Читать книгу Todesruhe - Ein Fall für Julia Wagner: Band 2 - Tanja Noy - Страница 13
9. KAPITEL
ОглавлениеMord …?
„Ich kann einfach nicht glauben, dass ihn wirklich jemand umgebracht hat“, sagte Susanne, während sie nebeneinander über den Flur gingen. „Ich meine, das …“ Sie brach ab und sah zu Julia herüber. „Meinst du, das war ein Verbrechen aus Hass? Weil er … du weißt schon … so war, wie er war?“
Eigentlich wollte Julia lieber nicht darauf antworten. Eigentlich wollte sie überhaupt nicht reden. Sie wollte viel lieber wieder alleine sein, ganz für sich, aber immerhin hatten sie und Susanne gerade zusammen eine Leiche entdeckt. Und Susanne wirkte überhaupt nicht so, als wolle sie jetzt alleine sein. Deshalb antwortete sie: „Ich weiß es nicht. Vielleicht.“
„Was hat die Kommissarin eigentlich gemeint, als sie sagte ‚die Julia Wagner‘?“
Wieder wollte Julia lieber nicht antworten. Sie schluckte, rang mit sich und sagte dann doch: „Ich war auch mal bei der Polizei. Deshalb sagt ihr mein Name wohl etwas.“ Das war zwar nur die halbe Wahrheit, genau genommen nur die gedrittelte, aber sie musste genügen.
Susanne hielt in der Bewegung inne. „Wirklich? Du warst bei der Polizei?“
„Hmm.“
„Und was hast du dort gemacht? Ich meine, es gibt da ja so einiges. Drogen, Sitte, Diebst…“
„Mordkommission.“
„Mord…?“ Susanne formte den Anfang des Wortes mit den Lippen und ließ es dann verklingen. „Wow! Und warum bist du dort nicht mehr?“
„Lange Geschichte.“ Das war es. Julia hatte nicht die Absicht, weiter darauf einzugehen, und Susanne schien immerhin zu wissen, wann es keinen Sinn machte, weiter nachzubohren. Seufzend hob sie etwas die Schultern an. „Und was meinst du, was die Polizei jetzt als Nächstes vorhat?“
„Sie werden die ganze Station auf den Kopf stellen. Wenn du also irgendwo ein paar Augen versteckt hast, dann solltest du sie noch rechtzeitig beseitigen.“ Damit wandte Julia sich ab und ging in Richtung ihres Zimmers davon.
10:37 Uhr
Wie sich herausstellte, war Professor Dr. Ulrich Malwik, der Leiter der Klinik Mönchshof, ein kleiner drahtiger Mann von Mitte fünfzig, mit wirren abstehenden Haaren und einer verblüffenden Ähnlichkeit mit Albert Einstein.
Er schien entschlossen, den Deckel so lange wie möglich auf der Sache zu halten. Am liebsten wäre ihm wohl für immer gewesen. Aber das ging natürlich nicht.
Wie auch immer, er begrüßte Charlotte und bat sie, auf der anderen Seite seines Schreibtisches Platz zu nehmen. „Alles andere als ein guter Tag“, stellte er fest und setzte sich ebenfalls. „Ein tragischer Tag, trifft es wohl eher. Was für eine grässliche Geschichte.“
Charlotte nickte und wollte etwas sagen, doch der Psychiater war noch nicht fertig. Er sprach bereits weiter, wobei seine Hände tanzten und hüpften wie die eines Dirigenten: „Die Geschichte des Klosters, in dem wir uns befinden, ist zwar von Gewalt geprägt, aber das ist ja nun schon lange her. Jetzt allerdings … Nun, vielleicht sollte ich Ihnen zuerst etwas über unsere Klinik erzählen. Sie wurde 1960 eröffnet, und inzwischen beherbergen wir im Schnitt fünfzig Patienten, aufgeteilt in Einzel-, Zweibett- und Mehrbettzimmer, wobei es sich um mehr Einzel- als Zweibettzimmer handelt. Mehrbettzimmer haben wir inzwischen nur noch drei. Ich war noch nie ein Fan davon, Menschen mit den verschiedensten psychischen Krankheiten in einem Zimmer zusammenzupferchen, weil das nur unnötig Störungen provoziert, die wiederum unnötig den geregelten Stationsablauf behindern.“ Er seufzte leise und fuhr dann fort: „Wir haben sieben Vollzeit- und zwei Halbtagskräfte und arbeiten nicht vollständig autonom, das heißt, wir haben kein eigenes Krankenhaus und auch keine eigene Küche. Wir beschäftigen nicht nur Psychiater, sondern auch eine Ergotherapeutin sowie zwei Sozialarbeiter, weil wir wollen, dass die Patienten sich in der Außenwelt zurechtfinden können, wenn sie uns wieder verlassen. Sie sollen in jeder nur erdenklichen Form gestärkt sein und in der Lage, ihr Leben zielgerichtet in die eigene Hand zu nehmen.“
„Nun ja“, setzte Charlotte an. „Das mit dem ‚zielgerichtet in die Hand nehmen‘ scheint einem Ihrer Patienten letzte Nacht ja schon recht gut gelungen zu sein.“
Malwik hörte auf zu dirigieren und legte nun die Hände aneinander wie ein Pfarrer, der seine Gemeinde zum Gebet versammelt. „Ich bin selbst am unglücklichsten darüber, das dürfen Sie mir glauben. Sie haben ja keine Vorstellung, was hier auf einmal los ist. Die Patienten strömen in Scharen zu mir, und jeder Einzelne erwartet natürlich, dass ich ihm berichte.“
„Und was berichten die Patienten selbst?“
„Ah … Was das betrifft, hat mich leider niemand eingeweiht.“ Malwik schüttelte den Kopf. „Ich wünschte, ich wäre besser informiert.“ Er seufzte unglücklich auf, erhob sich und trat ans Fenster. „Das dort unten ist unser Park.“ Als hätte Charlotte nicht hindurchlaufen müssen, um überhaupt ins Innere der Klinik gelangen zu können. „Ich habe ihn bereits zur Kenntnis genommen“, gab sie zurück. „Er ist sehr hübsch. Wer kümmert sich eigentlich darum?“
„Wir haben eine externe Gärtnerei damit beauftragt.“
„Dürfen die Patienten in den Park?“, wollte Charlotte weiter wissen.
„Normalerweise nicht, es sei denn, sie erhalten eine gesonderte Erlaubnis und werden von einem Pfleger begleitet.“
Arme Patienten. Da hatten sie das Paradies vor Augen, durften es aber nicht betreten.
„Was mich interessiert“, wechselte Charlotte das Thema, „ist die Frage, was für ein Mensch Weinfried Tämmerer war. Wie hat er sich hier eingefügt? Wie war die Beziehung zwischen ihm und den anderen Patienten? Ich brauche absolute Offenheit, Herr Professor.“
Der Appell war eindeutig, und Malwik reagierte prompt und empört. „Bei allem Respekt, Frau Kommissarin, ich habe nicht die Absicht, Ihnen etwas zu verheimlichen. Die Beziehung zwischen Tämmerer und den anderen Patienten war alles andere als harmonisch.“
„Warum?“
„Es gab … Differenzen.“
„Welcher Art?“
„Nun, aus irgendeinem Grund, den wir bisher noch nicht nachvollziehen konnten, gelangte seine Diagnose unter die anderen Patienten, und das führte zu gewissen … Spannungen. Natürlich war dieser Umstand … unglücklich. Aber es war nun einmal passiert.“
„Und wie lautete seine Diagnose?“
Malwik schwieg und rieb sich das Nasenbein.
„Er ist tot, Herr Professor“, sagte Charlotte. „Er wurde umgebracht. Es gibt keinen Grund mehr, auf Ihre ärztliche Schweigepflicht zu pochen. Also bitte, wie lautete seine Diagnose?“
„Pädophilie. Und“, fügte der Psychiater schnell hinzu, „er fürchtete sich im Dunkeln.“
Charlotte blinzelte und fragte sich, ob sie gerade auf den Arm genommen wurde. Doch Malwik schien es ernst zu meinen. Er kratzte sich am Kopf und fügte hinzu: „Tatsächlich. Die Angst vor der Dunkelheit, die Heimstatt aller Schrecken, befindet sich in uns allen, Frau Kommissarin.“
Das war nicht das Thema, das Charlotte am meisten interessierte. „Bleiben wir bei der Pädophilie“, verlangte sie.
Es dauerte noch einen Moment, dann sagte der Professor: „Tämmerer war Lehrer an einer Hauptschule. Vor einem Jahr musste er den Beruf aufgeben, weil er eine seiner Schülerinnen angefasst haben soll.“
„Gab es eine Anzeige gegen ihn?“
„Ja, die gab es. Allerdings wurde sie wenig später wieder zurückgezogen.“
„Weswegen?“
„Das konnte abschließend leider nicht mehr geklärt werden.“
Charlotte runzelte die Stirn. „Aber es gab diesen Übergriff?“
„Ja.“
„Also war Tämmerer tatsächlich pädophil.“
„Ja. Allerdings hatte er den festen Willen, gegen die Krankheit anzugehen. Deshalb war er hier.“
Charlotte lachte trocken auf, sie konnte nicht anders. „Das nenne ich mal eine praktische Lösung für ein grundlegendes Problem: Man geht für ein paar Wochen in eine Klinik, und schon ist man von allem geheilt. Wo doch jeder Mensch weiß, dass man Pädophilie nicht heilen kann.“
„Nein. Aber man kann lernen, gegen den Drang in sich anzugehen“, erklärte Malwik steif. „Es ist ein langer und zweifellos kein leichter Weg, aber man kann ihn gehen, wenn man bereit dafür ist.“
„Und Tämmerer war bereit dafür?“
„Ja.“
Charlotte überlegte einen Moment. „Wie alt war das Mädchen?“
„Zwölf.“
„Also tatsächlich noch ein Kind.“
Malwik sah Charlotte an. „Ich ahne, was Sie jetzt denken, Frau Kommissarin, aber wir leben in einer ekelerregenden Welt. In einer Welt, die in wachsendem Maße von Zerfall geprägt ist. Eine Klinik wie unsere ist nicht mehr als ein Spiegel dieser Welt.“
„Haben Sie Tämmerer selbst behandelt?“
„Nein, meine Kollegin. Frau Doktor Sattler.“
Charlotte dachte wieder einen Moment nach. „Er hat also wegen dem Mädchen den Schuldienst aufgegeben?“, fragte sie dann weiter.
Malwik nickte. „Er sah keine andere Möglichkeit. Durch die Geschichte war eine Hetzkampagne gegen ihn gestartet worden, die über Monate anhielt. Wäre er nicht freiwillig gegangen, so wäre er von der Schulbehörde suspendiert worden. Wenigstens bis zur Aufklärung des Vorfalles. Dem wollte er zuvorkommen.“
Draußen schlug eine Tür zu.
„Wie heißt das Mädchen, das Tämmerer missbraucht haben soll?“, fragte Charlotte weiter.
„Lilly Jensen. Leider lebt das Kind nicht mehr. Es hat sich vor etwa einem halben Jahr das Leben genommen.“
Charlotte atmete tief durch. „Und diese Geschichte gelangte – unter mysteriösen Umständen – unter die anderen Patienten, habe ich das richtig verstanden?“
Malwik nickte. „Es ist mir unerklärlich, wie das geschehen konnte. Aber es passierte tatsächlich genau so.“
„Sie werden doch wohl eine Untersuchung eingeleitet haben.“
„Sicherlich. Aber es kam nichts dabei heraus. Wir konnten weder einen der Pfleger noch einen von uns Ärzten dafür verantwortlich machen. Dass einer der Patienten an Tämmerers Akte gelangt sein sollte, war von vorne herein auszuschließen.“
„Und dass Tämmerer es selbst erzählt hat – warum auch immer?“
„Auf gar keinen Fall.“
Noch einmal atmete Charlotte tief durch. „Seine Diagnose gelangte also an die anderen Patienten. Und ich nehme an, von da an hatte er nichts mehr zu lachen.“
Malwik nickte. „Tatsächlich wurde es von da an sehr schwer für ihn.“ Er brach ab, fügte aber eilig hinzu: „Dennoch kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass ihn jemand deshalb umgebracht haben sollte. Schon gar nicht auf diese Art und Weise. Es muss eine andere Erklärung geben, und ich hoffe, Sie finden sie. Sie scheinen über einen wachen Geist zu verfügen, Frau Kommissarin, auf den ich vertraue.“
Darauf ging Charlotte nicht ein. „Wissen Sie, ob er sich vor jemandem auf der Station ganz besonders fürchtete? Gibt es jemanden, den man als seinen größten Feind bezeichnen konnte? Jemand, der ihn so sehr hasste, dass er ihn tot sehen wollte?“
Malwik schien zu überlegen, ehe er darauf antwortete: „Wir haben mehr als einmal mit ihm darüber gesprochen. Aber er hat sich leider nie ausreichend dazu geäußert.“
Charlotte war sich nicht sicher, ob sie das glauben konnte, beließ es aber vorerst dabei. Der Professor sprach auch schon weiter: „Wir dachten natürlich darüber nach, ihn in eine andere Klinik zu überweisen, aber das wollte er nicht. Er wollte es … fast bin ich geneigt zu sagen: aushalten.“
„Das hier wurde vor seiner Zimmertür gefunden.“ Charlotte reichte ihm die eingetütete Serviette.
Malwik nahm sie entgegen und betrachtete sie ausgiebig. „Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat, Frau Kommissarin.“
„Nun denn …“, sagte sie und nahm die Serviette wieder an sich. „Wir werden jetzt alle Zimmer und auch den ganzen Rest der Station durchsuchen, Herr Professor.“
„Auf gar keinen Fall.“ Sofort war Malwik auf den Beinen und verschränkte die Arme vor der Brust wie ein Türsteher in einem Privatklub, was lustig aussah, bei seiner beeindruckenden Größe von gerade mal einem Meter fünfundsechzig. „Ich möchte nicht, dass die Patienten noch mehr durcheinandergebracht werden.“
„In Ordnung. Wie Sie möchten. Sagen Sie mir einfach Bescheid, wenn jemand etwas findet.“
„Was meinen Sie?“
„Eine geladene Waffe, zum Beispiel. Oder eine Kugel im Kopf eines weiteren Patienten.“
Der Psychiater rang mit sich. „Meinetwegen“, sagte er schließlich. „Aber bitte, tun Sie es so zurückhaltend und so schonend wie möglich.“