Читать книгу Wintermond - Tanja Heitmann - Страница 15

Kapitel 9 Familienbande

Оглавление

Die Deckenstrahler waren so raffiniert ausgerichtet, dass man fast glaubte, in einen sonnenüberfluteten Himmel zu blicken, über den sich dralle Engelchen räkelten und an ihren Harfen zupften. Dabei war die gewölbte Decke des Dea bestenfalls fünf Meter hoch. Meta kam einfach nicht dahinter, bei wem der Besitzer des Restaurants diese Deckenarbeit in Auftrag gegeben hatte. Allerdings war es ohnehin viel interessanter, wer diese perfekte Beleuchtung installiert hatte. Diesen Menschen müsste man in die Finger kriegen, damit er sich einmal der Galerie annahm. Im Augenblick waren die Lichtquellen dort so ungünstig ausgerichtet, dass die allgegenwärtigen weißen Fliesen stark spiegelten und von den Exponaten ablenkten.

Bevor Meta diesen Gedanken weiterspinnen konnte, bemerkte sie, dass etwas nicht stimmte. Der Geräuschpegel im Restaurant hatte sich verändert. Meta wandte den Blick von der Decke ab, wobei ihr schmerzender Nacken verriet, wie lange sie schon das unerreichbare Paradies angestarrt hatte, und schaute in die Gesichter ihrer Familie.

Ihr Bruder Georg war mit seiner Frau Antonia auf Reisen, was jedoch keinen großen Verlust für die Runde darstellte. Wenn Georg nicht über Finanzdinge sprechen konnte, redete er lieber gar nicht. Trotzdem war es Antonia nach drei Jahren Ehe immer noch nicht gelungen, sich im Familienkreis Gehör zu verschaffen. Vermutlich war es schade darum, denn Meta dachte, dass ihre von Schüchternheit geplagte Schwägerin einen süßen Kern enthielt. Aber Georg bewachte seine Frau genauso herrisch wie alle anderen Privilegien, die er sich im Schweiße seines Angesichts verdient hatte. Daher hatte Meta bislang keine Chance gehabt, Antonia besser kennenzulernen.

Gegenüber Meta saß ihre Mutter Elise, deren äußere Erscheinung sie und ihre Schwester geerbt hatten: eine anmutige Gestalt mit ungewöhnlich gleichmäßigen Gesichtszügen und naturblonden Haaren. Von ihrer Mutter hatte Meta außerdem gelernt, wie man achtsam Kalorien zählte, da der von der Natur geschenkte ätherische Körper auf keinen Fall ruiniert werden durfte. Nur mit hervortretenden Wangenknochen, schmalen Schultern und kantigen Handgelenken gelang es einem, sich von der Masse abzusetzen.

Es brauchte einen Moment, bis Meta begriff, dass der dezent geschminkte Mund ihrer Mutter geschlossen war – das hatte sie also aus ihren Gedanken geholt. Elise hatte ihren detaillierten Bericht über den Wochenendausflug an die Küste unterbrochen, weil ein bekanntes Ehepaar samt Nachwuchs das Dea betreten hatte. Der vielleicht vierzehn Jahre alte Sohn hatte sich die Hälfte seines Schädels kahlrasiert. Es sah ganz so aus, als wäre seine Mutter mitten in der Prozedur ins Badezimmer geplatzt und habe ihm den Rasierapparat entrissen. Die andere Seite des Kopfes zierten nämlich halblange dunkelblonde Locken.

Elise schien dermaßen in ihre Beobachtung vertieft zu sein, dass sie ihren kleinen Vortrag einfach vergessen hatte – wie auch das Risotto und ihre schweigende Familie. »Nathalia sollte diesem Bengel einfach jeden Abend ein Sedativ auf seine Pizza streuen, das würde ihr viel Ärger ersparen. Ich werde das ihr gegenüber bei Gelegenheit einmal andeuten«, sagte Elise selbstversunken, während ihre Fingerspitzen die Leinentischdecke glattstrichen. Sie hatte eine Schwäche für Skandale, obwohl sie es niemals zugeben würde. Zu ordinär.

Links von Elise saß ihr Ehemann, Metas Vater Lorenz, und widmete sich seinem blutigen Steak. Obwohl er schon weit in den Sechzigern war, war er ein Bild von einem Mann: groß und breitschultrig, der Haarkranz, der ihm geblieben war, immer noch dunkel. Alles an ihm wirkte beeindruckend, von seiner Stimme über seinen Familienstammbaum bis hin zu seinem Bankkonto. Die Mensch gewordene Verkörperung des Wortes stattlich. Manchmal hatte Meta den Verdacht, dass er sich unter all den jungen Frauen, die ihm – laut ihrer Mutter – damals verliebte Augen gemacht hatten, Elise auswählte, weil sie mit ihrer zierlichen Figur und ihrem vordergründig zerbrechlichen Wesen seine Stattlichkeit noch unterstrich. Denn auch seine Eitelkeit zeigte gelegentlich beachtliche Ausmaße, die er jedoch durch seinen trockenen Humor wieder ausglich. Wie immer, wenn ihre Eltern nebeneinandersaßen, staunte Meta darüber, wie unterschiedlich die beiden waren und wie perfekt sie einander ergänzten.

Lorenz spürte Metas Blick und deutete auf die Schale mit Rosmarinkartoffeln, die vor ihm stand. »Nimm dir ruhig welche«, bot er an, dann galt seine Aufmerksamkeit wieder dem Steak.

Hastig wandte Meta den Blick von den appetitlichen Kartoffeln ab. Rechts von ihr saß ihre jüngere Schwester Emma, in der einen Hand die Gabel mit einem Stückchen Huhn, während die andere Hand unter dem Tisch unablässig die in der Schachtel verbliebenen Zigaretten durchzählte. Dabei lag die schon arg zerfledderte Verpackung auf ihrem nackten Oberschenkel. Ihr Kleid war so weit nach oben gerutscht, dass nicht einmal der Kellner es übersehen konnte, der ihr gerade Wasser nachschenkte.

Wie schon so oft fragte Meta sich, wie viel von Emmas Attitüde inszeniert war und was als unschuldig durchgehen konnte. Der geistesabwesende Blick, mit dem Emma durchs Leben schritt, wies auf Letzteres hin, doch je mehr Zeit Meta mit ihrer Schwester verbrachte, desto unsicherer wurde sie diesbezüglich. Schon als sie noch Kinder gewesen waren, war es Meta nie gelungen, ihrer Schwester nahezukommen. Damals hatte sie es auf den Altersunterschied von fast acht Jahren geschoben, wenn Emma alle Annäherungsversuche mit einem gelangweilten Achselzucken abgetan hatte. Sie hatte diese Zurückweisung einfach akzeptiert, vor allem, da es dem Rest der Familie genauso erging.

Später hatte Meta dann herausgefunden, dass es sehr wohl möglich war, Emma zu begeistern. Zum Beispiel, wenn irgendwelche Schulkameraden die schwülstigen Tagebucheinträge ihrer großen Schwester vortrugen. Das hatte Emma gefallen, doch Metas Zorn und wüsten Beschimpfungen waren wiederum einfach spurlos an ihr abgeprallt. So hatte Meta sich auch noch für ihre Tränen geschämt, weil sie ihre Hilflosigkeit bewiesen.

Aus diesem Grund glaubte Meta in manchen Momenten auch, dass die scheinbar so ehrgeizlose und oft apathisch wirkende Emma in Wirklichkeit ein durchtriebenes Luder war, das sein Vergnügen in Gemeinheiten fand. Dieser Eindruck hatte sich verstärkt, nachdem sie Emma als junge Erwachsene einige Male außerhalb des familiären Rahmens erlebt hatte.

Der Gedanke an die Galerieeröffnung vor drei Jahren trieb Meta noch heute die Schamesröte ins Gesicht. Emma vertrieb sich die Zeit in einer Nische mit einem Maler und bemühte sich dabei nicht sonderlich, den Quickie vor den anderen Gästen zu verbergen. Die Frau des Künstlers war weiß wie die Kacheln der Galerie geworden, als sie begriff, wer sich dort so schamlos aufführte. Sie sagte weder ein Wort, noch rührte sie sich, bis ihr Mann sie mit erhitztem Gesicht ruppig am Ellbogen fortführte. Schon ein paar Stunden später waren alle Arbeiten dieses Künstlers verkauft gewesen. Rinzo rieb sich vor Begeisterung die Hände. Emma antwortete auf Metas empörte Frage, was sie sich dabei bloß gedacht habe: »Die Nummer war mehr Kunst als dieser ganze Scheiß hier.«

Karl amüsierte sich damals bestens über diese Dreistigkeit. Als Emma jedoch später einmal bei einem Essen mit gemeinsamen Bekannten behauptete, dass Karl in seinem Leben immer Höchstleistungen anstrebte, weil sein bestes Stück zu klein geraten sei, packte er sie so grob am Oberarm, dass Emma überrascht aufschrie. Wenn es um seine Ehre ging, verstand Karl keinen Spaß. Trotzdem hielt Meta sich zurück, als er ihre Schwester daraufhin als »verlogenes Miststück« beschimpfte. Denn sie hatte das Gefühl, dass Emmas Worte nicht so sehr Karl vorführen, sondern sie brüskieren sollten. Sie sollte genau wissen, dass es ein Leichtes für ihre Schwester war, die tatsächliche Größe von Karls bestem Stück herauszufinden. Offensichtlich fand Emma Gefallen daran, Meta zu demütigen.

»Wie geht es Karl eigentlich?«, fragte Emma in diesem Moment mit ihrer stets gelangweilten Stimme. Mit einem Klirren ließ sie die Gabel auf den Teller fallen und schaute dann mit großen Augen in die Runde, als verstünde sie nicht recht, warum plötzlich alle Blicke auf ihr ruhten.

»Gut«, erwiderte Meta mechanisch, »denke ich.«

»Du hättest ihn mitbringen sollen, Schatz. Das ganze Hin und Her ist doch lächerlich auf die Dauer.« Elise fuhr hektisch mit ihrer Gabel durch das Risotto, um davon abzulenken, wie sehr ihr dieses Thema zusetzte. Sie schwärmte für Karl. In ihren Augen war er der perfekte Schwiegersohn – einmal davon abgesehen, dass er ihre Tochter in regelmäßigen Abständen verließ. »Lorenz, du hast ihn doch neulich beim Squash getroffen. Warum hast du ihn nicht eingeladen? Karl ist doch sonst auch jeden Sonntag mit von der Partie.«

Metas Vater zuckte gleichgültig mit der Schulter. Seit Karl seine erste offizielle Auszeit von Meta genommen hatte, fand der Bursche keine Gnade mehr bei ihm. Ein Luftikus, der sich mit edlen Mineralwassersorten auskannte. Die ganze Stadt schien voll von solchen Männern zu sein, und solange sich Meta nicht entscheiden konnte, einen echten Kerl nach Hause zu bringen, hielt er sich bei diesem Thema zurück.

»Sicherlich geht es Karl supergut«, sagte Emma, ohne eine Miene zu verziehen.

»Wie meinst du das?« Bei Meta stellten sich sämtliche Härchen auf.

»So einen Mann wie Karl lässt man nicht zappeln. Das solltest du eigentlich wissen, mein Kind«, fuhr Elise fort, als habe es den kleinen Zwist zwischen ihren beiden Töchtern gerade nicht gegeben. Trotzdem tauchten zwei grellrote Flecken auf ihren Wangen auf, die selbst das sauber aufgetragene Make-up nicht zu verdecken vermochte.

»Ich lasse Karl in keinerlei Hinsicht zappeln«, erklärte Meta, die viel lieber ihrer Schwester auf den Zahn gefühlt hätte, als ihre Mutter zu beruhigen. »Karl braucht eine Auszeit, und ich denke, die soll er sich ruhig auch nehmen.« Mittlerweile hasste Meta das Wort Auszeit.

»Du würdest ihm ausweichen, sagt er.« Elise hielt sich die Hand vor den Mund, als ob sie das nicht hätte sagen dürfen.

Daher weht also der Wind, dachte Meta. Die beiden haben miteinander gesprochen. Soso.

Neben ihr knisterte es, als Emma aufstand und den metallisch schimmernden Stoff ihres Kleides glattstrich. »Entschuldigt mich«, sagte sie und verschwand mit der Zigarettenschachtel in Richtung Toilette.

Am liebsten wäre Meta ihr gefolgt, doch ihre Mutter hatte mit dem Thema Karl noch nicht abgeschlossen, nun, da sie sich ohnehin schon verplappert hatte. »Er versteht ja, dass dir die Situation zu schaffen macht. Aber er befürchtet, dass sich der Abstand zwischen euch unweigerlich vergrößert, wenn ihr euch nicht weiterhin trefft.«

Meta stöhnte leise. Das war genau die Art von verquerer Rede, die sie nicht mehr hören konnte. »Auszeit bedeutet, dass man sich nicht sieht, Mama«, sagte sie betont gelassen, dabei ballte sie ihre Hand so sehr um die Gabel, dass ihr die Nägel ins Fleisch schnitten. Lorenz, der ihre Anspannung bemerkte, legte ihr fürsorglich eine Hand auf den Unterarm, sagte aber nichts.

»Kind ...« Elise stockte, dann streckte sie den Rücken durch und spitzte die Lippen. Augenblicklich fühlte sich Meta wieder wie ein kleines Mädchen, das von seiner Mutter einer Missetat überführt wird. »Gibt es da jemand anderen?«

Vor lauter Verblüffung blickte Meta zu ihrem Vater hinüber, aber der hatte sich in seinem Stuhl zurückgelehnt und sah sie nachdenklich an. Er war offensichtlich genauso gespannt auf die Antwort wie ihre Mutter. Fast hätte Meta befreit aufgelacht und gesagt: »Ja, ich habe mich in einen jungen, verwahrlosten Kerl verliebt. Es ist einfach so passiert. Deshalb kann Karl sich auch eine Auszeit nehmen, bis er schwarz wird, dieser untreue Bastard.«

Aber so leicht war es nicht. Zum einen war sie schon lange mit Karl zusammen und teilte mit ihm neben dem gemeinsamen Freundeskreis so viele Erinnerungen und Interessen, dass sie ihn nicht von einem Tag auf den anderen aus ihrem Leben tilgen konnte. Trotz allem, was passiert war, vermisste sie ihn. Außerdem gab es ihr ein Gefühl von Unsicherheit, dass er ihrem Leben nicht weiterhin die gewohnte Struktur verlieh. Zum anderen waren nun schon zwei Wochen vergangen, seit David das Bild in der Galerie abgegeben hatte, und seitdem war er nicht wieder aufgetaucht. Zwei schreckliche Wochen lang zerbrach sie sich nun also schon den Kopf, ob sie ihn überhaupt jemals wieder zu Gesicht bekommen würde. Er war mittlerweile so etwas wie ein verschwommenes Traumbild geworden, über das sie sich bei Tag den Kopf zerbrach und das ihr nachts das Bett wärmte.

»Meta-Schatz.« Lorenz’ brummige Stimme riss sie aus den Gedanken. Sie warf ihrem Vater einen scheuen Blick zu, den dieser mit einem ermunternden Lächeln erwiderte. Wenn ihr Vater sich dazu herabließ, auf dieses Thema einzugehen, dann war es ernst. »Du weißt, dass Karl mir persönlich herzlich gleichgültig ist, aber um dich mache ich mir Sorgen. Du siehst in der letzten Zeit mitgenommen aus und bist seltsam unausgeglichen. Wenn dein Zustand nicht darauf zurückzuführen ist, dass du dich in einen anderen Mann verliebt hast, dann ... Vielleicht fehlt Karl dir doch mehr, als du dir eingestehen magst.«

Meta blinzelte, während ihre Mutter beipflichtend nickte. Als Elise sich anschickte, ihre Hand über den Tisch auszustrecken, um ihre Tochter tröstend zu berühren, stand Meta so schnell auf, dass sie die Tischplatte anstieß und Emmas volles Wasserglas umkippte. Den Moment allgemeiner Verwirrung nutzend, entschuldigte sie sich und gab vor, ebenfalls in Richtung Toiletten zu entschwinden.

Stattdessen bog sie zur Bar ab, sah allerdings gerade noch rechtzeitig ihre Freundin Marie samt Ehemann und einigen Bekannten dort stehen. Nach einem wenig eleganten Schlenker hielt sie auf die Vorhalle des Restaurants zu, ignorierte den Türsteher, der ihr verwundert die Tür aufhielt, und trat ins Freie. Der frische Herbstwind begrüßte stürmisch ihre nackten Arme und Beine und trug den Geruch von Tabak zu ihr her.

Emma saß mit übereinandergeschlagenen Beinen auf der Brüstung, in der einen Hand eine brennende Zigarette, in der anderen ein halbvolles Glas. Ohne ein Wort zu verlieren, nahm Meta es ihr aus der Hand und stürzte den goldfarbenen Inhalt in einem Zug hinunter. Der Whiskey brannte ihr in der Kehle und half, ihre angespannten Nerven ein wenig zu beruhigen. Emma sah ehrlich überrascht aus, denn ein solches Verhalten passte einfach nicht zu ihrer selbstbeherrschten Schwester.

»Was sollte der dumme Spruch, dass es Karl supergut geht?« Statt einer Antwort zuckte Emma lediglich mit den Schultern. Doch Meta verspürte keine Lust, ihr diesen Seitenhieb einfach durchgehen zu lassen. Dafür hatte Emma in den letzten Jahren zu oft ausgeteilt, ohne selbst einzustecken. »Sorgst du dafür, dass es Karl supergut geht?«

»Ach, Blödsinn«, sagte Emma betont gleichgültig. In einem Bogen schnipste sie die Zigarettenkippe gegen die edle Eingangstür aus poliertem Olivenholz. »Was soll Karl denn mit mir anfangen? Der steht doch nur auf sich selbst.«

»In der Hinsicht wurdet ihr beide allerdings hervorragend zusammenpassen«, sagte Meta und drückte ihr das leere Whiskeyglas in die Hand. Dann kehrte sie ins Restaurant zurück.

Erneut glitt Metas Zeigefinger über ihre Notizen. Vor einigen Tagen hatten sie vier Arbeiten eines Künstlers namens Ziegler ausgestellt, der neu mit ihnen zusammenarbeitete, und es lagen schon erste Anfragen für drei Bilder vor. Dafür hatte sie im Vorfeld ordentlich Überzeugungsarbeit leisten müssen. Nun würde sich zeigen, ob die Verhandlungen eine Eigendynamik entwickelten und die Preise damit in die Höhe trieben, oder ob das Ganze sich als Rohrkrepierer erwiese.

Eine andere Galerie hatte es bereits mit einigen seiner Arbeiten über »Körper und Formen in Bewegung« versucht und war – gelinde ausgedrückt – wenig erfolgreich gewesen. Dann hatte sich Rinzo des Malers angenommen, und dank seiner neuen Muse hatte Ziegler eine erstaunliche Wandlung hingelegt: Aus dem Studenten der Malerei, der in der Tasche ein Empfehlungsschreiben seines Professors und den Kopf voll mit Theorie und Kunstgeschichte hatte, war quasi über Nacht ein waschechtes Individuum geworden, der Cheap-Art auf geklauter Tonpappe verewigte. Punk sells – besonders wenn man es mit einer durch und durch bürgerlichen Klientel zu tun hatte. Da regnete es gewöhnlich Banknoten. Was Rinzos Gespür für Geld anbelangte, so war das noch legendärer als sein Auge für Talent.

Während Meta das Notizbuch schloss, überkam sie ein schlechtes Gewissen. Zwar hatte sie für Zieglers Pseudo-Dilettantismus, wie sie dessen Arbeiten insgeheim nannte, getan, was man von ihr erwartete, aber auch keinen einzigen Handschlag mehr. Während sie Kaufwilligen gegenüber Zieglers spektakulären Ansatz betonte, wunderte sie sich insgeheim, dass anscheinend niemand bemerkte, wie sie vor Langeweile fast umkam.

Vielleicht war sie auch unwillig gewesen, weil die Woche viel Spannenderes geboten hatte: Obwohl Eve es ihr am liebsten untersagt hätte, hatte Meta tatsächlich die Malerin aus der Vorstadt angenommen, die sich mit einigen Aquarellen vorgestellt hatte. Verwaschene, nur erahnbare Impressionen von Küstenlandstrichen. Wenn Meta die mittelgroßen Bilder betrachtete, hatte sie das Gefühl, als befände sie sich inmitten eines lichtdurchfluteten Traums.

Rinzo nannte solche Bilder nur abfällig Postkartenmotive. Diese Art von Malerei widersprach den Grundsätzen der Galerie, Grundsätze, denen Meta begeistert zustimmte, nachdem sie nach dem Studium in einem biederen Auktionshaus gearbeitet hatte. Mittlerweile drängte sich ihr jedoch zunehmend der Verdacht auf, dass ihr Geschmack nicht ganz so mondän war, wie sie immer geglaubt hatte. Sie entpuppte sich allmählich als Liebhaberin einer schön anzuschauenden Innerlichkeit – allein für dieses Eingeständnis hätte Eve sie vermutlich sofort der Galerie verwiesen. Diese weiß gekachelte Welt war schick, schrill und mehr ein Schlag in die Magengrube als ein in sanfte Töne gefasster Tag am Meer.

Trotzdem nahm Meta sich der Aquarelle an und fand nach langem Grübeln sogar einen Käufer: einen älteren Herrn namens Mehringer, der alle paar Monate in der Galerie vorbeischaute und sich geistreich über die verschiedensten Motive zu unterhalten wusste. Letztes Jahr hatte Meta ihm eine wunderschöne Marmorbüste vermitteln können. Dabei hatte er ihr mit aller Ausführlichkeit sein Haus an der Küste beschrieben, das er mit seiner gebrechlichen Frau während der warmen Jahreszeit bewohnte. An dieses Haus hatte Meta beim Betrachten der Küstenlandschaften denken müssen, und ihr Gespür hatte sich als richtig erwiesen. Der Herr mit dem schlohweißen Haar war begeistert, und wenn der Verkauf zweier Aquarelle auch nicht gerade ein Vermögen einbrachte, so war Meta doch mehr als zufrieden mit sich.

Obwohl sie den Verkauf zunächst für sich behalten wollte, hatte Eve an diesem Vormittag überraschenderweise ihre Nase in Rahels Buchhaltungsunterlagen gesteckt.

»Von diesen Bildern habe ich noch nie etwas gehört. Und wer ist, bitte schön, dieser Ernest Mehringer, der sie gekauft hat?« Bei der Eröffnung des Verhörs kam Eve Meta so nahe, dass diese unweigerlich einen Schritt zurücksetzen musste.

»Seit wann hast du etwas gegen Geld?«, entgegnete Meta, während sie sich um ein Pokerface bemühte.

»Die paar Kröten? Die stehen doch wohl kaum in Relation zu dem Imageschaden, der entstehen würde, wenn unsere Klientel erfährt, dass wir solche Albernheiten vertreten.«

»Also weißt du doch, um welche Bilder es sich handelt.« Langsam gewann Meta ihre Selbstsicherheit zurück, und mit ihr breitete sich Ärger über Eves anmaßendes Verhalten aus. »Was soll dieses scheinheilige Getue, da du doch offensichtlich die Verkaufliste durchgegangen bist?«

Eve biss sich auf die Unterlippe, als wolle sie sich für ihre Unbesonnenheit bestrafen. Aber so leicht ließ sie sich nicht unterkriegen. »Noch habe ich nicht mit Rinzo über deine neue Affinität zu Kitsch gesprochen ...«, setzte Eve an, um sofort von Meta unterbrochen zu werden.

»Komm mir ja nicht mit einem Erpressungsversuch, Eve! Ich glaube, du vergisst, dass ich diese Galerie zusammen mit Rinzo ins Leben gerufen habe und dein Job in erster Linie darin besteht, die Laufkundschaft zu betreuen. Es tut mir leid, dich daran erinnern zu müssen, aber allmählich habe ich diese seltsamen Spielchen satt, auf die du dich in der letzten Zeit verlegt hast.«

»So was ...«, brachte Eve atemlos hervor, doch anscheinend wusste sie nicht, was nun folgen sollte. Auf ihren Wangen hatten sich hektische Flecken ausgebreitet, ihre Lippen zuckten. »Dieser Hinweis auf meine Tätigkeit war ja wohl überflüssig«, stieß sie schließlich hervor.

»Tatsächlich? Ich hatte den Eindruck, als hättest du es vergessen.« Mit einem Mal war Meta die Auseinandersetzung leid, und die Tatsache, Eve in ihre Schranken verwiesen zu haben, bescherte ihr kein Hochgefühl. »Du brauchst dir nicht die Mühe zu machen und bei Rinzo Bericht zu erstatten. Ich werde selbst mit ihm die Sparte besprechen, die ich eröffnet habe. Tut mir leid, dass du künftig gezwungen sein wirst, Kitsch zu verkaufen.«

Danach hatte Eve auffallend früh die Galerie verlassen, während bei Meta ein schaler Nachgeschmack zurückblieb, erzeugt von dem Wissen, dass sie für diesen Sieg sicherlich noch würde zahlen müssen. Nachdenklich nippte sie an ihrem Kaffee und verzog das Gesicht, weil dieser inzwischen eiskalt war. Genau wie ihr Büro, wie sie in einem Anflug von Melancholie feststellte.

Die Galerie lag verlassen da. Rahel hatte schon vor einiger Zeit den Kopf zur Tür hineingesteckt und ihr gesagt, dass sie zu ihrer Theaterprobe wolle und die Alarmanlage in den Ausstellungsräumen bereits aktiviert habe. »Sieh zu, dass du nach Hause kommst. Spann doch einmal in der Badewanne aus, oder tu dir sonst etwas Gutes«, hatte Rahel sie noch aufgefordert. Doch Meta war die Vorstellung, allein in ihrem Apartment zu hocken und sich Wein nachzuschenken, wenig verlockend erschienen. Allmählich schmerzte ihr jedoch der Rücken vom vielen Sitzen, und draußen herrschte eindringliche Dunkelheit. Sie wollte gerade aufstehen, um sich einen neuen Kaffee zu machen, als plötzlich ein Lichtschein unter ihrer Bürotür zu erkennen war. Obwohl ihr der Gedanke an einen Einbruch abwegig erschien, spürte Meta, wie ihr das Herz dumpf bis zur Kehle schlug. Angespannt blieb sie sitzen und lauschte. Als es an ihrer Tür klopfte und diese sogleich aufschwang, stieß sie einen leisen Schrei aus und krallte sich an der Schreibtischplatte fest.

Karl blickte sie mit großen Augen an, während er die Tür hinter sich schloss. »Ich habe dich doch hoffentlich nicht zu sehr erschreckt?«

Meta schüttelte nur stumm den Kopf, unfähig, die Angst von einem Moment auf den nächsten abzustreifen.

Karl hielt sich kurz die Hand vor den Mund, als wolle er seine Verlegenheit überbrücken, und tatsächlich gelang ihm sogar ein einnehmendes Lächeln. Neben seinen Mundwinkeln zeichneten sich Grübchen ab, und seine gerade Nase bog sich leicht nach unten – ein Merkmal, das er von seinem Vater geerbt hatte und auf das er sehr stolz war. Meta schaute ihn bloß an und hoffte, er würde sie nicht umarmen wollen. Karl schritt zwar auf sie zu, aber so nahe wagte er sich nicht an sie heran. Stattdessen blieb er vor ihrem Schreibtisch stehen und zuckte ratlos mit den Schultern.

»Es tut mir leid, dass ich hier so reinschneie. Aber bei dir zu Hause bin ich bereits gewesen, und da ich noch den Galerieschlüssel habe, wollte ich es einfach mal hier versuchen und nachfragen, ob du vielleicht Lust auf einen Drink hast.«

Karl stand in seiner typisch selbstsicheren Haltung da, seine Fingerspitzen tippten jedoch nervös gegen die Tischplatte. Unter dem offen stehenden Mantel trug er einen dunklen Anzug mit Krawatte, der verriet, dass er nach seinem Tag im Auktionshaus nicht erst in seine Wohnung gegangen war, um sich umzuziehen. Nun saß die schmale Krawatte schief, und das stets perfekt zurückgekämmte Haar fiel ihm zersaust in die Stirn. Beides verriet, dass er sich sehr beeilt haben musste – sehr untypisch für ihn.

»Ich dachte, es täte uns beiden gut, wenn wir uns endlich wieder einmal richtig gegenüberstehen. Am Telefon bist du in der letzten Zeit immer so distanziert gewesen«, fuhr er leicht stockend fort, weil Meta sich weiterhin weigerte, sich seiner zu erbarmen und etwas zur Begrüßung zu sagen. »Du bist ganz schön wütend auf mich, nicht wahr? Ehrlich gesagt, kann ich es dir nicht verübeln. Vermutlich konnte sich eine unserer gemeinsamen guten Freundinnen nicht beherrschen und hat es dir erzählt.«

Karl hielt inne, als müsse er sich für seine folgenden Worte rüsten. Sein Gesicht wirkte nun ausgesprochen streng, weil es nicht länger von einem Lächeln beleuchtet wurde. Schatten gruben sich unter den Wangenknochen ein, und die grauen Augen wirkten mit einem Mal müde. Meta fragte sich, ob er sich genauso abgehetzt fühlte, wie er aussah – nicht, dass Karl jemals zugegeben hätte, wie sehr sein Leben ihn auffraß.

»Das mit Reese«, fuhr er vorsichtig fort, »war nur ein Abenteuer. Ich weiß wirklich nicht, was mich da getrieben hat. Du kennst sie ja, sie ist das absolute Gegenteil von dir. Vermutlich hat mich genau das gereizt, anders kann ich es mir nicht erklären. Die Geschichte ist allerdings schon seit einigen Wochen vorbei, und du kannst mir glauben, dass mich das alles mehr beschämt als dich.«

»Lass es gut sein, Karl.« Überrascht stellte Meta fest, wie wenig ihr dieses Geständnis ausmachte. Wie wenig Karls Anblick sie überhaupt berührte. Sie konnte sein gut geschnittenes Gesicht betrachten, ohne sich vorstellen zu müssen, wie es sich dem von Reese Altenberg näherte. Auch der erwartete Schweißausbruch blieb aus, ebenso wie das Bedürfnis, ihn zu beschimpfen oder einfach weinend auf die Tischplatte niederzusinken. Bisherige Versöhnungen waren stets voller Dramatik gewesen, und Meta war trotz all der erlittenen Demütigungen glücklich gewesen, wenn Karl zu ihr zurückkehrte. Nun fühlte sie sich nur noch in die Ecke gedrängt. »Du schuldest mir keinerlei Rechenschaft, was deine Beziehung mit Reese anbelangt. Schließlich sind wir kein Paar mehr.«

Karls Augenbrauen zogen sich zusammen, und sein sonst so offener Blick wurde misstrauisch. »Dass wir kein Paar mehr sind, wusste ich nicht.«

»Wenn man die eigene Beziehung auf Eis legt und Affären eingeht, führt das in der Regel zwangsläufig zu einer Trennung.« Nun wurde Meta doch heiß. Vor der Überlegung, ob sie Karl die Nacht mit David gestehen musste, hatte sie sich bislang gedrückt – deshalb konnte sie jetzt auf keinen Schlachtplan zurückgreifen. Und das ausgerechnet bei Karl.

Karl schüttelte freudlos lachend den Kopf, dann ließ er sich in den Besuchersessel sinken, die Beine gespreizt, die Arme locker auf die Lehnen gelegt. Eine Zeit lang musterte er Meta eindringlich, und es kostete sie viel Mühe, dem Blick standzuhalten.

»Wie lange sind wir noch einmal zusammen?«, fragte Karl, die Stimme leicht heiser.

»Die Frage sollte wohl besser lauten, was dabei herausgekommen ist«, entgegnete Meta. Sie löste ihre verkrampften Finger von der Tischkante, strich sich das Haar zurecht und legte die Hände dann gegeneinander, ein gut sichtbarer Beweis, dass sie kein bisschen unter Anspannung stand. Zumindest hoffte sie, dass sie so auf Karl wirkte. »Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem wir uns vielleicht eingestehen sollten, dass da nicht mehr viel zu erwarten ist.«

»Das kann ich so nicht nachvollziehen.« Als Meta ungläubig die Augenbrauen hochzog, hob Karl sogleich beschwichtigend die Hände. »Okay, es mag nicht alles perfekt sein, weil ich gelegentlich aus der Reihe tanze. Aber davon abgesehen, passen wir beide doch großartig zusammen. Meta, wir sind einander in vielen Dingen unglaublich ähnlich.«

»Vielleicht täuschst du dich da. Ich meine, Menschen ändern sich, ändern ihre Wünsche ...« Ohne dass sie recht sagen konnte, woran es lag, wurde Meta plötzlich von einer Unruhe befallen, die sie nicht verbergen konnte.

Karl musterte sie eindringlich, wobei sich seine Gesichtszüge zusehends verhärteten. »Auch wenn ich es mir selbst zuzuschreiben habe, so ging es mir in den letzten Wochen sehr schlecht. Ich bin durchaus bereit, an mir zu arbeiten und ein besserer Partner zu werden. Keine Auszeiten mehr, keine eigene Wohnung, wenn du das möchtest.« Er hielt inne, auf eine Reaktion wartend. Als die ausblieb, schlug er mit der flachen Hand auf die Sessellehne. »Vielleicht ist es selbstsüchtig, aber ich denke, dass du es mir schuldig bist, Bescheid zu sagen, wenn jemand anderes meinen Platz eingenommen hat. Schließlich habe ich nicht um eine Auszeit gebeten, weil ich dich nicht mehr liebe.«

Meta blinzelte. Auf ein solches Bekenntnis hatte sie jahrelang gewartet, und nun, da Karl es endlich über seine Lippen brachte, löste es eine Panikattacke bei ihr aus. Sie musste mehrmals schlucken, bevor sie die Sprache wiederfand. »Das, was zwischen uns war, hat dir doch noch nie gereicht. Warum wärst du sonst wohl ständig ausgebrochen?«

»Du drückst dich vor einer Antwort, Meta.« Karl hatte sich im Sessel nach vom gelehnt, die Hände auf die Knie gestützt, und einen Augenblick lang befürchtete Meta, er könnte vorspringen und sie kräftig durchschütteln.

Schließlich hatte er sich wieder in der Gewalt, auch wenn es ihm sichtliche Mühe bereitete. »Es tut mir leid«, sagte er und versuchte sich an einem Lächeln, das traurig schief geriet. »Ich werde wohl akzeptieren müssen, dass du zurzeit nicht an unsere Beziehung anknüpfen möchtest. Wahrscheinlich habe ich einfach zu viel zerstört. Aber ich denke trotz allem, dass wir wie füreinander geschaffen sind. Darum sollten wir zumindest unsere Freundschaft aufrechterhalten, was denkst du?«

Auf der einen Seite verspürte Meta den starken Wunsch, Karl zu widersprechen, auf der anderen verband sie immer noch etwas mit ihm. »Freundschaft klingt sehr schön«, brachte sie deshalb mühsam hervor. Als sie die Erleichterung auf Karls Gesicht sah, war sie froh über diese Entscheidung.

»Was hältst du davon, wenn wir uns nächste Woche wieder einmal mit den anderen treffen und einfach nur plaudern? Wenn du im Augenblick keine Lust hast auszugehen, könnten wir einen netten Abend bei dir zu Hause verbringen, ganz unkompliziert. Sagen wir Mittwoch?«

Zuerst wollte Meta den Kopf schütteln. Der Gedanke, den gemeinsamen Freundeskreis in ihrem Wohnzimmer versammelt zu wissen, gefiel ihr so sehr wie die Vorstellung eines Zahnarztbesuchs. Aber Karl wirkte derartig hoffnungsfroh, und seine Züge nahmen dadurch etwas so Junges und auch Verletzliches an, dass sie seinen Vorschlag nicht ablehnen konnte. »Ein netter Abend bei mir, das klingt doch ... nett.«

Wintermond

Подняться наверх