Читать книгу Todesruhe - Ein Fall für Julia Wagner: Band 2 - Tanja Noy - Страница 16
12. KAPITEL
ОглавлениеEtwas Dunkles
Ein wirklich schöner und heißer Tag in einer Stadt, die er persönlich für eine der schönsten Städte Deutschlands hielt: Hannover. Der Pigmentlose lächelte trotzdem nicht. Stattdessen warf er einen Blick auf seine Armbanduhr. 14:34 Uhr.
Dann griff er in eine kleine durchsichtige Tüte, die zwischen seinen Beinen klemmte, zog ein Bonbon hervor und steckte es sich den Mund. Anschließend beugte er sich nach vorne übers Lenkrad und beobachtete mit hellen reglosen Augen weiter den Eingang des Friedhofes.
Eine Katze mit grauer Schnauze kam über die Mauer geklettert und blieb einen Moment lang stehen, als sie ihn im Auto sitzen sah. Dann sprang sie von der Mauer und verzog sich in ein Gebüsch. Er folgte ihr mit den Augen. Katzen bedeuteten Glück. Oder Pech. Je nachdem, von welcher Warte aus man es betrachtete. Aber der Pigmentlose war nicht abergläubisch.
Als Nächstes schlurfte ein Friedhofsgärtner vorbei, auch nicht mehr der Jüngste.
Es dauerte noch ein paar Minuten, dann sah er ihn kommen, und sofort spürte der Pigmentlose etwas, das ihm bis ins Mark drang. Er griff nach seinem Handy und wählte.
„Sprich“, sagte eine Stimme am anderen Ende.
„Er ist gerade angekommen.“
„Gut. Lass ihn nicht aus den Augen.“
Der Pigmentlose legte auf und verließ ohne die geringste Regung im Gesicht den Wagen. Vorher jedoch steckte er sich noch ein weiteres Bonbon in den Mund.
Das Grab sah unscheinbar aus. Nur eine dunkle Marmorplatte und – bis auf eine gelbe Rose – keine Blumen.
Die eingravierten Namen lösten eine tiefe Traurigkeit in Zander aus. Vielleicht war es die Angst, dass auch Julia, obwohl noch am Leben, trotzdem nicht mehr in dasselbe zurückfinden würde. Dass, selbst wenn er alles tat, nichts mehr so sein würde, wie es einmal war. Er wusste es nicht.
Er konzentrierte sich auf die Frau, die vor dem Grab kniete, und sprach sie an. „Sind Sie Frau von Jäckle?“
Sie sprang auf, drehte sich zu ihm um, und er stellte fest, dass sie etwas untersetzt war, Anfang fünfzig, mit intelligentem Blick und nicht sehr groß. Sie trug Jeans, ein rotes Hemd und einen grauen Pferdeschwanz.
„Ich habe Sie gar nicht kommen hören“, sagte sie. „Ja. Ich bin Paula von Jäckle.“ Dabei nickte sie unterstreichend, wobei ihr grauer Pferdeschwanz auf und abwippte.
„Tut mir leid, ich wollte Sie nicht erschrecken“, gab Zander entschuldigend zurück. „Ich dachte, Sie hätten meine Schritte gehört.“
„Nein. Ich war … Nennen wir es: konzentriert.“
Er deutete auf die gelbe Rose. „Von Ihnen?“
„Ja. Ich habe sie mitgebracht, auch wenn ich nicht davon ausgehe, dass Frau Wagner so etwas wie Blumen auf dem Grab ihrer Eltern gerne sehen würde. Ich vermute eher, sie würde so etwas Buntes und Farbenfrohes hier nicht ertragen.“
Zander nickte. „Das denke ich auch.“ Noch einmal legte sein Blick sich auf die beiden eingravierten Namen. Sven und Christine Wagner.
Paulas Augen folgten den seinen. „Die Wurzeln der Vergangenheit“, sagte sie. „Wir können sie verdrängen, aus unserem Leben ausschließen, aber sie sind und bleiben dennoch für immer fest in uns verankert.“ Sie hob den Blick und sah ihn wieder an. „Es tut mir schrecklich leid, was passiert ist.“
Er nickte. „Sie haben mir am Telefon gesagt, dass Sie so etwas wie ein Medium sind. Bevor wir uns unterhalten, sollte ich Sie darauf hinweisen, dass ich nicht an Hellseher glaube.“
Das schien Paula nun fast ein wenig zu erheitern. „So in etwa hat es Frau Wagner auch ausgedrückt, und am Ende kam sie trotzdem nicht umhin, meinen Worten Glauben zu schenken. Davon abgesehen bin ich keine Hellseherin, ich bin, wie Sie bereits richtig bemerkten, ein Medium. Ein stilles Medium. Aber diesen Unterschied konnte ich ihr auch nur mühsam beibringen.“ Sie brach ab und schwieg ein paar nachdenkliche Sekunden, dann redete sie weiter: „Frau Wagner und ich lernten uns vor drei Monaten in Wittenrode kennen. Von Anfang an habe ich etwas Dunkles in ihrer Aura gespürt. Etwas, das sie permanent umgibt, so wie ein Mantel. Trotzdem war ich nicht in der Lage, ihr zu helfen. Ich konnte nicht verhindern, was am Ende in der Kapelle geschah.“ Sie sah auf und Zander wieder in die Augen. „Deshalb bin ich hier. Weil ich dieses Mal schneller sein möchte. Schnell genug.“
„Wie sind Sie ausgerechnet auf mich gekommen?“, wollte er wissen.
„Nun ja, ich habe recherchiert. Es gibt nicht sehr viele Menschen, die Frau Wagner nahestehen. Und die noch am Leben sind. Sie sind einer davon. Und gerade Sie, Herr Zander, haben einen großen Einfluss auf ihr Leben.“
„Ich?“, entfuhr es Zander. „Da irren Sie sich leider. Sie schließt mich seit Wochen völlig aus ihrem Leben aus.“
„Das meine ich nicht.“ Paula atmete tief durch. „Ich rede von einem anderen Einfluss.“
„Ich verstehe nicht.“
„Ich habe Frau Wagners Tod in den Karten gesehen.“
Zanders Augen zogen sich zu schmalen Schlitzen zusammen. „Was reden Sie denn da?“
In der nächsten Sekunde legte Paula ihre Hand auf seinen Arm, und sofort verspürte er ein Kribbeln, als sei der Stoff seines Jacketts auf einmal elektrisch aufgeladen. Er wollte den Arm zurückziehen, doch es gelang ihm nicht. Ihre Finger schienen mit ihm verschmolzen.
„Er ist immer in ihrer Nähe.“
„Wer?“, stieß Zander hervor.
„Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass er das Böse ist. Das ultimative Böse. Er tötet für seine Macht. Das habe ich in den Karten gesehen. Und ich habe gesehen, dass er Angst vor ihr hat.“
„Vor Julia?“
Nicken. „Nur sie kann ihn aufhalten. Deshalb soll sie sterben. Sie ist ihm ebenbürtig.“
„Ich verstehe kein Wort“, sagte Zander. „Von wem zum Teufel sprechen Sie? Wer ist dieser Mensch?“
Paula sah ihm weiter in die Augen. Ihr Blick war derart intensiv, dass er glaubte, sein Gehirn würde von ihr durchbohrt werden. „Leider kann ich diese Frage nicht beantworten. Aber noch etwas habe ich in den Karten gesehen: Sie war bei ihm, als Kind.“
Aus dem Kribbeln in Zanders Arm wurden nun regelrechte Stromstöße.
„Drei Männer kamen auf sie zu, und dann war sie verschwunden“, fügte Paula hinzu.
„Sie meinen, sie wurde entführt?“ Zander sagte es so leise, dass seine Stimme kaum zu hören war. „Aber daran müsste sie sich erinnern. Sie …“
„Unterschätzen Sie ihn nicht. Er ist das Böse.“ Paula ließ seinen Arm los und deutete auf das Grab. „Ihr Vater ist der Schlüssel. Helfen Sie ihr, Herr Zander. Sie sind der Einzige, der es kann.“