Читать книгу Wintermond - Tanja Heitmann - Страница 11

Kapitel 5 Das Geschenk

Оглавление

Meta konnte nicht sagen, wie lange sie an diesem Nachmittag schon vor dem Frontfenster der Galerie gestanden und in den Regen hinausgeblickt hatte. Unablässig jagte der Wind den Nieselregen gegen die bodentiefen Scheiben und verwischte das Geschehen auf der Straße zu einem grauen Einerlei. Trotzdem konnte sie sich nicht losreißen. Mit verschränkten Armen und leicht fröstelnd stand sie da und ließ ihre Gedanken schweifen. Sie fühlte sich unendlich erschöpft, obwohl der Tag ihr bislang keine nennenswerte Anstrengung abverlangt hatte. Ein paar unwichtige Anrufe, und die Eingangstür der Galerie war nur wenige Male aufgeschwungen, meistens weil irgendein Mitarbeiter eines Lieferdienstes fälschlicherweise den Haupteingang benutzte.

In der Regel stürzte sich Eve dann auf die unglücklich dreinblickenden Menschen und erklärte ihnen im für unterbezahlte Hilfskräfte ohne Durchblick reservierten Kommandoton, dass die Pakete auf der Rückseite des Gebäudes bei der Buchhaltungsdame abzugeben seien. Nein, sie würde das Paket auf keinen Fall annehmen. Das gehöre hinten auf der Lieferantenseite abgegeben und jetzt – husch, husch – raus hier. Es könnte schließlich gleich jemand Wichtiges auftauchen, der sich Kunst anschauen wollte. Der sollte dann nicht mit dem deprimierenden Anblick von Arbeitsdrohnen und braunem Packpapier konfrontiert werden.

Das alles hatte Meta unglaublich runtergezogen, aber eigentlich war sie schon den ganzen Tag deprimiert: Am gestrigen Abend wärmte sie sich gerade eine Schale mit Miso-Suppe in der Mikrowelle auf, als das Telefon klingelte. Beim Blick auf die Nummer des Anrufers verwandelte sich ihr Magen in eine Grube voller Eiswürfel. Sie musste sich regelrecht dazu zwingen, das Gespräch anzunehmen. Viel lieber wäre sie vor der brummenden Mikrowelle stehen geblieben und hätte zugesehen, wie die Suppenschale ihre Runden drehte. Doch Karl kannte ihren Wochenablauf gut genug, um zu wissen, dass sie zu Hause war. Wahrscheinlich würde er über ihre Unsicherheit den Kopf schütteln und ihr eine entsprechende Nachricht hinterlassen. Deshalb griff Meta dann doch zum Hörer, bevor der Anrufbeantworter anspringen konnte.

»Ich wollte einmal hören, wie deine Woche so gewesen ist«, sagte Karl nach den üblichen Begrüßungsfloskeln. Seine Stimme war so fest und wohlklingend wie immer, ohne jede Spur von Unsicherheit. »Ich habe Sue mit einigen Kollegen im Lavine getroffen, und sie hat mir erzählt, dass du zurzeit wohl etwas unter Druck stehst. Ihr wärt gemeinsam ausgegangen, und du hättest dich gnadenlos volllaufen lassen.«

Meta stand in ihrem nach Reinigungsmitteln und Duftkerzen riechenden Wohnzimmer und ertappte sich dabei, wie sie sich das Haarband abzog und ihre Frisur richtete, als ob sie Karl gegenüberstünde. Was, zum Teufel, wollte er von ihr hören? Dass sie von seiner Affäre erfahren und vor lauter Verzweiflung die Fassung verloren hatte? Vielleicht sollte sie ihm davon erzählen, dass sie ein ziemlich wirkungsvolles Mittel gegen den Druck, unter dem sie wegen ihres Beziehungschaos stand, gefunden hatte. Zumindest für eine Nacht.

Stattdessen antwortete sie ein wenig lahm: »Ach, du weißt ja, wie das ist. Kandelanz, der König von dieser großen Anwaltskanzlei im Osten der Stadt, suchte einige Arbeiten für die neu bezogenen Räume. Ich hatte einfach viel um die Ohren.«

»Sollen wir vielleicht an einem der nächsten Abende zusammen essen gehen? Das heißt, diese Woche könnte schwierig werden, aber danach schaufle ich mir einfach für dich etwas Zeit frei. Dina wird dich anrufen und das mit dir abstimmen. Mein Schatz, tu mir einen Gefallen und trink nicht so viel. Ich möchte gar nicht darüber nachdenken, was dir alles passieren kann, wenn du nachts sternhagelvoll durch die Straßen irrst.«

Nach diesem Telefonat brauchte Meta dringender als je zuvor einen Drink. Während sie sich an einer Martini-Flasche zu schaffen machte, dachte sie darüber nach, wie Karl es mit ein paar Sätzen geschafft hatte, es so dazustellen, als ob sie um eine Verabredung mit ihm bettele, weil sie sonst vor die Hunde ging. Karl, der edle Ritter. Vermutlich war seine Affäre mit Reese Altenberg nicht mehr ganz so heiß, und es war an der Zeit, die Rückkehr zu seiner alten Liebe einzuleiten.

Es war ja nicht das erste Mal, dass Karl eine Auszeit dafür nutzte, sich anderweitig zu vergnügen. Außerdem hatte er noch nie einen großen Hehl aus seinen Affären gemacht. Meta hatte sogar den unschönen Verdacht, dass ihm durchaus daran gelegen war, dass sie davon erfuhr. Schließlich war er ein Mann in den besten Jahren, dessen moderner Lebensgeist Monogamie für ein Zeichen von schlechten Marktchancen hielt. Weil Karl aber auch gut erzogen war und wenig Wert auf üble Nachrede legte, setzte er regelmäßig Auszeiten in seiner Beziehung zu Meta durch. Natürlich formulierte er das nie so eindeutig, sondern schob stattdessen findige Ausreden vor, aber im Verlauf der letzten Jahre hatte sich dieses Muster immer mehr verfestigt. Leider schienen die Auszeiten mit Karls Alter zuzunehmen.

Obwohl Metas Stolz es ihr eigentlich verbot, hoffte sie darauf, dass Karl tatsächlich die Nase von Reese Altenberg voll hatte. Diese Ausrufezeichen liebende Ziege mit ihren Leopardenmänteln. O ja, Reese gehörte zu jener Sorte, deren Familie schon so lange im Reichtum schwelgte, dass sie weder Geschmack noch Lebensart mehr nötig hatte. Wahrscheinlich kam Karl sich sehr extravagant vor, mit solch einer Person ins Bett zu gehen.

Im nächsten Augenblick hätte Meta sich für diese Gedanken am liebsten in den Arm gekniffen: Da kritisierte sie Reeses Mangel an Stil und arbeitete sich selbst vor lauter Eifersucht dermaßen billig an ihrer Konkurrentin ab. Aber was hieß hier überhaupt Konkurrentin? Reese war bestimmt nichts weiter als ein Amüsement für Karl – genau wie es dieser Junge neulich für sie selbst gewesen war: Selbstbestätigung, gepaart mit Vergnügen im Bett ohne Konsequenzen.

Wenn es allerdings nur darum gegangen ist, warum stehe ich dann schon eine geschlagene Ewigkeit vor dem Fenster und starre in den Regen hinaus?, fragte sich Meta. Statt Trübsal zu blasen, sollte ich mich einfach mit zwei Tassen Kaffee in der Hand zu Eve gesellen und ihr von der Nacht mit diesem jugendlichen Liebhaber berichten. Und zwar mit sämtlichen schmutzigen Details, damit die gute Eve auch wirklich begreift, wie viel Spaß ich hatte.

Allein bei der Vorstellung presste Meta ihre Faust gegen die Rippen, weil ihr Herz einen nervösen Satz machte. Was immer Eve zu dem Thema betrunkene One-Night-Stands mit verführerisch duftenden Kerlen zu sagen hatte, sie wollte es lieber nicht hören. Denn seltsamerweise war es ihr unmöglich, die Nacht mit David wirklich aus dieser Perspektive zu betrachten. Im Nachhinein war sie sogar froh, während der Taxifahrt am nächsten Morgen zu ihrem Apartment nicht weiter auf das Stadtviertel geachtet zu haben, in dem seine Wohnung lag. Wenn sie sich die Straße gemerkt hätte, wäre sie vielleicht noch in Versuchung geraten, ihm einen Besuch abzustatten. Unleugbar hatte er einen bleibenden Eindruck bei ihr hinterlassen – und leider nicht nur wegen seiner physischen Vorzüge.

Meta rieb sich das Gesicht, darauf bedacht, den Lippenstift nicht zu verschmieren. Da zerbrach sie sich den Kopf über einen Unbekannten, der sie mehr oder weniger aus seiner Wohnung komplimentiert hatte, obwohl sie mit ihrer komplizierten Beziehung zu Karl schon genug um die Ohren hatte. Dabei hatte sie eigentlich gehofft, so langsam dem Alter entwachsen zu sein, in dem verpfuschte Liebesgeschichten die Hauptrolle spielten.

Nachdem sie ihren dreißigsten Geburtstag hinter sich gebracht hatte, war sie darauf fixiert gewesen, sich ganz der Perfektionierung ihrer Karriere und des Interieurs ihres Apartments hinzugeben, das sie unter großen Anstrengungen erworben hatte. Sämtliche überschüssige Energie hatte sie in ihre Familie investieren wollen, nun, da sie wieder in ihrer. Geburtsstadt lebte. Dabei stellte sich leider äußerst schnell heraus, dass einem manche Familienmitglieder nicht unbedingt näherkommen, nur weil man mehr Zeit mit ihnen verbringt. Und ihr wunderschönes Apartment hatte sich unter Karls strenger Federführung in einen Eispalast verwandelt, in dem Meta auf Zehenspitzen umhertippelte, weil sie das Hallen ihrer Schritte nervös machte. Blieb immer noch die Karriere.

Mit energischen Schritten durchquerte Meta das weitläufige Foyer der Galerie und ließ ihren Blick über großformatige Leinwände schweifen, auf denen in Giftfarben und in dilettantischer Pinselführung eine Erweckungsszene und das Höllenfeuer dargestellt waren. Wie immer musste sie ein Schaudern unterdrücken. Neben einer brusthohen Bronzeskulptur fand sie schließlich Eve, die gedankenverloren an der Kante ihres Handys knabberte.

Immer noch besser als an ihren beigefarbenen Plastiknägeln, dachte Meta bissig. Wenn Eve davon etwas verschlucken würde, müsste ihr aus gesundheitlichen Gründen bestimmt der Magen ausgepumpt werden. Sofort meldete sich ihr Magen mit einem Stich, denn in ihm wohnte schon seit Jugendtagen ihr schlechtes Gewissen. Aber etwas an Eve reizte sie, rief ihre für gewöhnlich wenig ausgeprägte Niederträchtigkeit hervor.

»Was für ein grauenhaft düsterer Nachmittag«, sagte Meta und streifte im Vorbeigehen Eves Schulter, quasi als Wiedergutmachung für ihre gemeinen Gedanken. »Falls sich heute allerdings ein an Kunst interessierter Mensch zu uns verirren sollte, ist er vielleicht in der richtigen Stimmung, um diese gruseligen Schinken aus dem Foyer zu kaufen. Rinzo schwört ja nach wie vor auf deren Großartigkeit.«

Eves schlecht gelaunte Miene verriet, dass auch sie den Dauerregen nicht mit einem Lächeln wegstecken konnte. »Diese Interpretation des Glaubens ist ein sehr aktuelles Thema – Rinzo hat das perfekte Gespür für so etwas. Oder willst du ihm das vielleicht absprechen?«

Es reizte Meta, einen Kommentar darüber zu verlieren, wie weit Rinzos Gespür beim Erwerb dieser Bilder seiner Zeit voraus gewesen war. Nämlich so weit, dass die Gegenwart ihn noch immer nicht eingeholt hatte, obwohl die beiden Bilder nun schon seit einigen Monaten ausgestellt wurden. Doch in ihrer jetzigen Stimmung würde Eve Meta jeden Witz als Hochverrat an dem umtriebigen Mäzen auslegen und wahrscheinlich sogar weitertratschen.

Also versuchte Meta sich an einem anderen Thema: »Ich wollte dich eigentlich fragen, ob du dir die Fotos, die ich von den Aquarellen dieser Künstlerin am Stadtrand gemacht habe, einmal angesehen hast. Es würde mich interessieren, wie du ihre Arbeiten einschätzt.«

»Nein, da habe ich noch nicht draufgeschaut.« Eve kniff sich ins Nasenbein, als plagten sie plötzlich Kopfschmerzen. »Aber hör mal: Aquarelle, Vorstadt ... Meta, du bist zum Verkaufen hier und nicht zum Entdecken von neuen Künstlern. Man kann halt nur eins machen: Irgendwelchen Leuten klarmachen, warum sie ein Bild kaufen sollen und wie viel sie dafür zu zahlen haben, oder man hat den richtigen Riecher für die Entwicklungen auf dem Kunstmarkt und darüber hinaus auch noch das Talent, die Künstler mit dem größten Potenzial an die Galerie zu binden.«

»Du meinst, bei mir reicht es gerade dazu aus, auf Rinzos Instinkt zu vertrauen und das Geld einzutreiben?« Obwohl sie wusste, dass es ein Fehler war, konnte Meta die Bitterkeit in ihrer Stimme nicht unterdrücken.

Allerdings schien Eve sich nicht daran zu stören. Sie zuckte mit den Schultern, und während sie ihr Handy aufklappte, sagte sie: »Du bist doch eine tolle Verkäuferin, sei stolz darauf. Und du organisiert großartige Vernissagen, das ist auch etwas, auf das du stolz sein kannst.«

In Metas Ohren klang das wie eine Beleidigung. Aber Eve war bereits in ein Telefonat versunken und wandelte davon, so dass Meta keine Gelegenheit fand, ihr die Meinung zu sagen. Allein gelassen, betrachtete sie die Bronzefigur, die Michelangelos David als obszöne Kopie zeigte: Nur an einer Körperstelle stimmten die Proportionen dieses ansonsten zu klein geratenen Kerls. Entweder hoffte Rinzo auf Kunden mit schrägem Humor oder auf solche, die das Thema der Skulptur nicht begriffen, weil die Darstellung äußerst grob gehalten war. Allerdings drängte sich Meta der Verdacht auf, dass der Künstler die Form derart reduziert hatte, weil er es nicht besser hinbekam.

Allein der Gedanke grenzte an Ketzerei, und automatisch hörte sie Rinzos geölte Stimme in ihrem Kopf »Natürlich kann man sich darüber unterhalten, dass die Handwerkskunst wieder im Kommen ist, aber die Idee steht doch wohl immer noch im Zentrum. Und diese Idee ist genial: Wer hat beim Anblick des Davids noch nicht über die Größe seines besten Stückes nachgedacht?«

Meta hatte allerdings nur wenig Lust, diesen Disput zu führen. Der Name David kribbelte auf ihrer Zunge, und sie ertappte sich dabei, wie sie ihn leise aussprach. Glücklicherweise telefonierte Eve immer noch, so dass sie diesen Anfall von jugendlichen Gefühlswallungen nicht mitbekam. Trotzdem glühten Metas Wangen, und sie entschied sich zu einem Abstecher in den Waschraum, um zu überprüfen, ob wenigstens das Make-up noch in Ordnung war.

In dem von schwarzem Marmor gesäumten Spiegel blickte ihr ein erstaunlich mädchenhaftes Gesicht mit glänzend grünen Augen entgegen. Augen, die sich nach Abenteuern sehnten. Also so gar nicht das, was Meta für ihre Zukunft geplant hatte. Ohne dass sie etwas dagegen tun konnte, breitete sich Hitze in ihrem Körper aus. Sie schlüpfte aus ihren Pumps und genoss das Gefühl der Kälte, als die nackten Zehen den Marmorboden berührten. Sie musste sich dringend erden, so viel stand fest.

Hektisch wusch sie sich die Hände und ordnete anschließend das Haar zu einem perfekten Bob. Dann zupfte sie die Falten ihres Kleides zurecht. Ein Kontrollblick in den Spiegel bewies, dass die Dame aus der Galerie wiederhergestellt war: Alles saß tadellos, ihr Gesicht verriet nicht die geringste Erschütterung. Allerdings reichte ein flüchtiger Gedanke an David, wie er sich vor dem angelaufenen Spiegel rasiert hatte, und ihre Mundwinkel verzogen sich wie von Geisterhand zu einem Lächeln. Das war gar nicht gut.

Gerade als Meta die Privaträume verlassen wollte, schreckte Eves Stimme sie auf.

»Falscher Eingang, Herrgott nochmal!«

Meta spähte ins Foyer, in dem Eve gerade im Stechschritt auf einen Lieferanten zuhielt. Doch anders als seine Kollegen zog er nicht den Kopf zwischen den Schultern ein. Stattdessen ging er einfach weiter auf sie zu, so dass Eve in ihrer Rage fast in ihn hineingelaufen wäre. Er hielt einen in braunes, vom Regen durchnässtes Packpapier gewickelten Gegenstand in den Händen, der sehr nach einer gerahmten Leinwand aussah.

Einen Augenblick lang befürchtete Meta, dass es sich um einen ahnungslosen Künstler handelte, der seine Arbeit vorstellen wollte. Diese Sorte von Opfern liebte Eve fast noch mehr als Lieferanten. Vor lauter Verlegenheit blieb Meta stehen und war erleichtert, dass sie auf diese Entfernung kein Wort von der Unterhaltung verstehen konnte, die Eve und das Opferlamm führten.

Sie spielte mit dem Gedanken, lautlos die Treppe, die zu den oberen Ausstellungsräumen führte, hinaufzusteigen, als sie einen Blick auf das Gesicht des Mannes im Foyer erhaschte. Instinktiv trat sie einen Schritt zurück, um sich hinter der Tür in Sicherheit zu bringen. Da stand ein klitschnasser David mit Baseballkappe auf dem Kopf und in abgewetzter Lederjacke und weigerte sich, vor Eve in die Knie zu gehen. Trotz ihrer hohen Absätze musste diese den Kopf in den Nacken legen, um ihn aufgebracht anfunkeln zu können.

Plötzlich drehte Eve sich um und deutete auf die Bronzefigur, neben der sie Meta vorhin zurückgelassen hatte. Beide schauten einen Moment lang auf den verwaisten Platz. Dann verschränkte Eve demonstrativ die Arme vor der Brust, als David ihr das Paket in die Hände drücken wollte. Sie wandte sich sogar leicht zur Seite, um ihn für seine Impertinenz abzustrafen. Aber als er Anstalten machte, einfach an ihr vorbeizugehen, packte sie ihn am Arm.

Meta konnte Eves Gesicht sehen: Ihre Freundin war schlicht fassungslos, dass dieser schlecht erzogene Laufbursche eine solche Frechheit an den Tag legte. Für einen Augenblick nahm sie David durch Eves Augen wahr: ein junger Kerl, der eine unterschwellig brodelnde Aggressivität ausstrahlte. Ein Niemand, die Verkörperung allen Elends, das diese Stadt zu bieten hatte. Während ihr Eves strenge Stimme durch den Kopf hallte, kräuselte Meta abschätzig die Lippen.

In diesem Moment traf sie Davids suchender Blick. Das tiefe Blau seiner Augen flackerte auf, und ein Lächeln zeichnete sich ab, das sofort wieder erlosch. Er blinzelte noch einmal kurz, als habe er angesichts ihrer Miene einen Schlag ins Gesicht erhalten, dann senkte er den Kopf. Bevor Meta ihre Starre abwerfen konnte, hatte er der unwilligen Eve bereits das Paket in die Hand gedrückt und war durch den Ausgang verschwunden.

Meta schluckte. Dann schluckte sie erneut, während ihre Fingerspitzen und das Dreieck zwischen den Schulterblättern wie verrückt zu brennen begannen. Das eben, das war falsch gewesen. Wie hatte das nur passieren können? Sie hätte ohne Zögern zu David gehen müssen, ein paar Worte mit ihm wechseln ... zumindest sein Lächeln erwidern!

Von sich selbst enttäuscht, stöhnte Meta auf, dann führte sie sich das eben Geschehene noch einmal vor Augen. In dem Moment, als Davids Blick sie gefunden hatte, was hatte er gesehen, das ihn so verletzt hatte? Eine Frau, die sich hinter einem Türrahmen versteckte und zusah, wie der Mann, der sie suchte, nach allen Regeln der Kunst abgewiesen wurde. Er wird denken, dass es mir peinlich ist, mit ihm in Verbindung gebracht zu werden, dachte Meta. Aber hätte sie es tatsächlich fertiggebracht, auf ihn zuzugehen, während Eve daneben stand? Sie konnte es nicht sagen.

In der Zwischenzeit hatte Eve sie entdeckt und stolzierte auf sie zu, das durchnässte Paket mit Sicherheitsabstand von sich haltend. »Was hast du auf der Toilette getrieben?«, fragte sie und musterte Meta von Kopf bis Fuß – wortwörtlich bis zum Fuß, wie diese überrascht feststellte. Denn offensichtlich war es ihr völlig entfallen, wieder in ihre Pumps zu schlüpfen. Sie stand barfuß auf dem weißen Fliesenboden und lieferte Eve damit eine wunderbare Geschichte, die sie Karl bei Gelegenheit brühwarm auftischen konnte.

Dann drückte sie das Paket Meta in die Hand, deren Finger mühelos durch den Papierumschlag sackten. »Dieses hübsche Etwas hat ein gewisser David für dich abgegeben – ein Geschenk, wie er sagte. Noch einer von deinen angehenden Künstlern vom Stadtrand?«

»Nicht ganz«, erwiderte Meta tonlos. Ihre Verstörung wich kalter Wut. Was bildete Eve sich eigentlich ein, dass sie ohne jede Hemmung alles durch den Dreck zog, was ihr wichtig war? Sie hatte nicht übel Lust, an ihrer glatten Fassade zu kratzen, ihr eine Provokation entgegenzuschleudern. Ein kühles Lächeln schlich sich auf Metas Züge. »Das eben war ein Bekannter. Und das hier dürfte eine Skizze von seinem besten Stück sein, absolut beeindruckend. Soll ich es jetzt gleich auspacken? So etwas wolltest du doch bestimmt schon immer einmal ansehen.«

Obwohl Eve – konfrontiert mit einer so unerwarteten Frechheit – schwieg, zuckte es verräterisch unter ihrem Auge. »Du solltest Karl um eine Verabredung bitten, damit sich möglichst bald wieder alles zum Guten wendet. So langsam mache ich mir nämlich Sorgen um dich, meine Liebe. Dieser David sah aus, als suche er abends die Straßen nach leichter Beute ab. Und von so jemandem möchtest du doch nicht gefunden werden, oder?«

»Das war dann wohl ein Nein zu meinem netten Angebot?«, sagte Meta und lächelte zuckersüß, obwohl ihr vor Aufregung flau war. Diese Kratzbürstigkeit war noch ein ungewohnter Zug von ihr, denn normalerweise war sie so gut erzogen, dass sie an Gegenwehr nicht einmal dachte.

Als Eve beleidigt davonstöckelte, hatte Meta sie allerdings trotz dieses kleinen Sieges bereits vergessen, denn das Paket in ihren Händen erinnerte sie daran, dass soeben etwas viel Wichtigeres geschehen war. Unschlüssig, was sie damit tun sollte, sah sie es an.

Wintermond

Подняться наверх