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Kapitel 3 Die Abrechnung

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David bog um die Häuserecke und war froh, trotz der Eile nach seiner Jacke gegriffen zu haben. Irgendwann in der Nacht hatte der Wind deutlich aufgefrischt und wehte ihm jetzt so herb ins Gesicht, dass die bohrenden Kopfschmerzen vom Wodka mit einem Schlag vergessen waren.

Unwillkürlich fuhr David mit den Fingerspitzen über seine geschwollenen Lippen und war sich dabei nur allzu bewusst, wie der Stoff des Hemdes bei jeder Bewegung über seine wundgebissene Brust rieb – vor lauter Leidenschaft war sie nicht gerade sanft mit ihm umgesprungen. Wenn er nicht so betrunken gewesen wäre, hätte er sich vielleicht verblüfft zurückgezogen. Aber letzte Nacht hatte sich einfach alles richtig angefühlt, seit dem Moment, in dem sie sich gegen seine Brust geschmiegt hatte.

Bei der Erinnerung daran wurden Davids Schritte langsamer, bis er versunken stehen blieb. Er sah wieder, wie sie nackt auf seinem Bett lag, die Arme weit über den Kopf gestreckt, den Rücken durchgebogen. Ein blasser, viel zu filigraner Körper. Das Geflecht von Adern, dicht unter ihrer Haut, pulsierend. Alles an ihr hatte nur darauf gewartet, dass er sich endlich niederließ und sie berührte. Keinen einzigen Gedanken hatte er daran verschwendet, wie unwirklich es war, einer fremden Frau so nahe zu kommen, wie sehr sein Gefühl, als sei ihm jeder Zentimeter ihrer Haut vertraut, der Wirklichkeit widersprach. Er hatte nicht mal einen Anflug von Hemmung verspürt.

Als David plötzlich eine Berührung am Oberschenkel wahrnahm, machte er vor Überraschung einen Satz nach hinten. Doch im nächsten Moment fasste er sich wieder und warf dem Hund einen strafenden Blick zu, der winselnd die Ohren anlegte und verlegen dreinblickte.

»Burek, wenn du dich noch einmal so anschleichst, gibt es einen Tritt. Dasselbe gilt auch für dich, Jannik«, begrüßte David seinen Freund, der in diesem Moment vor ihm zum Stehen kam.

»Du bist verdammt spät dran«, erklärte Jannik, der seinem Hund kurz über den Kopf strich und sich dann an Davids Seite gesellte. Den Reißverschluss seiner Jacke hatte er bis zum Anschlag hochgezogen, so dass der aufgestellte Kragen sein Kinn verdeckte. Die Hände steckten in den Taschen, und den Kopf hatte er zwischen die Schultern gezogen, als wäre er kurz vorm Erfrieren. Doch das war keineswegs der Fall: Jannik hielt diese Körperhaltung für einen Ausdruck von Coolness, während sie bei David den Eindruck hervorrief, es mit einem Schuljungen zu tun zu haben.

Jannik grinste. »Außerdem riechst du immer noch nach Sex und Alkohol – eine seltene Mischung in der letzten Zeit.«

»Ich weiß.« David setzte sich in Bewegung, wobei er sich zwingen musste, nicht zu laufen. Er brauchte auf keine Uhr zu blicken, um zu wissen, dass er schon zu viel Zeit verloren hatte. In seinem Nacken hatte sich ein drohendes Kribbeln ausgebreitet, das sich rasch zu einem festen Griff verdichten konnte, wenn er nicht endlich einen Schritt schneller ging.

»Sie werden dich mit diesem heißen Ritt aufziehen.«

»Ich weiß«, erwiderte David ruppig. »Aber ich kann es nun einmal nicht ändern, okay?«

Jannik lachte verhalten, während er versuchte, mit David Schritt zu halten. »Die letzte Nacht hat sie alle total wild gemacht, diese alten Scheißer. Ich war noch nicht mal richtig wach, da haben die sich schon die Mäuler zerfetzt. Muss ja ganz schön gebumst haben bei dir, wenn ich das richtig mitbekommen habe. Wie wäre es mit einer kleinen Berichterstattung?«

»Nun gib schon Ruhe«, blockte David ab, stimmte dann aber selbst leise ins Gelächter ein, obwohl er versuchte, es hinter dem Schild seiner Baseballkappe zu verbergen.

Jannik hingegen machte es nichts aus, der Welt sein Lächeln zu zeigen. Seine Züge schienen wie gemacht für ein gut gelauntes Strahlen. Während David darüber nachdachte, verging ihm der Frohsinn. Schließlich lebten sie beide nicht in einer Welt, in der man ungestraft über die Straßen schlenderte und über erotische Ausschweifungen plauderte. Janniks unkompliziertes Wesen mochte zwar dazu einladen, aber David kam es so vor, als spränge er vor lauter Übermut auf einer Falltür herum, die jeden Moment aufschnappen und ihn in die Tiefe stürzen lassen konnte. Als ihr Ziel sich im unablässigen Nebeneinander der Hausfassaden abzeichnete, hätte er dem immer noch unbekümmert lächelnden Jannik am liebsten den Ellbogen in die Seite gerammt.

Obwohl die Straße abseits der Hauptschlagadern der Stadt lag, fuhren auch hier unentwegt Autos entlang. Nur die Gehwege waren verwaist – ein Kennzeichen dieser Stadt, in der sich kaum jemand zu einem Spaziergang berufen fühlte. Lieber rottete man sich in den Bussen und U-Bahnen zusammen, als könnte der Herdenschutz alles Unangenehme aufwiegen. Doch in der Straße, auf die David und Jannik zuhielten, nahm auch der Straßenverkehr auf unerklärliche Weise ab. Sie lag verlassen. Trotz der unzähligen Fenster erschien der Gedanke seltsam, dass sich hinter den Scheiben tatsächlich Leben abspielte. Es war, als gäbe es nur Asphalt und Mauerwerk. Selbst der Himmel zeigte sich inzwischen in einem Grau, das an schmutzigen Putz erinnerte.

Als die beiden jungen Männer vor dem Stadtpalais hielten und verlegen von einem Bein aufs andere traten, musterte David es voller Argwohn: Die meisten Gebäude der Stadt sahen wenig einladend aus, weil der Schmutz und die Abgase sich wie eine Patina über alle Fassaden legte. Aber dieser Palazzo, der sich zu beiden Seiten an gewöhnliche Mietblöcke lehnte, wirkte wie ein Fremdkörper. Das lag zum einen an seiner optischen Erscheinung. David zog jedes Mal die Nase kraus, wenn er davorstand. Der Bauherr hatte wahrscheinlich unter einem Überschuss an Nostalgie gelitten und dem Architekten seine verschwommene Vorstellung von einem venezianischen Palais aufgezwungen. Das Ergebnis, reichlich Stuckwerk und verzierte Bogenfenster, sah in diesem Sozialbau-Viertel wie ein schlechter Witz aus. Ein sich langsam auflösender Witz, wie die bröckelige Fassade belegte. Zum anderen aber war das Gebäude von einer selbst für diese Stadt unvergleichlich düsteren Aura umgeben. Hier hinein setzte niemand freiwillig einen Fuß.

»Du bist wirklich spät dran«, sagte Jannik, und seine großen Kinderaugen blinzelten David an.

Nur mit Mühe gelang es David, eine grobe Entgegnung für sich zu behalten. Schließlich hatte Jannik Recht. Trotzdem zögerte er und rieb seine feuchten Handflächen an der Jeans trocken. »Willst du nicht drinnen auf mich warten?«, fragte er Jannik noch, während er schon die Treppen zur Eingangstür hinaufstieg. Aber Jannik winkte nur ab, setzte sich mit Burek zwischen seinen Knien auf die unterste Stufe und machte sich daran, eine Zigarette zu drehen. David warf ihm noch einen neidischen Blick zu, weil sein Freund nicht mit hineingehen musste, dann schob er die schräg in den Angeln hängende Tür auf und verschwand im dunklen Hausflur.

»Na, du Penner«, begrüßte ihn Malik, der unten im Foyer auf einem Stuhl saß und in einer Sportillustrierten blätterte. »Was war denn das für eine Party letzte Nacht? Eure Herrlichkeit kann es gar nicht erwarten, dich in die Finger zu kriegen. Er bittet dich in den Audienzsaal. Hoffentlich hast du dir eine gute Ausrede zurechtgelegt. Aber so, wie du riechst, wirst du wohl kaum dazu gekommen sein.«

David nickte ihm kurz zu und stieg dann die sanft geschwungene Treppe hinauf – oder besser: die verbliebenen Reste davon. Irgendwann einmal hatte jemand beschlossen, das Innenleben des Palais umfassend zu überholen, aber die Arbeiten waren nie zu Ende geführt worden. Bei der breiten Treppe, dem Herzstück des Gebäudes, fehlte das Geländer, und was auch immer die Stufen einmal bekleidet haben mochte, hatte nur einige Klebespuren auf dem Zement hinterlassen. Die hohen Wände waren früher einmal in hoheitlichem Blau erstrahlt, aber jemand hatte ohne System Farbkleckse auf ihnen verteilt, als habe man nach einer passenden Farbe gesucht, sie aber nie gefunden. Flure, Foyer und Treppenschacht waren erst halb fertig und doch schon wieder verwahrlost.

Als David den Audienzsaal betrat, der einen Großteil des ersten Stocks einnahm, stellte er erleichtert fest, dass er verlassen dalag. Dankbar für jede Minute Aufschub sah er sich um, während ihm der Widerhall seiner eigenen Schritte unangenehm auffiel. Er war erst einige Male hierherbestellt worden und hatte nie die Gelegenheit gehabt, sich eine Vorstellung von diesem großen, nahezu leeren Raum zu machen.

Trotz der vielen hohen Fenster fiel nur spärliches Licht ein, da das gegenüberliegende Haus das Palais überragte. Die Wände zeigten sich in einem rauchigen Lavendelton, wo sie nicht von offen liegenden Leitungen durchbrochen waren. Inmitten des Raums stand ein gewaltiger Tisch, über dem eine Pelzdecke mit Brandlöchern und Schmutzflecken ausgebreitet lag.

Gegen die Kühle des Raumes arbeitete ein Heizlüfter an. Die umhergewirbelte Luft war schwer von einem Strauß Lilien, der neben einer Designer-Musikanlage an der Wand stand. Der süßliche Duft nach Verwesung setzte sich in Davids Nase fest, so dass er automatisch ein Würgegefühl verspürte. Seine Aufmerksamkeit wurde jedoch von einer Decke angezogen, die zerwühlt in der Ecke lag. Oder etwas abdeckte. David wollte es nicht so genau wissen. Doch je länger er im Audienzsaal stand, desto mehr setzte ihm der penetrante Geruch zu, bis er schließlich begriff, dass er noch etwas anderes wahrnahm ... etwas Verbranntes.

Gerade als David sich dabei ertappte, wie er langsam rückwärts zum Ausgang schritt, öffnete sich eine Seitentür, und Hagen trat ein. Ohne erkennen zu lassen, was ihm durch den Kopf ging, musterte er David eingehend. Dann schloss er die Tür und stellte sich hinter die Breitseite des Tisches. Er hielt den Blick nach wie vor auf David gerichtet, der mit einem störrischen Zug um den Mund zurückstarrte.

Durch die Seitentür drang die helle Stimme einer Frau, die ununterbrochen etwas erzählte. Amelia führte offensichtlich ein Telefonat, und David war äußerst dankbar dafür. Es reichte ihm vollkommen, Hagens Missmut ausgeliefert zu sein – auf Publikum konnte er gern verzichten. Vor allem wenn es sich dabei um die Gefährtin seines Anführers handelte, die für ihre schneidenden Kommentare berüchtigt war.

Hagens außergewöhnlich kräftige Finger strichen durch den verdreckten Pelz, während David regungslos auf den ersten Zug seines Gegenübers wartete. Doch Hagen verlor sich in der Liebkosung des Fells, und je länger David auf die streichelnde Hand blickte, desto stärker wurde das Kribbeln in seinem Nacken. Als streichle ihn jemand, jemand, der ihn erregen wollte. Gereizt biss er die Zähne aufeinander, und als Hagen ihn endlich anlächelte, war sein Kiefer so verspannt, dass er es kaum erwidern konnte.

»Ist dir vielleicht kalt, David? Nein? Und warum ziehst du dann deine Jacke nicht aus und kommst ein wenig näher?«

Hagens Bariton klang wie immer zu laut in Davids Ohren, und die Vorstellung, sich diesem Mann zu nähern, ließ ihn innerlich zusammenzucken. Seine Erscheinung mit der zur Schau gestellten Virilität schürte sein Misstrauen: das stoppelige Gesicht, die dunkle Kleidung und die derben Lederstiefel. Seht her, schien die Verkleidung zu sagen, ich bin ein ganzer Kerl, ein geborener Anführer, geradlinig und respektabel – ihr könnt mir vertrauen. All das glaubte David ihm nicht. Das seltsame Palais und die verschmutzte Pelzdecke sagten viel mehr über Hagens Wesen aus. Allerdings etwas, das David nur bruchstückhaft in Worte fassen konnte.

Plötzlich sprang Hagen mit einem Satz über den Tisch und landete gezielt vor David. Vor Zorn zog er die Oberlippe hoch und entblößte seine Zähne, während er ihn herausfordernd anstierte. Dann versetzte Hagen ihm blitzartig einen Schlag mit der geballten Faust ins Gesicht. Seine Fingerknöchel schlugen gegen Davids Wangenknochen und ließen die gerade erst verheilte Wunde unter dem Auge erneut aufplatzen.

David taumelte einen Schritt zurück, unterdrückte allerdings den Impuls, nach der brennenden Stelle zu tasten oder sich gar zur Wehr zu setzen. Demonstrativ ließ er seine Arme hängen, denn er wollte Hagen auf keinen Fall herausfordern. Doch der hatte seinen Zorn bereits wieder unter Kontrolle und sah David abermals nut einem prüfenden Blick an, der fast noch unangenehmer war als seine leicht auflodernde Gewalttätigkeit.

»Wirst du jetzt bitte so höflich sein und die Jacke ausziehen?«, fragte Hagen, wobei er sich die Fingerknöchel massierte.

Widerwillig zog David seine Lederjacke aus und ließ sie neben sich auf den Boden fallen. Hagen lächelte zufrieden, dann ging er zum Tisch hinüber und lehnte sich rücklings dagegen. Als Hagen ihn zu sich winkte, folgte David der Aufforderung dieses Mal ohne Zögern, auch wenn er einen gewissen Abstand wahrte. Er hatte nun erkannt, dass der brennende Geruch, der ihm zunehmend zu schaffen machte, von Hagen ausging, als habe der Mann gerade noch neben einem Feuer gestanden. David vermutete jedoch, dass dieser Gestank von etwas ausgelöst wurde, das weitaus unangenehmeren Ursprungs war als ein loderndes Feuer.

»Nun, dann erzähl doch einmal, warum du dich bei deinem Auftrag gestern nicht an meine Anweisung gehalten hast. Schließlich war sie unmissverständlich formuliert: Der gute Rosenboom sollte dazu ermuntert werden, über seine Entscheidung nachzudenken, sich der Pharmafirma und nicht unseren Geschäftspartnern gegenüber zur Loyalität verpflichtet zu fühlen. Du hast ihn besucht, das weiß ich. Aber du hast ihn nicht ermuntert. Unsere Geschäftspartner erzählten, er hätte heute Morgen bei den Verhandlungen eine ganz schön große Klappe gehabt.«

David verschränkte die Arme, denn das Kratzen des Stoffes an seiner Brust war mit einem Mal unangenehm und irgendwie zu intim. »Ich habe mit dem Kerl gesprochen, und er wirkte einsichtig. Es gab keinen Grund, noch eindeutiger zu werden.«

»David, warum benimmst du dich nur wie ein armseliger Idiot?«, fragte Hagen und schüttelte mitleidig den Kopf. »Ich habe dir gesagt, geh auf Nummer sicher. Dieser kleine Wichser Rosenboom glaubt nämlich, uns alle von hinten nehmen zu können. Und was machst du? Du redest ein bisschen mit ihm, und unsere Geschäftspartner reden ein bisschen mit ihm, und dann muss ich Mathol und Leug losschicken. Was glaubst du, wie es deinem Freund Rosenboom jetzt wohl geht?«

David senkte den Kopf. Nachdem er den schwitzenden und zu allem Ja und Amen sagenden Rosenboom verlassen hatte, war ihm klargeworden, dass dieser Mann es sich im Laufe der Nacht anders überlegen würde. Doch anstatt noch einmal zurückzugehen, hatte er sich durch das Nachtleben der Stadt treiben lassen, bis er sich schließlich volltrunken und mit einer Blondine an seiner Brust lehnend auf einer Tanzfläche wiedergefunden hatte.

Hagen schien zu einer ähnlichen Schlussfolgerung gelangt zu sein, denn über seine dunkelblauen Augen hatte sich ein verräterischer Schatten gelegt. »Zumindest hat dich letzte Nacht nicht das schlechte Gewissen gequält, obwohl du deinen Auftrag versaut hast«, bestätigte er Davids Vermutung. »Wir haben uns alle gut auf deine Kosten amüsiert. Wenn Amelia nicht gerade beschäftigt wäre, würde sie dir als Dankeschön sicherlich einen Kuss auf die Wange geben.« Mit verschwommenem Blick griff Hagen sich den Saum von Davids Hemd und zog ihn ein Stück näher zu sich heran.

Instinktiv ballten sich Davids Hände zu Fäusten, und er fixierte die aufgerissene Wand hinter Hagens Schulter.

»Was soll ich nur mit dir machen? Du vermasselst einen Auftrag, der dich eigentlich voranbringen sollte, bei dem du hättest beweisen können, dass du Vertrauen verdienst. Statt den Fehler auszubügeln, besäufst du dich im Niemandsland und vögelst herum. Um dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen, tauchst du hier mit einem halben Tag Verspätung auf. Weißt du, was ich denke? Ich denke, du fühlst dich eigentlich recht wohl, wenn du Händchen haltend mit deiner Freundin Jannik durch die Straßen läufst und Kleinkram erledigst. Es ist verschenkte Liebesmüh, dir eine Aufstiegschance anzubieten, weil du es dir ganz unten in der Rangordnung gemütlich gemacht hast.« Langsam ließ Hagen den zerknüllten Hemdzipfel los und strich ihn wieder glatt. »Deshalb werde ich dich in Zukunft erst einmal nicht mehr überfordern«, fuhr er verträumt fort, die eine Hand auf Davids Hüfte gelegt, während die andere wieder die Pelzdecke streichelte. »Du und Jannik, ihr dürft euch wieder gemeinsam der Drecksarbeit widmen. Da drüben in der Ecke unter der Decke liegt auch gleich welche – bitte entsorgen.«

Als David wenig später aus der schiefen Eingangstür des Palais trat, saß Jannik immer noch auf der Treppe und warf einen Tennisball auf den Gehweg, dem Burek wie ein Pfeil nachjagte. David zog den Reißverschluss seiner Jacke hoch, denn nach der Unterredung mit Hagen war er durchgeschwitzt, und der Wind hatte an Kraft gewonnen. Dann setzte er sich neben Jannik, der vorgab, seinen herumtollenden Hund zu beobachten.

Doch allzu lange hielt dieser seine Zurückhaltung nicht durch: »Und, sind noch alle Körperteile an dir dran, oder hat Hagen eine Trophäe behalten?«

Unwillkürlich fasste David sich an die aufgeplatzte Wunde unter dem Auge, die immer noch leicht blutete. »Nein, ich bin wohl recht glimpflich davongekommen.«

Nun wandte sich Jannik ihm zu und musterte ihn nachdenklich, bevor er sich verlegen mit der Hand über den Kopf fuhr und an den Haarfransen herumspielte. Jannik trug das hellbraune Haar sehr kurz geschnitten, nur am Hinterkopf ragte eine kleine Insel mit langen verfilzten Strähnen empor. David vermutete, dass Jannik darauf hoffte, mit der Frisur verwegen auszusehen und einen Hauch von Gefahr zu verströmen. In Wirklichkeit sah es mehr wie eine verschnittene Bubenfrisur aus.

»Hagen hat eine Schwäche für dich«, sagte Jannik schließlich, und in seinem Gesicht zuckte es leicht, als erwarte er einen Schlag für seine Worte.

Doch David zerschabte nur mit der Schuhspitze die aufgerauchten Zigarettenkippen, die Jannik achtlos auf den Gehweg geworfen hatte. Kurz spielte er mit dem Gedanken, seinem Freund das diffuse Schamgefühl zu beschreiben, das er in Hagens Gegenwart empfand. Jedes Mal, wenn sie einander gegenüberstanden, tat Hagen etwas, von dem er sich unangenehm berührt fühlte. Als wolle Hagen ihm nicht einfach nur klarmachen, dass er das Sagen und David zu parieren hatte, sondern auch andeuten, dass er ihn noch auf ganz anderen Ebenen dominieren könnte, wenn er nur wollte. Allerdings gelang es David nicht, die passende Beschreibung für dieses Gefühl zu finden. Außerdem war es ihm peinlich, dass Hagen solch ein merkwürdiges Spielchen mit ihm trieb.

»Es würde mich nicht überraschen, wenn Hagen mir beim nächsten Mal ein Hundehalsband umlegen würde, an dem er mich spazieren führen kann«, erklärte er, um sein unbestimmtes Gefühl zu beschreiben.

Jannik lachte und klopfte seinem Freund dabei auf die Schulter. Aber David entzog sich wendig der Berührung.

»Das ist nicht witzig«, sagte er, bis er selbst schmunzeln musste und das Gefühl von Erleichterung genoss. Als Burek, angelockt von der guten Laune, angelaufen kam, streckte David seine Hand aus, um ihn zu streicheln. Doch plötzlich hielt der Hund mitten im Lauf inne und fletschte die Zähne. Einen Augenblick lang schaute David irritiert drein, dann fiel ihm wieder ein, was Bureks Instinkte geweckt hatte.

»Hagen hat sich etwas Nettes für uns einfallen lassen: Wir sollen die Reste entsorgen, die wohl noch von einer kleinen Privatfeier übrig geblieben sind. Ich habe sie bereits zum Hinterhof getragen, damit wir das Ganze in den Wagen laden können. Eine ekelhafte Schweinerei. Als ich die Treppe runterging, ist ein Unterarm aus dem Bündel gefallen. Malik hat fast einen Herzinfarkt bekommen, weil man dieses Geschmiere wohl nie wieder richtig aus dem Zementboden rausbekommt. Ich habe ihm gesagt, er soll die Klappe halten, schließlich ist das Zeug im Audienzsaal schon aus der Decke auf den Boden gesuppt. Wenn er sich so über Flecken aufregt, kann er gleich das ganze Palais abfackeln.«

Auf Janniks Gesicht zeichnete sich Ekel ab, den er auch nicht zu vertuschen versuchte – ebenfalls einer der Gründe, warum sich der Junge so schlecht machte: Es gelang ihm einfach nicht, im entscheidenden Moment ein Pokerface aufzusetzen. David hatte es mittlerweile aufgegeben, Jannik zu erklären, warum es nicht immer angebracht war, seine Herzensregungen für jedermann sichtbar zu Markte zu tragen. Jannik zeigte sich resistent gegen gute Ratschläge und wunderte sich weiterhin, warum er von allen wie ein Laufbursche behandelt wurde.

»Scheiße, wir sollen es mit dem Wagen wegbringen?«

David nickte missmutig. Keiner von ihnen konnte Autos oder andere Fortbewegungsmittel sonderlich gut ausstehen.

»Stinkt es stark nach Verwesung?«, fragte Jannik nun mit wenig Hoffnung in der Stimme. »Du weißt doch, dass Burek ganz wild wird, wenn er das wittert. Der wird uns während der Autofahrt die Ohren vollheulen.«

David stand auf und klopfte sich den Staub von der Jeans, während der Hund weiterhin knurrend um ihn herumtänzelte. »Dann tu uns doch beiden den Gefallen und sperr den Köter so lange in eins der leeren Zimmer des Palais ein. Wenn wir den Wagen zurückbringen, kannst du ihn ja wieder holen.«

Bei diesem Vorschlag zeigte sich auf Janniks Gesicht sogleich ein aufmüpfiger Zug, so dass David die Antwort schon kannte, bevor sein Freund überhaupt den Mund aufmachte. »Was ist denn das für eine bescheuerte Idee: Burek hier im Palais einsperren! Damit Malik gleich das Feuer in einem der Kamine anschmeißt, um meinen Hund am Spieß zu grillen? Das kann doch wohl nicht dein Ernst sein?«

Aber David hatte sich bereits umgedreht und war die Treppen hochgestiegen. Er winkte nur müde ab. Dann würde Burek sie eben mit seinem Geheule in den Wahnsinn treiben. Vielleicht hatte es auch sein Gutes: Unter solchen Umständen käme er zumindest nicht dazu, auch nur einen Gedanken an die letzten Stunden zu verschwenden.

Unwillkürlich hielt David inne, als ihn die Erinnerung an feines helles Haar zwischen seinen Fingern einholte. Augenblicklich verspürte er eine Sehnsucht, in die sich eine Spur von Bedauern mischte: Ganz gleich, wie aufregend die letzte Nacht gewesen war, es würde bestimmt keine Wiederholung geben, dafür hatte er selbst gesorgt. Und so, wie diese Meta gekleidet gewesen war, hatte sie sicherlich kein Interesse, sich ein weiteres Mal auf seiner Matratze am Boden zu räkeln.

In seiner Brust baute sich eine prickelnde Anspannung auf, die David seine trüben Gedanken vergessen ließ. Offensichtlich war er nicht der Einzige, den die Erinnerungen an die letzte Nacht gefangen hielten. Zu seiner Verwunderung war es jedoch keine gierige Jagdfantasie, die sich ihm bei dem Gedanken an Meta enthüllte, sondern Freude bei der Vorstellung, diese betörende Frau wiederzusehen. David konnte es kaum glauben. Ein Raubtier, das seine Instinkte überwand? Niemals. Nicht in alle Ewigkeit.

Wintermond

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