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Kapitel 2 Herbsterwachen
ОглавлениеAus einer Musikanlage dudelte, unterlegt mit einem feinen Knacken, Gesang.
Jesus walking an the water, sweet Jesus walking in the sky.
Wer war das, die Violent Femmes?
Einen Augenblick lang geisterte der wirre Gedanke an eine Zeitreise durch Metas Kopf – war sie vielleicht wieder die Kunstgeschichtsstudentin, deren WG-Genossinnen nicht einmal am frühen Morgen vor Rockmusik zurückschreckten? Doch diese Vorstellung wurde sofort von einem dumpf pochenden Schmerz beendet, der Meta gut vertraut war. Genau wie der ausgetrocknete Mund und die Säuregrube in ihrem Bauch. Das Pochen zwischen ihren Schenkeln erinnerte sie daran, dass ihr nicht nur ein grauenhafter Kater, sondern auch die Begegnung mit ihrem unbekannten Liebhaber der letzten Nacht bevorstand. Denn dass die Nacht vorbei war, verriet das monotone Verkehrsrauschen, das mit der kühlen Luft ins Zimmer getragen wurde.
Widerwillig öffnete Meta die Augen und blinzelte ins graue Morgenlicht. Zu ihrer Erleichterung fand sie sich allein auf dem Bett wieder. Auf einer Matratze auf dem Boden, wie sie sich sogleich korrigierte. Ein schmaler Raum mit hohen, roh verputzten Wänden und altersschwachen Doppelfenstern, von denen eins einen Spalt weit geöffnet war. In einer Ecke stand neben einer Stereoanlage, aus der die anstrengende Musik erklang, ein Karton, der bis obenhin mit Kleidung vollgestopft war. In was für einer Absteige war sie bloß gelandet?
Auf dem Dielenboden entdeckte Meta zu ihrer Erleichterung einen Zipfel ihres Kleides. Als sie sich jedoch hastig aufsetzen wollte, um danach zu greifen, überkam sie schlagartig Übelkeit, und sie ließ sich langsam wieder in das Kissen zurücksinken.
Während sie mit ihrem widerspenstigen Körper um die Gewalthoheit kämpfte, wanderte ihr Blick zu einer offen stehenden Tür, aus der Wasserdampf wallte. Mit pochendem Herzen erblickte sie die seitliche Körperlinie eines Mannes. Ein nackter Oberkörper, Jeans, barfuß. Angezogen von diesem Anblick, richtete Meta sich ein wenig auf, bis sie einen Oberarm zu sehen bekam, über dessen Ellbogen eine dunkelviolette Prellung aufblitzte. Dann blickte sie in das Gesicht des Mannes, indem sie in den Spiegel schaute, vor dem er stand und sich rasierte.
Er hatte den Kopf leicht in den Nacken gelegt und schabte mit der Rasierklinge den Schaum von der Kehle weg. Eine langsame, selbstversunkene Bewegung, die Klinge von unten nach oben führend. Obwohl seine Augen auf den Spiegel gerichtet waren, schien er sich nicht zu sehen. Auch dass Meta sich im Zimmer regte, entging ihm wohl. Konzentriert spülte er die Klinge unter dem fließenden Wasser ab, bevor er sie erneut ansetzte.
Meta raffte die Decke vor der Brust zusammen und nahm den Anblick in sich auf, denn sie befürchtete, später keinen direkten Blick, von Angesicht zu Angesicht, mehr wagen zu können – nicht nach dieser Nacht. Sollte sie die Neugierde auch noch so sehr quälen.
Die Art, wie dieser halbnackte Mann sich vor dem Spiegel rasierte, irritierte sie. Sie versuchte, sich diesen Anblick als Gemälde vorzustellen. Kein Bild, für das ihre Kollegen einen Markt gesehen hätten: zu altmodisch und auch einen Tick zu archaisch, eine Art rauer Eros. Was konnte man heutzutage mit einem so antiquierten Bild von Männlichkeit schon anfangen?, hörte sie sie philosophieren. Die Männer, mit denen sich Meta für gewöhnlich umgab, waren von einem ganz anderen Schlag: gebildet, schmal und biegsam – Männer von Welt, moderne Männer eben. Trotzdem konnte sie ihren Blick nicht von diesem seltsamen Exemplar lösen.
Der Mann hatte dunkles, etwa streichholzkurzes Haar, das vor Nässe strubbelig abstand. Beim Rasieren vernachlässigte er die Konturen seiner Koteletten, so dass sie eigentlich viel zu lang und zu breit waren. Die Gesichtszüge waren ausgesprochen scharf geschnitten, hohe Wangenknochen, schwarze gerade Brauen und eine markante Nase dominierten das Gesicht. Die Augen standen eine Spur zu dicht beisammen, und gemeinsam mit dem schwarzen Wimpernkranz strahlten sie eine Eindringlichkeit aus, der Meta sich nicht entziehen konnte. Im Gegenteil – sie waren so aufsehenerregend, dass sie ihr einen Schauer über den Rücken jagten. Die untere Augenpartie war leicht geschwollen und dunkel verfärbt, was nach der letzten Nacht jedoch kein Wunder war. Das passte auch zu dem blassgrauen Film, der die natürliche Bräune der Hautfarbe abschwächte. Doch als der Mann den Kopf zur Seite drehte, erkannte Meta, dass es keineswegs nur Augenschatten waren. Unter dem linken Auge prangte ein Bluterguss, der von einer verschorften Platzwunde gekrönt wurde. Überrascht vom Anblick dieser Verletzung ließ Meta sich zurück ins Kissen fallen.
Einen Augenblick später legte der Mann die Rasierklinge beiseite, griff sich ein Handtuch und trat ins Zimmer. Während er sich die letzten Schaumspuren aus dem Gesicht wischte, sah er Meta schweigend an. Sattgesehen?, schien er sie zu fragen. Er hatte ihren neugierigen Blick also doch bemerkt und ihr die Zeit zugestanden, ihn ausgiebig zu beobachten.
Wortlos hängte er das Handtuch über einen Holzstuhl neben der Tür, dann ging er zu dem Karton hinüber. Metas Blick hing unverwandt an ihm, aber als sie einige vernarbte Striemen auf seinem Rücken entdeckte, griff sie nach ihrem Kleid und floh ins Badezimmer.
Immer schön durchatmen, redete Meta auf sich ein, während sie sich hastig abduschte und dabei mit zittrigen Fingern ihren Körper inspizierte. Alles noch an Ort und Stelle, stellte sie erleichtert fest. Und so wird es auch bleiben. Wenigstens hatte der Adrenalinschub ihrem Kater ein Ende bereitet.
Mit den Fingerspitzen wischte sie den Wasserdunst vom Spiegel und musterte sich rasch, bevor er wieder beschlug. Ihr schmales Gesicht war bleich wie immer, nur ihre Lippen waren eine Spur geschwollen. Mit den Fingern kämmte sie durch ihr Haar, das ein Stück über das Kinn reichte, und strich es sich hinter die Ohren.
Du ziehst dir jetzt dein Kleid an, schnappst dir Handtasche und Schuhe, rufst noch einmal »Ciao« über die Schulter und suchst dir auf der Straße ein Taxi, versprach sie ihrem zerrüttet aussehenden Spiegelbild. Und danach wird diese Nacht unter dem Motto »One-Night-Stand – nicht zum Weitererzählen geeignet« abgelegt.
Als Meta durch den Türspalt linste, war von dem dunkelhaarigen Mann keine Spur zu sehen. Auf der glattgestrichenen Bettdecke lag ihre mit Kristallen besetzte Clutch, davor standen ihre T-Straps, als müsse sie nur noch in sie hineinspringen und durch die Tür am anderen Ende des Zimmers ins Freie flüchten.
Aus dem Raum neben dem Badezimmer erklang das Scheppern von Geschirr, und Meta sog Kaffeeduft ein. Bevor sie einen klaren Gedanken fassen konnte, stand sie im Türrahmen und spähte in die Küche, die einem Verschlag glich, obwohl durch eine Fensterluke Sonnenlicht einfiel. Zu ihrer Enttäuschung hatte sich der Mann ein Hemd übergezogen. Er warf ihr einen kurzen Blick über die Schulter zu, dann holte er von einem Regal eine zweite Tasse herunter und schenkte Kaffee ein. Offensichtlich hatte er nicht damit gerechnet, dass Meta sich zu ihm in die Küche verirren würde, da er ihr doch den Fluchtweg freigehalten hatte.
»Guten Morgen«, sagte er, als er ihr die Tasse hinhielt. Er versuchte sich an einem Lächeln, das seine Augen jedoch nicht erreichte. Diese leuchteten in einem tiefen Blau, eingegrenzt von einem Band, das von seinem schattigen Farbton her an jene Linie erinnerte, die den Horizont markiert. Eine betörende Komposition.
»Der Kaffee macht ihn auf jeden Fall besser«, erwiderte Meta und wusste dann nicht weiter. Um ihre Verlegenheit zu überwinden, trank sie einen Schluck und stellte erleichtert fest, dass ihr Magen die warme Flüssigkeit gnädig aufnahm. »Ich heiße übrigens Meta.«
»David.« Eine tiefe Stimme mit einem leicht verhaltenen Ton, der vermuten ließ, dass dieser Mann lieber leise sprach.
Meta musste sich eingestehen, dass David auch frisch geduscht noch sehr anziehend roch. Während sie ihn dabei beobachtete, wie er einen Schluck Kaffee trank, durchfuhr sie plötzlich eine Erkenntnis: Dieser Mann war definitiv ein paar Jahre jünger als sie, höchstens Mitte zwanzig. Sein dunkler Typ und die ernsthafte Ausstrahlung mochten zunächst darüber hinweggetäuscht haben, aber nun im Morgenlicht blieb kein Zweifel. Ein Student, dachte Meta. Oder schlimmer: irgendein heruntergekommener Schläger, wenn man seine alten und frischen Verletzungen bedachte.
Während sie vor lauter Verlegenheit ihre Aufmerksamkeit dem Schlafzimmer zuwandte, in dem noch immer die Musik von Violent Femmes lief, blieb ihr Blick an einem Bild hängen, das unter einem der Fenster an der Wand lehnte.
Ein streng geometrisch aufgeteiltes Bild mit exakt umrissenen Flächen, die wie mit einem Chirurgenbesteck herausgeschnitten und fein säuberlich zusammengesetzt wirkten. Blasse Farben, kaum Akzente oder gar ein Lichtspiel. Meta glaubte, von einer ungewöhnlichen Perspektive aus auf den Ausschnitt eines modernen Bauwerks zu blicken. In dem Bild gab es etwas Vertrautes, und sie war kurz davor, es zu fassen zu bekommen.
»Das ist interessant – von wem ist das?«, fragte sie und wollte schon auf das Bild zugehen. Dann spürte sie, dass die Stimmung mit einem Mal von einer Anspannung in nur mühevoll verborgene Ungeduld umgeschlagen war. Augenblicklich bereute sie ihren Abstecher in die Küche.
David stellte die Tasse in die Spüle, dann rieb er sich mit der flachen Hand über den Mund und sah Meta nachdenklich an. »Es tut mir wirklich leid ...«, setzte er an. »Ich weiß, es klingt wahrscheinlich wie eine billige Ausrede, aber ich bin noch verabredet und muss jetzt wirklich langsam los. Etwas Wichtiges.«
Meta fuhr zusammen, als habe er ihr eine Unflätigkeit an den Kopf geworfen. Ihre Mundwinkel zuckten zu einem künstlichen Lächeln nach oben, aber selbst dies misslang. Mit einer fahrigen Geste stellte sie die Tasse ab und ging zu ihren Sachen.
David blieb mit verschränkten Armen im Türrahmen stehen. »Wenn ich nicht verabredet wäre, könnten wir ruhig –«
»Nein, lass gut sein«, schnitt Meta ihm das Wort ab und ging mit schnellen Schritten auf die Ausgangstür zu.
»Warum lässt du mir nicht einfach deine Telefonnummer da?«, fragte David, der nun hinter ihr herlief.
Meta warf ihm einen spöttischen Blick zu, den sie sogleich bereute. Anscheinend tat ihm der grobe Korb, den er ihr erteilt hatte, leid. Ich sollte wirklich nicht eingeschnappt reagieren, sagte sich Meta, während sie in der offenen Tür stand. Schließlich habe ich mich aufgedrängt.
»Mach’s gut«, sagte sie so freundlich, wie es ihr unter diesen Umständen möglich war, und gönnte sich noch einen Blick in seine ausdrucksstarken blauen Augen. Dann zog sie die Tür hinter sich ins Schloss, bevor David noch etwas sagen konnte, und hastete die verwahrloste Treppe hinunter. Draußen wehte ihr ein kühler Wind entgegen. Der Sommer war endgültig vorbei.