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Kapitel 4 Vergebliche Liebesmüh

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Nachdem er den lockenden Fluss und die Böschung hinter sich gelassen hatte, war er kreuz und quer über den rissigen Betongrund gelaufen. Einfach nur gelaufen, seine Sinne frei und begierig darauf, alles aufzunehmen, was diese karge Gegend an Spuren von Leben zu bieten hatte. Sogar die Abgase und der Lärm des weit über ihm dahinbrausenden Verkehrs hatten ihn mit Genugtuung erfüllt. Bei der Brücke war er auf einen unter Decken und Planen versteckten Leib gestoßen, der bei seinem Anblick einen hohen, plötzlich verstummenden Schrei ausgestoßen hatte. Doch heute stellte diese einfache Beute keine Versuchung dar. Auch der stromernden Hundemeute, die vor lauter Panik in alle Richtungen geflohen war, hatte er nur neugierig hinterhergeblickt, ohne in seinem Lauf innezuhalten. In der letzten Nacht hatte er ein Geschenk erhalten, und keine noch so wilde Hetzjagd konnte sein augenblickliches Gefühl der Lebendigkeit verstärken.

Aus einer Laune heraus hielt er schließlich an, rieb sich Nacken und Schulter an der rauen Oberfläche eines Pfeilers und genoss das elektrisierende Gefühl, das hei der Berührung entstand. Doch genau in diesem perfekten Moment setzte das unerbittliche Zerren wieder ein, und er sank beinahe in den Pfeiler ein, der ihm eben noch einen festen Widerstand geboten hatte. Der Moment der Freiheit war vorbei, seine Umrisse waren bereits von Auflösung bedroht. Und die kaum zu ertragende Leere in seinem Inneren breitete sich aus, um ihn in einem Sog zu verschlingen. Ohne etwas dagegen tun zu können, verlor er seinen Platz in dieser Welt. Doch bevor es zu spät war, floh er voller Verzweiflung zu dem einzigen Hafen, der ihn bergen konnte – ob er wollte oder nicht.

An diesem Nebenarm des Kanals herrschte eine Ruhe, wie man sie ansonsten nirgendwo in der Stadt fand. Die durch Betonwände gewaltsam begradigten Ufer und der schmale gepflasterte Pfad, neben dem eine von Unkraut übersäte Böschung aufstieg, luden auch nicht gerade zum Spazierengehen ein. Auf der gegenüberliegenden Seite des Kanals lag Brachland, und durch den abendlichen Dunst drangen kaum wahrnehmbar die Geräusche einer fernen mehrspurigen Straße und das Kläffen von Hunden.

Nachdem sie den Job für Hagen erledigt, den Wagen gesäubert und zurückgebracht hatten, hatte David sich mit einem Nicken von Jannik verabschiedet. Normalerweise wäre es ihm nicht so leicht gefallen, seinem Freund zu entwischen, doch Jannik war viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, den überdrehten Burek zu beruhigen. David hatte die Chance genutzt und war hastig durch die Pforte des Hinterhofes geschlüpft, bevor Jannik in den Sinn kommen konnte, ihn zu begleiten und vielleicht noch ein paar anzügliche Fragen zu den Erlebnissen der vergangenen Nacht zu stellen.

Davids Hände tasteten über die körnige Oberfläche der Brüstung, während er gedankenverloren das dunkle Wasser betrachtete, das gemächlich in Richtung Hafen floss. Obwohl er schon so lange gegen die Mauer gelehnt dastand, dass seine Hüftknochen schmerzten, war noch kein Kahn den Kanal entlanggeschippert. Nur zwei Jungen waren auf ihren BMX-Rädern, Schlenker fahrend, auf ihn zugekommen, als die Sonne gerade hinter dem Gewirr von Hochbrücken im Westen verschwand. Sie waren stehen geblieben, hatten ihn einen Moment lang gemustert und wohl überlegt, ob er vielleicht in dieser Einöde herumstand, um Dope zu verkaufen. David rechnete schon fest damit, ihnen einen Anpfiff verpassen zu müssen, damit sie sich aus dem Staub machten, da verschwanden sie von selbst. Seitdem zogen lediglich ein paar Möwen ihre Kreise.

Plötzlich stützte David sich auf die Ellbogen, wobei die Lederjacke auf der Brüstung ein Geräusch machte, als würde sie über Sandpapier schleifen. Mit einem Stöhnen vergrub er sein Gesicht in den Händen. Es war ganz gleich, wie sehr er sich auch bemühte, es wollte ihm einfach nicht gelingen, das Durcheinander in seinem Kopf unter Kontrolle zu bekommen. Erinnerungsfetzen quälten ihn, und zum ersten Mal seit langem drohten ihn die hochkochenden Gefühle zu überwältigen. Es war ein Fehler gewesen, sich in der letzten Nacht von seiner Leidenschaft mitreißen zu lassen. Er hätte wissen müssen, wie schwer es ihm fiele, all dies am nächsten Tag wieder auszumerzen.

Zwangsläufig spürte er Convinius’ enttäuschten Blick. Seine Gedanken und erst recht seine Gefühlswelt zu beherrschen, war eine der wichtigsten Lektionen gewesen, die er David vermittelt hatte. Wahrscheinlich sogar die wichtigste von allen. Damals war David ein störrischer Schüler gewesen, da es ihm so vorgekommen war, als töte er einen Teil von sich selbst ab, wenn er alles, was in ihm Blüten trieb, sofort niedermähte. Erst als er vor Hagen gestanden hatte, war David klargeworden, welche Bedeutung diese Lektion tatsächlich hatte. Seitdem beherzigte er sie.

Bis auf letzte Nacht. Das Problem war nicht die Tatsache, dass er sehenden Auges einen Auftrag vermasselt hatte, auch der Alkohol und die Frau in seinem Bett waren es nicht. Aber Meta hatte etwas tief in ihm berührt. Zuerst hatte er seine Reaktion auf sie allein seiner vom Alkohol angestachelten Triebhaftigkeit zugeschrieben. Mit so viel Wodka im Blut wurde jede Frau, die sich an einen schmiegte, zu etwas Besonderem. Doch am nächsten Morgen, als sie noch schlafend zwischen den zerwühlten Laken lag, hatte sich an ihrer Faszination auf ihn ebenso wenig geändert wie an seinem dringenden Bedürfnis, sie durch Worte und Berührungen an sich zu binden.

Jannik und die anderen mochten zwar glauben, dass es lediglich sein Schwanz gewesen sei, der in aller Deutlichkeit ausgeschlagen hatte, aber David wusste es besser. Sie alle kannten diese kaum zu überwindende Distanz, wenn sie einem Menschen gegenüberstanden, der nicht zum Rudel gehörte. Das Gefühl, einander für immer fremd zu sein, gepaart mit der Furcht, das Gegenüber könne den eigenen Jagdinstinkt wecken. Doch in Metas Gegenwart hatte sich diese vertraute Empfindung nicht eingestellt, ganz im Gegenteil: David hatte sich derartig gut gefühlt, dass er selbst sein Geheimnis vergessen hatte – und genau das machte ihm solche Sorgen. Allein die Tatsache, zum wiederholten Male Metas Spur verfolgen zu wollen, war Beweis genug dafür, dass hier etwas nicht stimmte. Er spürte eine Vorfreude aufsteigen, die einen anderen Ursprung als sein eigenes Verlangen hatte. Diese Vorfreude war ungezügelt und zugleich von einer Unschuld, die gar nicht zu seinen Gedanken an die Frau passte. Lass uns zu ihr gehen, schien sie ihm zuzuflüstern, uns an sie schmiegen, bis wir uns vollständig fühlen. David stutzte, dann schob er mit aller Willenskraft die verführerische Vorstellung beiseite.

Meta – das klang nicht nur nach einem exzentrischen Vornamen, sondern auch nach richtig großen Schwierigkeiten. Eine schöne Frau, die bestimmt in einem der wohlhabenden Viertel lebte, die man in dieser Stadt an einer Hand abzählen konnte. Aus einer sogenannten guten Familie stammend, gebildet ... Diese Frau hatte sicherlich nur darauf gewartet, jemandem wie ihm zu begegnen. David spürte, wie der zynische Gedanke ihm einen Stich versetzte. So weit war es also schon gekommen.

Mit einem Satz richtete er sich auf und wusste einen Augenblick lang nicht, wohin mit der angestauten Frustration. Am liebsten hätte er mit seiner Faust gegen den Beton geschlagen und sich dann für ein paar Sekunden dem Schmerz überlassen. Doch er riss sich zusammen. Wut war ein starkes Gefühl, und wenn man nicht achtgab, schlug es plötzlich in etwas anderes um.

David verschränkte die Hände hinter dem Nacken und atmete tief durch. Er würde den Gedanken an diese Frau jetzt sofort fallenlassen. Darin bestand die einzige Möglichkeit, sie zu vergessen und nicht mehr aus der Sache zu machen. So hielt er es schließlich mit allem, seit er von Hagen aufgegriffen worden war. Damit war er auch immer gut gefahren.

Diese Meta führte garantiert ein Leben, das erfüllt war mit Luxus und Annehmlichkeiten und einem passenden männlichen Gegenstück an ihrer Seite. Womit könnte ausgerechnet er sie überzeugen, ihn eines zweiten Blickes zu würdigen? Einmal davon abgesehen, dass ihm eine Liebesgeschichte Hagen gegenüber das Genick brechen würde. Außerdem konnte er sich nicht sicher sein, ob es ihm überhaupt gelingen würde, ihrer von Stunde zu Stunde schwächer werdenden Fährte zu folgen ... da war er wieder, dieser hoffnungsvolle Gedanke.

Mit einem unterdrückten Wutschrei sauste Davids Faust auf den Betonsims nieder, doch das Brennen, das seine Handkante durchzuckte, war nichts im Vergleich zu der Verzweiflung, die in ihm tobte. Wenn er sich nicht schleunigst unter Kontrolle brachte, würde er sich selbst zu Fall bringen, sich Hagen ausliefern wie ein verdammter Idiot. Und so, wie es aussah, gab es nichts, was ihn davon abhalten konnte.

Wintermond

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