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Kapitel 8 Hagens rechte Hand

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Die Küche des Palais war von der Größe her an die Küchen der großbürgerlichen Villen des vergangenen Jahrhunderts angelehnt. Zahlreiche Bedienstete sollten darin Platz finden, um sich um die verschiedenen Belange der Herrschaften kümmern zu können oder die Mahlzeiten an einem langen Esstisch einzunehmen. Der Zweck war weit verfehlt. In dieser Küche gab es nur einen rostigen Gasherd, von dem die Hälfte der Bewohner keine Ahnung hatte, wie man ihn bediente, eine leckende Spüle und einige Resopaltische, die den Charme einer Großkantine versprühten. Dafür strahlte der mannshohe Kühlschrank aus Edelstahl wie ein Kronjuwel. Nathanel stöberte gerade in dessen Tiefen, aber was er fand, entlockte ihm lediglich ein tiefes Grunzen.

David war im Türrahmen stehen geblieben und betrachtete den niedergebeugten Mann, der in einem ausgefransten Flanellhemd, Arbeiterhosen und Schnürstiefeln steckte. Nach einer Weile zog Nathanel den Kopf aus dem Kühlschrank und musterte ein in Schlachterpapier eingeschlagenes Stück Fleisch. Mit einem unübersehbaren Humpeln trat er ein Stück zurück, und die Kühlschranktür schloss sich mit einem geräuschvollen Plopp.

Nachdenklich wog Nathanel das Fleisch in seiner grobgliedrigen Hand, dann warf er David einen Blick zu. »Was denkst du, wie lange das hier schon im Kühlschrank liegt?«

Seine Stimme war so durchdringend wie eh und je, nicht das leiseste Anzeichen von Schwäche war herauszuhören. Aber es klang ein wenig abgehackt, als bereite es ihm Mühe, die einzelnen Worte klar und deutlich auszusprechen.

»Solange es nicht aus eigenem Antrieb aus deiner Hand springt ...«, erwiderte David. Da er immer noch keine Anstalten machte, aus dem Türrahmen zu treten, gab Nathanel ihm mit einem Nicken zu verstehen, endlich näher zu kommen. Dabei fiel ihm eine der grauen Strähnen ins Gesicht und berührte die beachtliche Habichtsnase. Im nächsten Moment wurde sie wieder hinters Ohr geklemmt.

Nathanel war gewiss kein ansehnlicher Mann, seine Gesichtszüge waren zu ausgemergelt und die Lippen zu dünn. Dafür stachen die buschigen Augenbrauen hervor, genau wie die blau strahlende Iris. Der Körper war hochgewachsen, mit breiten Schultern und Gelenken, und doch durch und durch hager. Manchmal dachte David, wenn er diesem Mann gegenübersaß, dass er in gut dreißig Jahren vielleicht ganz genauso aussehen würde. Von den leicht hängenden Zügen der linken Gesichtshälfte einmal abgesehen. Vollkommen ausgezehrt und zugleich so widerstandsfähig wie gegerbtes Leder. Er wusste nie recht, was er von diesem Gedanken halten sollte.

Nathanel hatte eine alte Pfanne aus dem Ofen hervorgeholt und suchte nun das weitgehend leere Küchenregal nach Streichhölzern oder einem Feuerzeug ab, um den Gasherd anzünden zu können. Auffordernd sah er David an, der sich mit einigen Schritten Abstand zu ihm gesellt hatte, aber der zuckte bloß mit den Schultern.

»Wo treibt sich denn dein kleiner Schoßhund rum? Der raucht doch wie ein Schlot.«

»Jannik erledigt ein paar Besorgungen für Amelia.«

»Wie nützlich«, brummte Nathanel.

Schließlich fand er in einer Waschmitteldose ein Streichholzheftchen. Erst nach einigen Fehlversuchen gelang es ihm, ein Hölzchen anzureißen, denn sein linker Arm war immer noch steif und zu wenig nütze. Trotzdem hütete David sich, hilfreich einzuspringen. Dafür kannte er Nathanel zu gut. Bis dieser das Fleisch gebraten und aufgegessen hatte, schwiegen die beiden Männer.

David schaute zum Fenster hinaus, obwohl durch die Gardine kaum etwas zu erkennen war. Vor lauter Anstrengung, an nichts Besonders zu denken, schwitzten seine Hände, und er versuchte, sie unauffällig an seiner Jeans trockenzureiben. Dabei bildete er sich gar nicht erst ein, dass seine Nervosität Nathanel entging. Der Mann mit der Habichtsnase war Hagens rechte Hand, und mit vielen Dingen kannte er sich unleugbar besser aus als sie alle zusammen. Ohne Zweifel wusste Nathanel ganz genau, dass der junge Mann vor ihn etwas verbarg.

»Tut mir leid, dass ich dich in der Reha nicht besucht habe«, sagte David, als Nathanel das Besteck aus der Hand legte und sich im Stuhl zurücklehnte. »Aber irgendwie ist die Zeit so schnell vorbeigegangen, und ich hatte es einfach nicht im Kopf.«

Nathanel winkte lediglich ab. »Zeitgefühl ist nicht gerade unsere Stärke. Außerdem hätte es Hagen bestimmt nicht gern gesehen, wenn du das Revier verlässt. Wozu auch? War ja nicht viel los mit mir.«

David nickte langsam. Zumindest Nathanel meinte das, was er sagte. Doch David hatte weniger sein mangelndes Interesse von einem Besuch abgehalten, als die seltsame Furcht, die der abgezehrte Mann in ihm weckte. Obwohl Nathanel niemals Anzeichen eines väterlichen Interesses gezeigt hatte, erinnerte er ihn an Convinius. Oder vielmehr an die Rolle, die er sich damals als Junge von Convinius erhofft hatte: jemand, der einem das seltsame Leben, in das man geworfen worden war, erklärte. Jemand, der einem die Nähe gab, die ihm in der eigenen Familie fehlte. Die ihm dort gar nicht gegeben werden konnte, weil er ganz und gar anders war. Dass er sich immer noch so bedürftig fühlte, ärgerte David. Aus diesem Grund hatte er Nathanel nicht in der Reha besucht, als dieser nach einem Schlaganfall zusammengebrochen war und er ihn im Hinterhof des Palais liegend vorgefunden hatte. Dabei hatte Nathanel mit letzter Kraft ausgerechnet nach ihm gerufen. Hagen hatte David später regelrecht gelöchert, wie er bei dem im Sterben liegenden Mann sein konnte, bevor einer der anderen überhaupt etwas mitbekommen hatte. Aber David hatte den Hilferuf verschwiegen und es als Zufall abgetan. Etwas anderes konnte es auch gar nicht gewesen sein, denn Nathanel griff zwar bei Aufträgen stets auf David zurück, kümmerte sich ansonsten jedoch einen feuchten Dreck um ihn. Selbst dieses Erlebnis hatte nichts daran geändert: Nathanel hatte ihm durch Hagen seinen Dank ausrichten lassen, und damit schien die Sache für ihn erledigt. David war das nur recht.

»Hast du schon mit jemandem gesprochen? Ich meine darüber, was hier in den letzten Monaten so gelaufen ist?«, fragte David vorsichtig und ertappte sich dabei, dass er erneut mit den Händen über die Oberschenkel rieb. Dann legte er sie demonstrativ auf die Tischplatte und schwor sich, dass sie für den Rest des Gesprächs dort liegen bleiben würden.

Nathanel stocherte mit einem Streichholz zwischen seinen Zähnen herum. »Meinst du das Gestöhne über Amelias Größenwahn, das ganze Gequatsche über Ritualopfer oder die Tatsache, dass du dich wegen irgend so einem heißen Zufallstreffer überhaupt nicht wieder einkriegst?«

Davids Finger zuckten verräterisch, und er konzentrierte sich darauf, sie wieder zu entspannen. Nathanel schien sich eh nicht allzu viel aus seiner Reaktion zu machen. Warum auch?

Er wusste schließlich, wie es um David bestellt war, egal wie viel Energie der darauf verwendete, seine Empfindungen abzuschirmen. Das war in Nathanels Nähe ein sinnloses Unterfangen, aber der ältere Mann wusste die Bemühungen zu schätzen. Die meisten von ihnen brachten nicht einmal ansatzweise den Ehrgeiz mit, ihre Intimsphäre vor dem Rest der Meute abzugrenzen.

»Beruhige dich«, sagte Nathanel. »Ich habe weder vor, mich auf deine Kosten zu amüsieren, noch, dir die Leviten zu lesen. Du bist erfahren genug, um zu wissen, wie solche Liebesgeschichten ausgehen.« Mit behäbigen Schritten ging er zur Spüle, goss sich ein Glas Wasser ein und trank es in einem Zug leer. Dabei wandte er David den Rücken zu, der die Gelegenheit ausnutzte und ihn betrachtete. Doch ganz gleich, wie sehr er sich auch konzentrierte, es gelang ihm nicht, hinter die Fassade dieses Mannes zu blicken. Im Gegensatz zu ihm verfügte dieser nämlich über die Gabe, sich vor der Neugierde anderer zu verschließen.

Schließlich drehte Nathanel sich wieder um. »Du hättest Hagens Angebot nicht so leichtfertig ausschlagen sollen. Wärst du darauf eingegangen, dann könntest du jetzt nicht nur mein Verhalten besser abschätzen, sondern auch deine offensichtlichen Bedürfnisse besser kaschieren. Wahrscheinlich hast du gedacht, dass du Hagen kräftig eins auswischst, indem du sein Vertrauen enttäuschst.«

»Sagen wir, ich habe einfach keine Lust, Leichenteile zu fressen, nur weil es Hagen in den Kram passt.« Davids Brauen zogen sich trotzig zusammen.

»Leichenteile fressen? Dafür hältst du das Ritual?« Nathanel schüttelte den Kopf, als könne er so viel Dummheit nicht fassen. »Was hat dieser Trottel dir eigentlich beigebracht, mit dem du dich so lange im Niemandsland versteckt hast?« Als David sich anschickte, eine zornige Antwort zu geben, winkte Nathanel ab und sah mit einem Mal sehr erschöpft aus. »Vergiss es. Das geht mich alles nichts an. Außerdem sollten wir jetzt zusehen, dass wir loskommen. Sonst kommt Hagen noch auf die Idee nachzuschauen, was wir hier unten so lange treiben, obwohl er uns doch einen Auftrag erteilt hat.«

David trat einen Schritt zurück und zog mit dieser erneuten Bewegung Rene Parlas’ Aufmerksamkeit auf sich. Obgleich Parlas unter seinem Maßanzug den wohlgepflegten und durchtrainierten Körper eines Vierzigjährigen verbarg, brach ihm bei der leichten Drehung des Oberkörpers der Schweiß aus. Mit einem wütenden Blick fixierte er David, der in der Nähe der Tür stand, bis Nathanel mit einem Klatschen beide Hände auf den Couchtisch vor ihm legte. Widerwillig wandte Parlas sich seinem Gesprächspartner zu, zückte ein Taschentuch und wischte sich über die Stirn. Es trug nicht zur Verbesserung seiner Stimmung bei, dass er seine Gereiztheit nicht überspielen konnte, obwohl stete Gelassenheit zu seinem Berufsimage gehörte. Allerdings hatten Nathanels Andeutungen ihn bereits an die Grenze seiner Belastbarkeit gedrängt, mehr wollte er nun nicht mehr hinnehmen.

»Ich weiß, dass Sie mir diesen Kerl im Nacken positioniert haben, um mir auf die Nerven zu gehen. Verstehe ich vollkommen, eine alte und immer noch beliebte Taktik. Aber es dürfte doch für Ihre Zwecke ausreichen, wenn er seiner Aufgabe hinter der Tür nachgeht. Ich habe ja nun begriffen, dass Sie mir jederzeit diesen großen, gefährlichen Kerl auf den Hals hetzen könnten, wenn ich mich nicht ordentlich um Ihr Anliegen bemühe. Aber seine Anwesenheit motiviert nicht, sondern lenkt mich ab. Und wir wollen dieses Gespräch doch möglichst rasch über die Bühne bringen, oder?«

Das Treffen hatte von Anfang an unter keinem guten Stern gestanden, weil Nathanel und David zu früh im Haus des Mittelsmanns aufgetaucht waren. Frau Parlas, eine ausgesprochen junge und attraktive Frau, hatte ihnen geöffnet und erstaunt zugesehen, wie ihr Mann diese beiden heruntergekommenen Kerle in ihr Wohnzimmer geführt hatte.

»Ich finde, der Junge macht sich dort ganz gut«, erklärte Nathanel, während er David zugleich einen strengen Blick zuwarf.

Demonstrativ versenkte David seine Hände in den Jackentaschen. Normalerweise machte er sich nicht viel aus dieser Art Job, die eigentlich nur darin bestand, herumzustehen und höchstens einmal jemanden grob bei der Schulter zu packen. Auf die Weise machte er Nathanels Gesprächspartner klar, wer bei den Verhandlungen den Ton angab. Dies war einer der Vorteile, wenn man in Hagens Hierarchie unten stand: Man musste zwar die Drecksarbeit erledigen, aber man machte sich nicht wirklich die Hände schmutzig. Dafür war man zu unwichtig.

Parlas seufzte ergeben. »Dann soll er wenigstens still stehen. Dieses ständige Gezappel irritiert mich.«

Rene Parlas war ein Mittelsmann, über den Hagen mit seiner Konkurrenz in Kontakt blieb. Ein Mann, der sein Einkommen mit seinem Mundwerk verdiente, indem er die eher grobschlächtigen Befehle seiner Auftraggeber wohlklingend weitervermittelte. An diesem Nachmittag musste David nicht befürchten, dass Nathanel ihn plötzlich auffordern könnte, Herrn Parlas mit ein paar gezielten Schlägen auf die Sprünge zu helfen. Selbst Rene Parlas befürchtete dies nicht, denn er hatte weder seinerseits auf einen zweiten Mann bestanden, noch wies sein Anzug irgendwelche verräterischen Ausbeulungen auf, die auf eine versteckte Waffe deuten könnten. Hätte ihm in dieser Gesellschaft auch nicht viel geholfen.

Trotzdem wollte es David nicht gelingen, sich still zu verhalten und einfach nur die cremefarbene Inneneinrichtung zu betrachten, die den Charme eines Designerkatalogs ausstrahlte. Insgeheim ärgerte er sich darüber, dass Nathanel den Vorschlag, sich vor dem Penthouse zu postieren, abgelehnt hatte. David hatte keine Lust mehr, den beiden Männern zuzuhören: zu viel Internes, zu viel Politisches. Er wollte nicht Zeuge werden, wollte nicht darüber nachdenken müssen, was Hagen für ihre Zukunft plante. Es reichte ihm, davon zu erfahren, wenn aus den Plänen Realität geworden war.

Nathanel nahm darauf keinerlei Rücksicht. Vielleicht war er auch der Auffassung, dass David sowieso nicht zuhörte, weil ihm diese zähe Unterhaltung voller Andeutungen und verwirrender Details gleichgültig war. Schließlich hatte er bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit Absicht bewiesen, dass er weder Cleverness noch Ehrgeiz besaß. In diesem Augenblick aber wünschte sich David sehnlichst, so abgestumpft zu sein, wie man es ihm nachsagte. Er konnte seine Ohren einfach nicht vor dem Gespräch verschließen, ganz gleich, wie sehr er sich auch darum bemühte. Das Netz seiner Wahrnehmung war zu feinmaschig, unentwegt blieben Bruchstücke der Unterhaltung hängen.

»Was Hagen vorhat, kann nur mit einem Blutvergießen enden«, erklärte Parlas gerade. »Er überspannt den Bogen schon viel zu lange, nicht nur mit seinen dunklen Geschäften. Will er Sascha wirklich herausfordern?«

Verzweifelt konzentrierte David sich auf ein schlicht gerahmtes Ölgemälde, das eine üppige Nackte zeigte. Die Haut wies einen Stich ins fahle Grau auf, die Konturen wirkten zerlaufen. Die Augen der Frau waren geschlossen, jedoch nicht im Schlaf. Unwillkürlich tauchten Bilder vor Davids innerem Auge auf, Zeugnisse seiner Vergangenheit, die er sorgfältig verdrängt zu haben glaubte. Und nun ... ausgeblutete Leichname, die Haut wächsern grau, auf grünem Grund liegend, mit seltsam verrenkten Gliedmaßen und klaffenden Wunden, die den Blick auf ein verwirrendes Durcheinander in ihrem Inneren freigaben. Er spürte einen Druck im Magen, widerstand jedoch dem Bedürfnis, sich die Hand vor den Mund zu halten.

»Sascha sollte das Ganze nicht so schrecklich eng sehen«, erwiderte Nathanel, wobei seine gesamte Aufmerksamkeit auf die aufsteigenden Blasen in seinem Wasserglas gerichtet war. Rene Parlas mochte unter Druck stehen und David nervös in seinen Jackentaschen kramen, doch Nathanel saß entspannt auf der tiefen Couch, umrahmt von einem Meer aus cremefarbenen Kissen. Er wirkte irritierend gleichgültig, trotz der unheilvollen Neuigkeiten. »Sein Haufen ist derselbe wie vor zehn Jahren, da tut sich doch nichts. Bei Hagen sieht das anders aus, er muss zusehen, wo er bleibt.«

»Ich befürchte, dass ich Ihnen nicht folgen kann«, erklärte Parlas und schenkte Nathanel Wasser nach. Sein eigenes Glas stand weiterhin unberührt da. Vermutlich war ihm mittlerweile eher nach einem Drink zumute.

Nathanel bedankte sich mit einem Nicken, dann sagte er: »Es ist doch nicht überraschend, dass Hagen seine Position stärken will, das liegt in der Natur eines Anführers. Sie zwingt ihn, immer einen Schritt weiter voranzugehen. Außerdem sehnt sich die Meute noch nach etwas anderem, wie wir beide nur allzu gut wissen. Wie soll Hagen die Bedürfnisse seiner Anhängerschaft also befriedigen? Es führt einfach kein Weg an der Vergrößerung des Reviers vorbei. Das als eine aggressive Herausforderung zu interpretieren, ist albern. Sascha würde sich an Hagens Stelle genauso verhalten.«

»Ach, und weil Hagen angeblich bloß seiner Verantwortung als Anführer nachkommt, soll Sascha den völlig überzogenen Revieranspruch als naturgegebene Zwangsläufigkeit akzeptieren und einfach zurückweichen?« Parlas klang belustigt, aber die verkrampften Finger verrieten seine Angst.

»Nun, er könnte natürlich auch darüber nachdenken, sich Hagen anzuschließen.«

Bei diesen Worten konnte David ein Stöhnen nicht unterdrücken. Was Nathanel da vorschlug, war ungeheuerlich.

Parlas fuhr erneut in seinem Sessel herum. Anklagend deutete er mit dem Zeigefinger auf David. »Der Kerl soll endlich still sein!«, forderte er, und seine Stimme überschlug sich.

Mit einem Mal verspürte David den Wunsch, diesem Mann einen Schlag ins Gesicht zu verpassen, wenn auch nur, um endlich die Anspannung loszuwerden. Er trat einen Schritt vor und ballte bereits die Hand zur Faust, doch Nathanel zwang ihn, innezuhalten. Der ältere Mann hatte nämlich instinktiv begriffen, was David durch den Kopf ging. Sogleich hatte sich auf seinem Antlitz ein Schemen ausgebreitet, als wäre er für den Bruchteil einer Sekunde aus dem Licht getreten. Die Gestalt seines Schattens, soeben noch unsichtbar auf dem hellen Sofabezug, veränderte sich. Als der Schatten sich selbstständig aufrichtete, verriet seine verschwommene Kontur, dass er nicht länger die Silhouette eines Menschen ausmachte. Und schon setzte er zum Sprung an.

David hatte keine Chance, sich zu wehren. Er wurde so fest an der Kehle gepackt, dass ihm augenblicklich die Tränen in die Augen stiegen. Gefährlich scharfe, doch durchscheinende Reißzähne drohten die Haut zu durchstoßen. Unter dem Gewicht des Schemens sank er zu Boden, obwohl sein Verstand behauptete, dass er nicht einmal so schwer wie eine Feder sein durfte. Aber David wusste es besser. Es hätte nicht einmal des drohenden Knurrens bedurft, um ihn zur Räson zu bringen. Diesem Gegner, der im Licht des Nachtmittags nicht mehr als ein Trugbild zu sein schien, war er in keinerlei Hinsicht gewachsen. Erst als er seine Muskeln entspannte und somit seine Unterwerfung eingestand, ließ der Griff um seine Kehle nach.

Auch Parlas hatte das furchterregende, heiser klingende Knurren vernommen, das den Raum mit einem Beben erschüttert hatte. Sein Redefluss war schlagartig versiegt, nur sein Mund schnappte weiter auf und zu.

Der Schatten, dessen rasch verbleichende Silhouette an einen Wolf erinnerte, eilte zu seinem Herrn zurück und streifte dabei Parlas’ Schulter. Dieser zuckte derart zusammen, dass seine ruckartig hochgerissenen Knie sein Kinn rammten. Obgleich er sich mit der Haltung der Lächerlichkeit preisgab, starrte er Nathanel lediglich mit schreckgeweiteten Augen an. Nur hochrangige Rudelmitglieder verfügten über die Fähigkeit, sich von ihrem Wolf zu trennen und sich wieder mit ihm zu vereinen. Die anderen blieben für immer mit ihm verschmolzen.

»Dazu solltest du gar nicht ... dazu ... sich von seinem Schatten zu trennen, ist ein Privileg der Anführer«, stammelte Parlas. »Das kann sonst niemand, es ist zu schwierig.«

Nathanel zuckte mit den Schultern, dann erhob er sich mit viel Geächze von der Couch, wobei sein Schatten ihm wie ein Scherenschnitt folgte. Es brauchte einen Augenblick, bis er sich aufgerichtet und die Balance wiedergefunden hatte. »Vertagen wir dieses Gespräch«, sagte er, und seine Hand zitterte vor Erschöpfung, als er sich das Haar hinter die Ohren strich. »Bleiben Sie sitzen, Parlas. Wir finden allein den Weg nach draußen. Immer der Nase nach, sozusagen.«

Als er an David vorbeiging, verpasste er ihm einen Klaps gegen den Oberarm, damit dieser sich in Bewegung setzte. Rene Parlas hingegen rührte sich nicht vom Fleck, nur sein Blick folgte ihnen.

Obwohl Parlas’ Penthouse im achten Stock lag, Nathanel Probleme mit dem Gleichgewicht hatte und David immer noch von der rüden Zurechtweisung benommen war, nahmen sie die Treppe statt den Fahrstuhl. Draußen auf der Straße empfing sie Nieselregen. Nathanel fluchte und zog sich umständlich seine Jacke über, während David scheinbar teilnahmslos den Verkehr beobachtete.

»Hör auf, dich wie ein kleines Mädchen zu benehmen«, sagte Nathanel schließlich. Dabei versuchte er, einhändig die Jacke zuzuknöpfen, was ihm mehr schlecht als recht gelang. »Es gibt keinen Grund, eingeschnappt zu sein, weil ich dich an die Leine gelegt habe.« Endlich warf David ihm einen zornigen Blick zu, auf den er mit einem Seufzen reagierte. »Du wolltest Parlas ins Gesicht springen.«

»Ich hätte mich schon wieder eingekriegt«, behauptete David gereizt.

»Das sah aber anders aus.«

»Ach ja?«

Nathanel beobachtete, wie Davids Hände sich zu Fäusten ballten. Erneut kämpfte er mit den Knöpfen, dann gab er auf. So schlimm war der Nieselregen nun auch wieder nicht. »Dafür, dass du so gern Hagens Fußabtreter spielst, reagierst du ganz schön empfindlich, wenn man dich mal ein wenig rannimmt. Unterwürfigkeit und ein hitziges Temperament passen eigentlich nicht zusammen, sollte man meinen.«

Einen Augenblick lang war David versucht, den älteren Mann einfach stehenzulassen. Er spürte einen blinden Zorn, der danach drängte, sich an etwas abzuarbeiten. Wäre Jannik an seiner Seite gewesen, hätte er ihn wahrscheinlich zu einer kameradschaftlichen Rangelei genötigt. Doch mit Nathanel konnte man so etwas nicht machen: Zum einen wirkte sein vom Schlaganfall gezeichneter Körper zu zerbrechlich für eine körperliche Auseinandersetzung, zum anderen wusste David nur allzu gut, dass er diesem Mann nicht gewachsen war. Das hatte sein eigener Wolf ihm vorhin ohne Zweifel deutlich gemacht, als der Schatten ihn an der Kehle gepackt hatte: Nur ein unterwürfiges Wimmern war zu hören gewesen. Außerdem war allein die Kraft hinter dem Biss des Schattenwolfes, mit dem Nathanel ihn zur Räson gebracht hatte, mehr als eindeutig gewesen. Noch immer brannten die Stellen, wo sich die körperlosen Reißzähne drohend an seine Haut gelegt hatten. Nathanel hatte ihn wie einen ungezogenen Welpen gepackt, und er nahm ihm diese demütigende Geste übel. Allerdings vergaß er darüber nicht den tief empfundenen Respekt gegenüber dem älteren Mann.

»Wie fandest du Parlas’ Reaktion?«, wechselte Nathanel das Thema und blinzelte den Regen aus den Augen.

»Keine Ahnung«, erwiderte David, obwohl ihm sehr wohl eine Meinung dazu durch den Kopf ging. Aber er würde sich hüten, sie Hagens rechter Hand zu verraten.

Nathanel sah ihn prüfend an, und David hätte ihn dafür am liebsten angeknurrt. Dann verzog Nathanel seinen schiefen Mund zu einem wissenden Grinsen, er verkniff sich jedoch einen Kommentar. »Das Ganze interessiert dich also nicht weiter«, sagte er stattdessen. »Eigentlich hätte ich vermutet, dass du ein Vertreter des Gleichgewichts bist.«

»Welches Gleichgewicht?«

»Zwischen den Rudeln«, gab Nathanel geradeheraus zurück. »So empfinden doch die meisten von uns in der Tiefe ihres Herzens. Wir neigen zur Bescheidenheit. Darum ist Hagens Vorstoß ja auch so verwirrend. Ich könnte mir gut vorstellen, dass Sascha eine Weile brauchen wird, bis er die Ausmaße der Veränderungen tatsächlich begreift. Er ist zwar auch nicht gerade ein Herzchen und ziemlich verbohrt in die Idee, dass das Recht immer auf der Seite des Stärkeren ist. Aber Hagens Pläne sind viel zu abwegig für einen Wolf, als dass er sie erraten könnte. Und dieser Parlas wird sich jedenfalls schwer damit tun, es ihm begreiflich zu machen. Viel zu überreizt, der Mann. Wenn der anfängt, nach Angst zu riechen, nimmt ihn niemand mehr ernst. Darüber muss man sich schon so seine Gedanken machen, denn ein Ungleichgewicht zwischen den Rudeln könnte schlimme Folgen haben.«

»Warum erzählst du mir das alles?«, fragte David, der eine ernstzunehmende Beunruhigung in sich aufsteigen fühlte. Er wollte nicht in diese politischen Dinge hineingezogen werden, wollte am liebsten nicht einmal etwas davon wissen. Sein Leben war kompliziert genug.

»Ach, ich rede nur so vor mich hin, weil ich besorgt bin.« Nathanel schaute gedankenverloren in die Luft und schien den unsicheren Ton in Davids Frage absichtlich zu ignorieren. »Ich will einfach nur, dass Sascha begreift, was auf ihn zukommt. Du weißt ja, was passiert, wenn man einen Wolf zu ungestüm in eine Ecke drängt: Er beißt um sich und richtet damit unnötig viel Unheil an. Parlas ist ein Schlappschwanz, der kriegt Sascha garantiert nicht dazu, sich mit den Veränderungen auseinanderzusetzen. Eigentlich sollte jemand mit Maggie reden, schließlich geht es um ihre Straßen. Wenn es zu einem Kräftemessen kommt, wird ihr kleines Revier zum Schauplatz werden, nicht wahr?«

Einen Augenblick lang wirkten die Worte nach, doch bevor David etwas Unbedachtes herausrutschen konnte, raffte Nathanel seinen Kragen mit der rechten Hand zusammen und warf ihm einen müden Blick zu. »Wir haben getan, was Hagen uns aufgetragen hat. Ich werde jetzt zum Palais zurückgehen und etwas schlafen. Du kannst ja noch in der Stadt herumstromern. Aber treib dich besser nicht in den falschen Gegenden herum.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte Nathanel sich um und ging leicht wankend davon. David blieb stehen, während die Worte durch seinen Geist wirbelten, als wollten sie ihn zwingen, eine Meinung zu alldem zu formulieren. Doch genau das wollte er mit allen Mitteln vermeiden. Hagen bestimmte die Wege des Rudels. Er würde einen Teufel tun und sich einmischen. Stattdessen würde er sich auf die Suche nach Jannik machen. Sein Kumpel wäre sicherlich für einen Zuhörer dankbar, bei dem er sich stundenlang über Amelias divenhaftes Verhalten aufregen konnte. Vielleicht hatte er auch noch gar nicht alle Aufträge für sie erledigt, so dass David ihm helfen konnte. Alles war recht, wenn er nur ausreichend Ablenkung fand.

Nachdem David diesen Entschluss gefasst hatte, spürte er eine Empfindung in sich aufsteigen, die ihm das Blut in die Wangen trieb. Er hatte sie in den letzten Jahren immer wieder einmal erlebt, in den letzten Wochen sogar häufiger. Doch heute ließ sich das diffuse Schamgefühl nicht so leicht niederringen wie sonst. Während er Janniks Fährte aufnahm, quälte es ihn unablässig und fragte ihn flüsternd, wie lange es ihm noch gelänge, die Stärke seines Wolfes zu verbergen. Wie lange er es wohl noch aushalten könnte, sich selbst zu verleugnen und sich von den anderen Rudelmitgliedern gängeln zu lassen. Wann er schließlich daran zerbrechen würde. Heute noch nicht, hielt David mit aufeinandergepressten Zähnen dagegen und schritt schneller aus.

Wintermond

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