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Kapitel 10 Frondienste

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David hob das Gesicht ein Stück weit an und senkte leicht die Augenlider, obwohl Mathol in seinem Rücken an der Wand der Lagerhalle aus Backstein lehnte. Unentwegt klimperte der kräftige Mann mit den Münzen in seiner Hosentasche, während er in einem nervenaufreibend schnellen Rhythmus ein Krächzen von sich gab. Ob es sich dabei um eine Marotte oder eine Taktik handelte, seine Umwelt zu reizen, ließ sich nicht sagen. David versuchte, das Geräusch nach Möglichkeit auszublenden, so wie er am liebsten den ganzen Mathol fortgewünscht hätte. Dieser Mann, dessen Visage nur aus gelben Hauern und einer fliehenden Stirn bestand, weckte in ihm eine tiefe Abneigung. Zwar hatte er bislang nur wenig mit Hagens favorisiertem Schläger zu tun gehabt, aber Mathols boshafte Ausstrahlung bestätigte ohne weiteres die Geschichten, die über ihn im Umlauf waren: ein gewalttätiger Choleriker, der keine besondere Aufforderung benötigte, um seinen niedrigen Bedürfnissen freien Lauf zu lassen.

Eigentlich sollte man einem solchen Mann nicht den Rücken zudrehen, doch David kümmerte sich in diesem Augenblick genauso wenig um Mathol wie um dessen bessere Hälfte Leug. Dem drahtigen Mann mit den zurückgegelten schwarzen Haaren war die Wartezeit zu lang geworden: Er hatte sich an der Hauswand hinabgleiten lassen und döste nun, die Augen verborgen hinter dunklen Brillengläsern, in der Hocke.

Im Augenblick wurden seine Dienste, die darin bestanden, hinter Mathol aufzuräumen, nicht gebraucht. Seine schaufelgroßen Hände hingen entspannt über den Knien, das Gesicht verschwand im Schatten.

Nathanel war vor gut einer Stunde zusammen mit einem nervösen Jannik in der Lagerhalle verschwunden, um sich dort mit dem Vorarbeiter zu besprechen, der einem schmutzigen, aber sehr lukrativen Nebengeschäft nachging. Genau aus diesem Grund waren sie zu fünft zur Feierabendzeit zum Hafen gekommen, und mittlerweile lag dieser Teil der Docks verwaist da. Im diesigen Licht, das von einigen entfernten Scheinwerfern ausging, dort, wo zu dieser späten Stunde noch Ladung gelöscht wurde, tauchte gelegentlich ein orangefarbener Kran über den Wellblechdächern auf.

Mit der Dunkelheit war eine von Feuchtigkeit durchsetzte Kälte vom Wasser aufgestiegen, die auf Davids Lippen eine salzige Spur hinterließ. Zwar konnte er das Meer nicht sehen, aber wenn er sich konzentrierte, spürte er die wundersame Energie, die von ihm ausging. Er überließ sich ganz dieser Empfindung, allerdings nicht nur weil er das Meer mochte, sondern weil er damit auch dem aufdringlichen Mathol einen Strich durch die Rechnung machen konnte, der unentwegt seine Gedanken ergründen wollte. Nichts von dem, womit sich Davids Geist fast schon gegen seinen Willen ständig beschäftigte, ging diesen Mistkerl etwas an.

Aber beliebig lang konnte er die Konzentration nicht aufrechterhalten. Dass sich die Verhandlungen so zäh in die Länge zogen, machte ihn langsam nervös. Er hätte darauf bestehen sollen, Nathanel zu begleiteten, so wie es eigentlich seiner Aufgabe entsprach. Jannik war doch anzusehen gewesen, dass er sich am liebsten in Luft aufgelöst hätte. Eine kaum ernstzunehmende Rückendeckung. Nathanel hatte jedoch nur abgewinkt. Die Sache, die er zu verhandeln hatte, war kompliziert – das regelte man besser in einer entspannten Atmosphäre. Und dafür war der harmlos aussehende Jannik besser geeignet. Trotzdem spielte David jetzt mit dem Gedanken, einfach in dieses fensterlose Lagerhaus reinzugehen und nach dem Rechten zu sehen.

»Hey, du Schwachkopf«, erklang Mathols Reibeisenstimme verdächtig dicht hinter David. »Nathanel hat gesagt, du sollst hier warten. Oder hast du das schon wieder vergessen?« Er legte eine Hand auf Davids Schulter und griff schmerzhaft fest zu.

Langsam drehte David sich um, darauf bedacht, möglichst entspannt zu wirken. Er unterdrückte sogar das Verlangen, die Hand auf seiner Schulter abzuschütteln.

Mathol hatte sich an ihn herangepirscht, vollkommen geräuschlos, sich seiner Talente bedienend. Nun stand er mit erwartungsvollem Ausdruck da, die gelblichen Zähne zu einem Grinsen entblößt. David war klar, dass dieser Mann nur auf eine Gelegenheit hoffte, um die Warterei mit einer Keilerei zu verkürzen. Obgleich David es allzu gern darauf hätte ankommen lassen, riss er sich zusammen. Er würde Mathol nicht die Genugtuung verschaffen, sich auf seine Kosten zu amüsieren, weil er selbst sich im Kampf zurückhalten musste. Dieser Schläger stand schließlich in der Rangordnung weit über ihm.

»Was ist, hat es dir die Sprache verschlagen?« Eine Spur von Enttäuschung schwang in der Frage mit, während sich der Druck des Handballens auf Davids Schlüsselbein verstärkte. Mathol rückte noch ein Stück näher, und David wusste, dass er eigentlich zurückweichen und etwas Beschwichtigendes sagen sollte. Stattdessen erwiderte er Mathols herausfordernden Blick.

Als habe er nur auf dieses Zeichen gewartet, richtete sich der Wolf in David auf und glitt in eine lauernde Haltung.

Von einem Moment zum anderen überschlugen sich Davids Sinne, griffen ineinander über und verstärkten sich auf verwirrende Weise. Seine Haut fühlte sich an, als führe sie plötzlich ein Eigenleben. Der Wolf wartete bloß darauf, seinem Ruf zu folgen, mit ihm zu verschmelzen, damit er Mathol endlich auf seinen gebührenden Platz verweisen konnte. Trotzdem stand David lediglich da und senkte den Blick. So verführerisch das Angebot des Dämons auch war, er würde ihm keine Gelegenheit bieten, durch einen Kampf in der Hierarchie aufzusteigen. In dem Moment, in dem er in Hagens Rudel eingetreten war, hatte David beschlossen, den untersten Rang niemals zu verlassen, auch wenn sein Wolf ihn noch so sehr bedrängte.

»Nun, Pussycat. War das etwa schon alles? Nicht einmal ein leises Knurren?« Obwohl Mathol ein rasselndes Lachen ausstieß, war seine Enttäuschung regelrecht greifbar. Solch eine hastige Unterwerfungsgeste war nicht nach seinem Geschmack, und noch weniger passte sie zu den Erwartungen, die er in Nathanels Liebling setzte. Dieser junge Kerl, der immer so tat, als könne er nicht bis drei zählen, strahlte eine Kraft aus, die Mathol unbedingt brechen wollte. Anscheinend musste man härtere Bandagen auffahren, um ihn aus der Reserve zu locken.

Mit wenig Hoffnung verpasste er dem stur nach unten blickenden David einen Fausthieb in die Rippen, was dieser kommentarlos hinnahm. Mathol wandte sich Leug zu, der aus seinem Dämmerzustand erwacht war und das Schauspiel beobachtete, ohne eine Miene zu verziehen.

Mathol hob die Arme an, als wolle er sagen: Was kann man da nur machen? Aber dann wirbelte er herum und holte weit aus, um David eine schallende Ohrfeige zu verpassen. Doch David war bereits unerwartet geschmeidig zurückgewichen, so dass der Schlag ins Leere ging. Kaum hatte sich Mathol von seinem missglückten Angriff erholt, hielt er auf David zu, der Fuß um Fuß zurücksetzte. Dabei spannte er unwillkürlich die Fäuste an und sah Mathol erneut herausfordernd an.

»Was soll das Geglotze?«, geiferte Mathol. »Spielst dich hier auf und ziehst dann doch wieder den Schwanz ein, wenn es darauf ankommt.« Das Gesicht blass vor Wut, holte er abermals zum Schlag aus.

Unvermittelt blieb David stehen, so dass Mathol fast in ihn hineingelaufen wäre. »Wenn du das noch einmal versuchst, breche ich dir das Handgelenk«, drohte David, und sein Wolf stieß ein erregtes Heulen aus.

Mathol zuckte vor Überraschung zurück. Bevor er jedoch seine Fassung zurückerlangen konnte, wurde er von einem Ruf abgelenkt, dem er sich nicht widersetzen konnte. Und auch David, der soeben nichts anderes als seinen Gegner wahrgenommen hatte, schnellte herum. Die beiden Männer reagierten wie gut trainierte Kampfhunde, deren Besitzer nach ihnen gepfiffen hatte. Und so war es auch: Nathanel war in Begleitung eines stämmigen Mannes im Blaumann auf den Vorhof getreten und kam nun leicht schlingernd auf sie zu.

Ohne sich eines Wortes bedienen zu müssen, strahlte Nathanel etwas aus, das in Davids Nacken sofort ein Prickeln auslöste. Automatisch senkte er den Kopf, lockerte seine Schultermuskulatur, die eben noch bis zum Zerreißen angespannt war, und konzentrierte sich auf die Stiefelspitzen. Nur mit Mühe konnte er den Drang beherrschen, auf Nathanel zuzulaufen und sich an seine Seite zu drängen. Mathol dagegen huschte schnurstracks zu seinem Partner hinüber, der immer noch in der Hocke saß und vorgab, weiterhin zu dösen. Nathanel brauchte keine großen Gesten, um Respekt einzufordern.

»Freut mich zu sehen, dass ihr Kerle vor Tatendrang nur so strotzt«, sagte er, die Stimme heiser vor Spott. »Wir haben heute nämlich eine Fuhre mehr zu erledigen. Unser Freund Bremen hier hat einen neuen Geschäftspartner drüben beim Fluss aufgetan, den wir gleich zum ersten Mal beliefern werden. Darum hat es auch etwas länger gedauert als sonst. Wir mussten uns erst handelseinig werden. Eine Tour ins Grenzgebiet verdient schließlich eine Gefahrenzulage.«

»Halsabschneiderei«, sagte Bremen und kratzte sich das stoppelige Kinn. Dabei wirkte er nicht im Geringsten verärgert, vielmehr so, als nötige ihm Nathanels hartnäckige Verhandlungsweise Respekt ab.

Nathanel grinste schief, dann wandte er sich wieder seinen Leuten zu, deren Aufmerksamkeit ausschließlich auf ihn gerichtet war. »Wir werden uns aufteilen: Mathol und Leug übernehmen die beiden bekannten Touren, Jannik und ich den Trip zum Fluss, damit ich mir den neuen Kollegen mal genau anschauen kann. David bringt den Bonus ins Palais.«

»Warum macht Jannik nicht die Sache mit dem Bonus und ich begleite dich zum Fluss?« David gab sich möglichst gleichgültig, dennoch konnte er es nicht unterlassen, wieder aufzublicken.

»Weil ich nicht will, dass sich der Bonus auf dem Weg zum Palais selbstständig macht«, erklärte Nathanel mit einem Achselzucken, Janniks nervöses Gezappel an seiner Seite ignorierend. »Außerdem gibst du doch so gern den einsamen Wolf. Also los jetzt.«

Bremen führte sie in einen schwach beleuchteten Gang, der in die Kellerräume unter dem Büroturm der Lagerhalle führte. Während Nathanel und Bremen voranschritten, hatte David darauf geachtet, das Schlusslicht zu bilden. Mit einigen Stößen trieb er den vor ihm gehenden Jannik an, der sich immer wieder mit einem fragenden Blick umdrehen wollte. Einmal wandte sich auch Mathol um und zeigte eine abstoßende Fratze, indem er sein beeindruckendes Gebiss entblößte. David ließ die Drohung regungslos an sich abprallen. Nach dem, was gerade passiert war, würde er um ein Kräftemessen mit diesem versessenen Dreckskerl ohnehin nicht herumkommen. Das Wissen, dass er dabei zwangsläufig unterliegen musste, wenn er an seinem Plan festhielt, kratzte allerdings an seinem Stolz. Und einen Augenblick lang war David sich nicht sicher, ob es sich um seinen eigenen Stolz oder den seines Wolfes handelte.

Mit einigem Gefluche öffnete Bremen das widerspenstige Sicherheitsschloss einer Feuerschutztür und ließ sie in einen Raum eintreten. Die Decke war so niedrig, dass David den Kopf einziehen musste. Die Gerüche und Eindrücke, die ihm entgegenschlugen, sorgten dafür, dass er unwillentlich einen Schritt zurücktrat. Zigarettenrauch, verschwitzte Leiber, Angst und gelangweiltes Ausharren. Aber darunter lag noch etwas anderes, etwas, das er nicht so leicht zuordnen konnte: Wunden, die noch nicht ganz verheilt waren, Drogen und eine mit Gewalt und Drohungen erzwungene Gefügigkeit.

Wie kann sich Hagen nur die Finger am Menschenhandel schmutzig machen?, dachte David. Dabei wusste er genau, warum ihr Anführer sich darauf eingelassen hatte und seine Leute mit in diesen Sumpf zog. Wie auf ein Zeichen hin breitete sich in Davids Brust eine elektrisierte Anspannung aus: Der Jagdinstinkt des Wolfes war angesichts dieser Beute geweckt, und es kostete David viel Kraft, ihn zu ignorieren.

In dem Raum saßen elf Frauen auf Holzbänken, einige drückten beim Eintreten der Männer hastig ihre Zigaretten in den überquellenden Aschenbechern aus, andere zuckten nicht einmal zusammen. Dunkle Haare, helle Haare, alles war vertreten, nur eine Gemeinsamkeit konnte David auf die Schnelle ausmachen: Die Frauen waren alle sehr jung. Auf den zweiten Blick bemerkte er, dass es sich zumindest bei einer der geduckt dasitzenden Gestalten um einen jungen Mann mit außergewöhnlich zarten Gesichtszügen handelte. Eigentlich hatte es David gar nicht so genau wissen wollen.

»Gut«, sagte Nathanel, dem das wortlose Starren der Eingepferchten nichts auszumachen schien. »Mathol und Leug nehmen ihren Teil der Ladung gleich auf einen Schlag mit, Freund Bremen will nämlich Feierabend machen.«

Bremen nickte beflissen und bekam bei dem Gedanken an die vor ihm liegenden Stunden einen verträumten Blick. Burritos und Bier vor dem Fernseher – was hier gerade ablief, war für ihn nicht mehr als das übliche Tagesgeschäft.

»Ihr nehmt den Transporter. Lasst euch, was den vereinbarten Betrag für die Lieferung angeht, nicht beschwatzen. Ihr wisst ja, wie alles abläuft. Euch gehört die vordere Reihe.« Nathanel schnitt mit einer Handgeste die Gruppe in zwei Hälften. »Jannik und ich übernehmen die da drüben – auf geht’s, Mädchen!«

Nathanel winkte ungeduldig mit der Hand, als würde er eine widerspenstige Kuhherde zusammentreiben. Tatsächlich bewegten sich die jungen Frauen voller Unwillen, gerade so, als hätten sie diesen stickigen, überfüllten Raum als Heimathafen liebgewonnen. Sie zupften an ihren Tops, strichen sich übers Haar und blickten zurück, ob sie auch nichts auf den Sitzbänken zurückgelassen hatten.

Jannik stand neben David und schaute ihn flehend an. Der brauchte den Blick nicht zu erwidern, um zu wissen, dass sein Freund nach wie vor darauf hoffte, nicht von ihm getrennt zu werden. Seine Unsicherheit umgab Jannik so deutlich, als wolle er sie allen Anwesenden geradezu auf die Nase binden.

Mathol ging selbstredend sofort auf diese Art von Herausforderung ein. »Wo hast du denn deinen Köter gelassen?«, fragte er mit einem verschlagenen Funkeln in den Augen.

»Das geht dich einen Dreck an«, erwiderte Jannik so schnell, dass seine Furcht vor diesem Schlägertypen gar nicht erst überhandnehmen konnte. Wenn es um Burek ging, legte er eine erstaunliche Wehrhaftigkeit an den Tag.

Doch Mathol grinste nur gehässig. »Das Vieh liegt garantiert wieder einmal auf dem Sofa von der alten Ruth. Wie jedes Mal, wenn dir verboten wird, ihn mitzunehmen. Was meinst du, wer von uns beiden seinen Job heute Nacht wohl schneller erledigt hat und zuerst bei ihr aufschlägt?«

»Mann, Mathol, halt die Klappe und setz dich mit deinem Trupp endlich in Bewegung. Es ist verdammt eng hier drinnen«, fuhr David dazwischen, dessen Nerven mittlerweile blanklagen. Als Mathol nicht reagierte, sondern sich demonstrativ die Lippen leckte, hätte er dem Mann fast auf den Mund geschlagen, damit dieser die nächsten Tage an nichts Essbares denken mochte.

Und genau in diesem Moment forderte Nathanel seine volle Aufmerksamkeit: »Das Mädchen in der Ecke gehört dir, David.« Er zeigte auf ein zierliches Geschöpf von höchstens zwanzig Jahren, dem das blonde Haar strähnig ins Gesicht hing. Dann schaute es auf und sah David ablehnend aus seegrünen Augen an.

David machte einen Schritt zurück, als hätte ihn der Schlag getroffen. Die verwahrloste Gestalt sah auf den ersten Blick aus wie Meta. Auch als sie mit widerwilligen Bewegungen auf ihn zukam und er erkannte, dass ihre Nase deutlich breiter, das Gesicht eher rundlich als oval war und das Haar einen dunklen Haaransatz aufwies, konnte er sich trotzdem kaum wieder beruhigen. Mit aufgerissenen Augen starrte er sie an, unfähig, ein Wort zu sagen. Einer Frau, die Meta so ähnlich sah, in einem klaustrophobisch engen Raum gegenüberzustehen, während Mathol und Leug grunzend ein Lachen unterdrückten, brachte ihn völlig aus der Fassung.

David wollte sich umdrehen und einfach gehen, aber da rief Nathanel ihn bei seinem Namen. Dabei drang kein Laut über seine Lippen mit dem hinabhängenden Mundwinkel. Er rief ihn auf eine Art, der sich David unmöglich entziehen konnte. Augenblicklich vergaß er seinen Fluchtgedanken und ging auf Nathanel zu, dem seine eben demonstrierte Überlegenheit herzlich egal zu sein schien. Eigentlich hätte David dafür dankbar sein müssen, stattdessen verletzte diese Art der Behandlung ihn. Nathanel rief – er kuschte, so sah es aus. Wenigstens hatten die anderen nichts davon mitbekommen, sonst hätte Mathol sich darüber lustig gemacht.

»Deine Aufgabe besteht lediglich darin, das Mädchen ins Palais zu bringen und dafür zu sorgen, dass sie dort auch bleibt«, erklärte Nathanel unterdessen im selben gleichgültigen Ton, wie er zuvor die anderen Aufträge erteilt hatte.

Die junge Frau hatte sich bereits neben David gestellt, und obwohl ihr der Widerwille deutlich anzumerken war, drängte sie sich an seine Seite, als suche sie Schutz. David widerstand dem Bedürfnis, von ihr abzurücken, steckte jedoch die Hände in die Jackentaschen und ballte sie dort zu Fäusten. Wenigstens glich ihr Geruch nicht einmal ansatzweise dem von Meta, und auch sein Wolf schien nichts anderes als eine mögliche Beute in ihr zu sehen.

»Ist sie für Hagen?« Sofort ärgerte David sich darüber, dass er die Frage gestellt hatte.

Nathanel musterte ihn abwägend, dann antwortete er bedächtig: »Bring sie einfach in das Palais und sorg dafür, dass sie dort bleibt.«

»Gut.« David bekam vor Anspannung kaum die Zähne auseinander. »Und wie soll ich sie, verdammt noch mal, dorthin bekommen? Jannik und du werden ja wohl den Van nehmen. Oder wollt ihr vielleicht zum Fluss laufen?«

Nathanel zuckte lediglich mit der Schulter. »Wie du zurückkommst, ist dein Problem.«

»Du kannst ja auf ihr reiten«, schlug Mathol vor, ehe er sich seinem Trupp anschloss und den niedrigen Raum verließ.

David wartete ab, bis die anderen nach und nach die Feuerschutztür passiert hatten, dann deutete er der Frau mit einem Kopfnicken an, ihm zu folgen. Sie trug ein lilafarbenes Charlestonkleidchen aus zerknittertem Polyester und Tanzschuhe. Über den Arm hatte sie sich eine Jacke aus Kunstpelz gehängt, und von ihrer Schulter baumelte eine vollgestopfte Beuteltasche. Einen Moment lang dachte er darüber nach, ob sie etwas enthalten könnte, das die junge Frau vor der nächtlichen Kälte schützen würde.

Oben an der Tür wartete Bremen auf sie, um das Lagerhaus hinter ihnen abzuschließen. Der Van drehte gerade, und David erhaschte einen Blick auf Janniks Gesicht hinter dem Steuerrad, kreidebleich vor Anspannung. Dann verschwand der Van um die Ecke. Von Mathol und seinem Trupp war längst nichts mehr zu sehen, vermutlich würde er sich tatsächlich beeilen, um Jannik vor Ruths Haus abzufangen. Dem jungen Mann stand heute Nacht vermutlich nicht nur ein Schrecken, sondern auch noch eine gehörige Abreibung bevor. Umso mehr sollte ich mich ranhalten, dachte David und warf erneut einen Blick auf die Tanzschuhe seiner verächtlich ins Leere blickenden Begleitung.

Bremen hatte sich zu ihnen gesellt und machte sich mit einem Brummen bemerkbar. »Ich könnte euch beide in die Stadt mitnehmen«, schlug er vor. Als David ihn lediglich abwartend anschaute, hob der feiste Mann beide Hände hoch. »Sie könnte die Fahrt doch ruckzuck abarbeiten.«

Davids Augenbrauen zogen sich zusammen, ansonsten stand er einfach nur da, die Hände in den Taschen vergraben. Die junge Frau spuckte auf den Boden. Bremen winkte ab, die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben. Während er zu seinem Wagen ging, rief er noch über die Schulter: »Na, dann lauft euch mal schön den Arsch ab, ihr zwei Hübschen. Immer am Kai entlang und dann weiter geradeaus. Nach einer Stunde Fußmarsch kommt ihr zur U-Bahn, keine Ahnung, ob die um diese Uhrzeit noch fährt.«

David sparte sich eine passende Entgegnung. Obgleich es mittlerweile kalt und diesig war, würde ihm eine nächtliche Wanderung durch die Stadt nichts ausmachen. Sie müssten zwar Grenzgebiet passieren, aber darum machte er sich keine Gedanken. Wenn die Tanzschuhe ihren Geist aufgaben, würde er eben ein Taxi anhalten, auch wenn ihm diese Idee nicht schmeckte. Er hasste es schon, selbst zu fahren, doch als Beifahrer trieb es ihm den Angstschweiß auf die Stirn.

In der Zwischenzeit hatte die junge Frau sich ihre Jacke übergezogen und Zigaretten aus der Tasche geholt, wobei Make-up und ein kleines Notizbüchlein herausgefallen waren, die sie eiligst wieder zurückgesteckt hatte, als wolle sie keine falsche Aufmerksamkeit erregen. Mit überkreuzten Fußknöcheln stand sie nun da und blickte den Rauchschwaden hinterher.

Da er endlich aufbrechen wollte, stieß David sie kurz an, doch sie schlug sofort nach seiner Hand. Überrascht beobachtete er sie dabei, wie sie einige Züge von der Zigarette nahm und dabei leise mit sich selbst redete. Ihre Angst paarte sich mit einem gewissen Trotz. David konnte die aufkeimende Wut wie einen roten Lichtschein sehen. Bevor sie sich in etwas hineinsteigern konnte, packte er sie am Oberarm und zog sie einen Schritt voran.

Doch es war bereits zu spät: Die Frau begann, in einer ihm unbekannten Sprache zu fluchen und nach ihm zu schlagen. Dabei hielt sie die brennende Zigarette immer noch in der Hand, und die Glut streifte David seitlich am Kinn. Zwar hatte er im nächsten Moment ihre Hände unter Kontrolle, aber das Brennen in seinem Gesicht und ihr beharrlicher Versuch, sich seinem Griff zu entwinden, ließen ihn brutal zugreifen.

Ihr Schimpfen ging nahtlos in ein winselndes Betteln über, und David kämpfte gegen das Verlangen an, sie zu Boden zu ringen und sie unter seinem Gewicht zu begraben, bis sie kein Geräusch mehr von sich gab. Er sah das Bild ihrer Unterwerfung deutlich vor sich, der sich windende Frauenkörper, der plötzlich zusammenzuckte und dann still dalag. Als David begriff wessen Vision er da gerade auszuleben gedachte, ließ er die Handgelenke der jungen Frau endlich los. Verfluchter Wolf!

Verstört schnappte er nach Luft und behielt sie unnatürlich lang in den Lungen, während die Frau jammernd ihre Unterarme betastete. Zweifelsohne würden sie am nächsten Tag mit Blutergüssen bedeckt sein. Als sie David schließlich einen Blick zuwarf, war kein Trotz mehr zu entdecken, aber auch nicht mehr so viel Angst. Für die junge Frau waren die Fronten geklärt. David brauchte noch einen Moment, bis er sich wieder im Griff hatte, dann ging er mit der Gewissheit los, dass sie ihm folgte. Dabei war er froh um jeden Schritt, den er tun musste, und dankbar für die Kühle auf seinem Gesicht.

Wintermond

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