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7. KAPITEL

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Die Julia Wagner?

9:37 Uhr

Es war das erste Mal, dass Julia sich die Mühe machte, Susanne näher zu betrachten. Bisher hatte sie sich wenig bis gar nicht mit ihren Mitpatienten beschäftigt, und ganz bestimmt hätte sie das auch weiterhin nicht getan, wenn sie sich nicht in einer derart misslichen Lage befunden hätte. So aber sah sie nun etwas genauer hin, schätzte Susanne auf ungefähr dreißig Jahre alt und stellte fest, dass sie eher hübsch als klassisch schön zu nennen war, dass ihr dunkles Haar mit hellrosa, hellgrünen und blauen Strähnen durchzogen war, ihr Gesicht mit leichten Sommersprossen gesprenkelt, der Mund ein wenig breit, die Lippen voll und die Augen hellbraun mit einem goldenen Einschlag.

„Denkst du, die Serviette hat etwas mit dem Mord zu tun?“, fragte sie gerade.

Julia zog eine Zigarette aus ihrer Hosentasche und zuckte mit den Schultern.

„Und wenn ja, was könnte es dann bedeuten?“ Susanne beugte sich etwas zu ihr herüber, um ihr Feuer zu geben. „Ich meine …“

In dieser Sekunde betrat eine kräftige Frau mit kurzen blonden Haaren und sehr blauen Augen den Aufenthaltsraum. Sie hätte vermutlich gar nicht mal so unsympathisch gewirkt, wenn sie nur ein klein wenig gelächelt hätte. Das jedoch tat sie nicht. Vielleicht lag das an Heide Sacher, die ihr dicht auf den Fersen war und sie mit strengem Blick zu bezwingen versuchte, jedoch scheiterte. „Bitte regen Sie die Patienten nicht noch mehr auf! Hier geht ohnehin schon alles drunter und drüber!“

„Ich gebe mir Mühe“, sagte die Frau und schloss die Tür vor ihrer Nase. Dann trat sie auf Julia und Susanne zu, zog mit einer routinierten Bewegung ihren Ausweis aus der Tasche und sagte: „Charlotte Gärtner. Mordkommission. Wie geht es Ihnen beiden?“ Es war deutlich zu erkennen, dass das eine rhetorische Frage war, die sie nur aus Höflichkeit stellte.

„Grauenhaft“, antwortete Susanne trotzdem mit gepresster Stimme.

Julia schwieg.

„Sie beide haben den Toten also gefunden?“, war die nächste Frage, die Charlotte stellte.

Die Antwort darauf war ohnehin klar, deshalb ersparte Julia sich wieder eine Antwort. Susanne hingegen antwortete erneut: „Ja.“

Charlottes Blick wanderte von ihr zu Julia und wieder zurück und blieb dann doch wieder an Julia hängen. „Erzählen Sie mir, was genau heute Morgen passiert ist.“

Obwohl es nur allzu deutlich war, wie sehr sich alles an und in ihr dagegen sträubte, begann Julia mit einer derartigen Klarheit und Präzision zu erzählen, wie sie nur eine gewisse Routine mit sich brachte. Nur hin und wieder hielt sie kurz inne, um sich ein Detail ins Gedächtnis zu rufen, und am Ende befanden sich die Augenbrauen in Charlottes Leichenbittermiene vor lauter Fragezeichen beinahe am Haaransatz. „Warum haben Sie das Zimmer von Weinfried Tämmerer überhaupt betreten?“, wollte sie wissen.

„Ich habe auf dem Boden vor seinem Zimmer eine Serviette gefunden.“ Inzwischen fein säuberlich eingetütet, reichte Julia ihr das vermeintliche Beweisstück.

„Eine Serviette?“ Charlotte nahm die Tüte entgegen. „Und die haben Sie vor Tämmerers Zimmer gefunden?“

„Ja.“ Keine weiteren Ausführungen. Julia wusste nur zu gut, dass man sich mit einer allzu ausführlichen Antwort leicht selbst ein Bein stellen konnte. Und Charlottes Interesse wuchs immer weiter. „Warum haben Sie sich überhaupt für die Serviette interessiert?“

„Ich bin aus Versehen draufgetreten, als ich den Flur entlangging. Ich hob sie auf und stellte fest, dass jemand eine Zahl daraufgeschrieben hat.“

Charlotte betrachtete die Serviette in der Tüte genauer und untersuchte die Zahl 5, die mit einem dicken schwarzen Stift daraufgeschrieben worden war. „Wo haben Sie diese Serviette noch mal gefunden?“

„Wie ich gerade sagte, vor Tämmerers Zimmertür.“

„Und dann haben Sie sie aufgehoben und was getan?“

„Ich habe mich umgesehen, ob sie vielleicht jemand verloren hat. Und dabei stellte ich fest, dass die Tür offen stand.“

„Moment“, hakte Charlotte ein. „Die Tür stand offen, sagen Sie?“

Julia nickte.

„Und da sind Sie ganz sicher?“

„Ja.“ Julias Haltung blieb unverändert. „Sonst hätte ich wohl kaum das Blut auf dem Boden und dem Arm gesehen …“

Charlotte nickte.

„Und dann wäre ich auch nicht rein“, beendete Julia den Satz.

„Warum sind Sie überhaupt hineingegangen?“

„Ich wollte nachsehen.“

„Warum?“

„Hätten Sie es nicht getan?“

„Ich hätte vermutlich laut um Hilfe geschrien.“ Charlotte schwieg einen Moment nachdenklich, während sie die Tüte zwischen den Fingern drehte. „Ihre Mitpatientin, Frau Grimm, war zu dem Zeitpunkt noch nicht dabei?“, fragte sie dann weiter.

„Nein. Sie kam erst, als ich das Zimmer bereits betreten hatte.“

„Und was haben Sie getan, nachdem Frau Grimm das Zimmer betreten hatte?“

Julia zog an der fast abgebrannten Zigarette und inhalierte tief. „Ich sagte ihr, dass wir die Polizei rufen müssen.“

„War es so?“, wollte Charlotte von Susanne wissen.

„Genau so war es“, bestätigte diese.

„Kannten Sie Weinfried Tämmerer gut?“, war Charlottes nächste Frage. Und da nicht ganz klar war, an wen sie gerichtet war, bekam sie ein synchrones Kopfschütteln zur Antwort.

„Aber immerhin leben Sie hier doch auf sehr engem Raum zusammen“, bemerkte Charlotte mit leiser Skepsis.

„Auf sehr engem Raum zusammenzuleben heißt aber nicht automatisch, dass man sich auch kennt“, erklärte Susanne. „Ich kannte Tämmerer jedenfalls nicht näher.“

„Ich auch nicht“, fügte Julia hinzu.

„Aber Sie beide haben sich vorher schon gekannt?“, fragte Charlotte weiter.

Erneutes synchrones Kopfschütteln.

„Jedenfalls nicht näher“, schob Susanne erklärend hinterher. „Unsere Zimmer liegen nebeneinander.“

„Stimmt das?“, wollte Charlotte von Julia wissen, und die nickte.

„In Ordnung. Falls Ihnen weitere Einzelheiten einfallen, verständigen Sie mich bitte umgehend.“ Charlotte betrachtete ein letztes Mal die Serviette in ihrer Hand. „Warum haben Sie sie eingetütet?“, wollte sie von Julia wissen.

„Für die kriminaltechnische Untersuchung. Ich dachte, es wäre einfacher, wenn …“

„Sie scheinen sich auszukennen, Frau …?“

Schweigen.

„Wie war nochmal Ihr Name?“, hakte Charlotte nach.

„Julia.“

„Ich meine Ihren Nachnamen.“

„Den habe ich Ihren Kollegen bereits genannt.“

„Ich würde ihn aber gerne von Ihnen wissen.“

Julia zögerte. Zwei Sekunden. Drei. Dann sagte sie: „Wagner.“

Im nächsten Moment veränderte sich Charlotte Gärtners Gesichtsausdruck. Quasi innerhalb des Bruchteils einer Sekunde. „Die Julia Wagner?“

„Ja“, antwortete Julia. „Die.“

Todesruhe - Ein Fall für Julia Wagner: Band 2

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