelinnentasche gefunden.«

»Peter Schlemihls wundersame Geschichte, geschrieben von einem gewissen Chamisso«, las Adam laut vor, während sich eine tiefe Falte zwischen seine Augenbrauen senkte.

»Sie sprechen Deutsch?« Etienne war nicht im Geringsten überrascht. Er hatte den Verdacht, dass auch andere Sprachen Adam keine Probleme bereiteten. Beim Verschmelzen mit dem Dämon wurden oft die unterschiedlichsten Talente freigelegt, als würde man auf das Wissen dieses Wesens zurückgreifen, das sich außerhalb der Zeit bewegte.

»Hat ganz den Anschein«, sagte Adam, der mit den Gedanken sichtlich woanders war, während er die Seiten durchblätterte, ohne jedoch auf Notizen oder sonstige Zeichen zu stoßen. Das hatte Etienne auch schon überprüft. »Aber weder das Heftchen noch die Geschichte sagen mir etwas. Wenn das Heft nicht so eindeutig nach mir riechen würde, könnte ich mir nicht vorstellen, dass es einmal mir gehört hat.«

»Das können Sie riechen?«

»Sie etwa nicht?«

»Nein, über eine solche Begabung verfüge ich nicht. Aber dafür kann ich Ihnen etwas über Schlemihls Geschichte erzählen.« Obwohl ihm nicht kalt war, ging Etienne zum Kamin hinüber und legte einige Holzscheite nach. Das Flammenspiel beruhigte seine Nerven. »Der arme Kerl wurde vom Teufel höchstpersönlich um seinen Schatten gebracht. Und ohne seinen Schatten war Schlemihl ein Ausgestoßener, den die Menschen mieden. Daher schlug der Teufel ihm einen Tausch vor: Dafür, endlich wieder versöhnt mit sich und der Welt zu sein, sollte er seinen Schatten gegen seine Seele eintauschen.«

Adams Lippen verzogen sich zu einem farblosen Strich. »Soll das ein Scherz sein?«

»Könnte man fast meinen«, erwiderte Etienne und widmete sich wieder dem Flammenspiel. Auch wenn es sich vermutlich nur um einen Zufall handelte, so war er dennoch versucht, den seltsamen Humor des Dämons am Werk zu sehen. War Adam doch in einer ähnlichen Lage wie der unglückliche Schlemihl, denn auch er würde ein Ausgestoßener sein, solange er sich nicht dem Herrschaftsanspruch des Dämons beugte und von den Resten seiner Menschlichkeit abließ.

»Wie auch immer. Wir sollten morgen früh zum Bahnhof gehen und nachsehen, was wir für diese Quittierung erhalten. Vermutlich einen Koffer mit weiteren Geheimnissen und Kleidungsstücken, die aus bella Italia stammen. So wie die blutbesudelten, die Henri vorsorglich im Ofen verbrannt hat. Singen Sie doch mal ein paar Zeilen aus La Traviata – auch wenn Sie nicht den Ton treffen sollten, ich wette, dass Ihr Italienisch von ausgesuchter Reinheit ist.«

Adam konnte dem Scherz nichts abgewinnen. »Ich sollte zusehen, dass ich zum Bahnhof komme und mein Gepäck auslöse. Vielleicht finde ich dann endlich die entscheidenden Hinweise auf meine Vergangenheit.«

»Dafür ist es heute schon zu spät«, entgegnete Etienne, wobei er kurz mit dem Schürhaken auf Adam zeigte, bevor er ihn zurück in seinen Behälter steckte. »Außerdem werden wir uns jetzt erst einmal Ihrer Gegenwart widmen. Ich habe eine Verabredung für uns beide getroffen. Sie sehnen sich doch nach Erklärungen, die Ihnen bei Ihrer Schöpfung versagt wurden.«

»Der Dämon ist nicht mein Schöpfer, er ist ein ungebetener Eindringling«, korrigierte Adam ihn. Dabei wrang er das Heft derartig zwischen seinen Händen, dass Etienne schon befürchtete, er könnte es jeden Augenblick zerreißen. Deshalb vermied Etienne es, darauf hinzuweisen, dass Adam den Dämon sehr wohl eingeladen hatte – so, wie es bei jeder Verwandlung war. Ihm diese Wahrheit beizubringen, sollte allerdings ruhig jemand anders übernehmen, jemand, der sich Adams Temperament gewachsen fühlte. Und Etienne wusste auch schon genau, wer das war.

»Wie auch immer«, beschwichtigte er den jungen Mann. »Eine gute Freundin von mir erwartet uns bereits. Sie hat einst mein Leben in neue Bahnen gelenkt, und ich hoffe, sie kann etwas Ähnliches für Sie tun. Und morgen früh, wenn Sie etwas gefestigter sind, statten wir dem Bahnhof einen Besuch ab. Aber nun kommen Sie.«

Mit einem Schulterzucken ließ Adam das Heft in seiner Manteltasche verschwinden. Auch wenn er sie nicht wiedererkannt hatte, nun gehörte Chamissos Geschichte über den Schattenlosen eindeutig ihm.

Etienne unterdrückte ein Lächeln, während er gemeinsam mit Adam zur Tür hinausging.

Nachtglanz

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