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8. KAPITEL

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Keine Wahl

All die Leute, die zu Zander sagten: „Das wird schon wieder. Sie wird sich wieder fangen.“ Alles Menschen, die es gut meinten. Natürlich. Und er, der murmelte: „Klar … sicher … wird schon wieder.“ Obwohl er sich keineswegs sicher war, dass es wieder werden würde, so wie es immer irgendwie wieder geworden war.

Sie wird sich wieder fangen.

Zum x-ten Male betrachtete er die verschiedenen Zeitungsartikel, die er auf dem Bett verteilt hatte. Er hatte die einzelnen Berichte so oft gelesen, dass er sie längst auswendig kannte. Trotzdem starrte er sie immer und immer wieder an, und sein Blick blieb an einzelnen Passagen hängen.

Der Erste stammte aus dem Jahr 1987:

Staatsanwalt und Frau sterben bei tragischem Autounfall. Tochter (10) kämpft ums Überleben.

Weiter ging es im April 2010:

Der Polizeipräsident bekümmert: „Wir verstehen es alle nicht. Sven Wagner war einer unserer besten und fähigsten Männer. Nichts an ihm hat je auf eine derartige kriminelle Energie schließen lassen.“

Dem folgten eine ganze Menge weiterer Artikel, in denen man zum Schluss kam, dass Sven Wagner mit Wolfgang Lange unter mehr als nur einer Decke steckte; in denen Wagner als Randfigur der Mafia verdächtigt und mit Korruption, Bestechung und anderen Straftaten in Verbindung gebracht wurde. Weiter wurde behauptet, Wagner und seine Frau wollten sich scheiden lassen, und die Frage gestellt, ob sie hinter seine kriminellen Machenschaften gekommen war und beide sich deshalb im Wagen gestritten hatten, als der tragische Unfall geschah.

Die neuesten befassten sich mit Julias Person:

Was weiß die Tochter von Sven Wagner? Neue Teufelsmorde: Wieso Julia Wagner?

Während er zum Fenster ging, um es etwas weiter zu öffnen, fragte Zander sich, wie er wohl zurechtgekommen wäre, wenn Lange es tatsächlich geschafft hätte, Julia umzubringen. Er hätte recht unmännlich geweint, dessen war er sich sicher. Und er hätte sich betrunken, obwohl er sonst kaum trank.

Einen Moment stand er einfach nur da, bewegte sich nicht.

In Zanders Leben gab es immer eine Strategie, eine systematische Methode zum Umgang mit den Dingen. Niemals hatte es jemand mitbekommen, wenn es in ihm brodelte. Nie hatte ein Verdächtiger im Vernehmungsraum seine Euphorie bemerkt, wenn das Falsche an der richtigen Stelle gesagt worden war und ihm ein Verbrecher damit in die Falle ging.

Zander war ein Profi. Unerschütterlich. Stark. Verlässlich.

Im Falle von Julias Tod jedoch hätte es keine Strategie, keine systematische Methode mehr gegeben. Zanders Verstand war untrennbar mit ihr verbunden und hütete die Erinnerungen an sie.

Und genau deshalb war er nun hier. In Hannover, einer Stadt, die nicht seine war. Weit weg von Mainz. Deshalb hatte er sich unbezahlten Urlaub genommen, und überraschenderweise hatte Burkhart, sein Chef, sogar Verständnis dafür gezeigt. „Ist eine Scheißsache, Herr Zander. Vielleicht sind es ja wirklich Sie, den sie jetzt braucht.“

Das hatte Zander ihm hoch angerechnet, und in diesem Moment war ihm auch klar geworden, wie sehr Burkhart Julia immer geschätzt hatte.

Er schritt zum Bett zurück und riss eine Packung mit Keksen auf. Jetzt fuhr er jeden verfluchten Tag in diese Psychiatrie, wo sie sich weiterhin beharrlich weigerte, mit ihm zu sprechen, während er weiterhin versuchte, irgendwie an sie heranzukommen. Auch weiter optimistisch zu klingen. Eben unerschütterlich. Aber es nützte nichts. Am Ende warf sie ihn immer hinaus.

Kaum zu ertragen. Er fühlte sich todmüde.

Es wird schon wieder. Sie wird sich wieder fangen.

Das alles wäre nicht passiert, wenn sie in Mainz geblieben wäre, davon war Zander überzeugt. Wenn er weiter ein sorgsames Auge auf sie hätte haben können, so wie er es immer getan hatte. Aber sie war gegangen. Sie hatte den Dienst quittiert und war mit unbekanntem Ziel verschwunden.

Und jetzt hatte sich schlagartig alles verändert.

Noch einmal wanderte Zanders Blick zu den Zeitungsartikeln, glitt über die verschiedenen Fotos. In diesem Moment klingelte sein Handy, er griff danach und hob es ans Ohr.

„Entschuldigen Sie die Störung“, sagte eine Frauenstimme am anderen Ende. „Spreche ich mit Herrn Zander?“

Er richtete er sich etwas auf. „Ja. Und mit wem spreche ich?“

„Mein Name ist Paula von Jäckle. Wir müssen uns unbedingt treffen. Es geht um Julia Wagner.“

Was Zander zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, war, dass er längst beobachtet wurde. Und nicht nur das.

Etwa zur selben Zeit hüpften und tanzten jede Menge bunte Punkte vor den Augen eines Mannes mit dem Namen Kurt Gassmann. Er schwitzte – und das, obwohl er in seinem Büro eine Klimaanlage besaß.

Er schwitzte deshalb so sehr, weil er vor etwa einer halben Stunde Besuch von einem Mann bekommen hatte. Und dieser Mann war alles andere als angenehm gewesen. Im Gegenteil, er war unheimlich. Angst einflößend.

Er war auch gleich zur Sache gekommen. Sie bräuchten Hilfe, hatte er gesagt. Um ein Handy zu orten.

Das wäre nicht das Problem gewesen, weil es im Grunde relativ einfach war. Ein eingeschaltetes Handy sendete jede halbe Stunde ein Signal aus, das von den Basisstationen in der Stadt aufgefangen wurde. Kannte man die Abdeckung der einzelnen Stationen, die das Signal auffingen, so konnte man über Kreuzpeilung ganz leicht herausfinden, wo in der Stadt sich ein Handy befand. In der Regel mit einer Genauigkeit von weniger als einem Quadratkilometer.

Trotzdem musste eine solche Aktion erst mit seinem Chef abgesprochen werden, darauf hatte Gassmann hingewiesen. Das hatte den Mann jedoch gar nicht beeindruckt. Er, Gassmann, solle eine Handynummer überwachen (die, wie er inzwischen herausgefunden hatte, einem Mann mit dem Nachnamen Zander gehörte), erklärte er weiter, und die Daten aller Personen an ihn weitergeben, die der Gesuchte in den nächsten Stunden kontaktieren würde.

Gassmann sah sich gezwungen, noch einmal darauf hinzuweisen, dass er dies nicht ohne Genehmigung tun könne. Und das, was der Mann daraufhin zu ihm sagte, hatte ihm den Schweiß auf den Rücken getrieben: „Sie werden es tun. Im Gegenzug werden wir gegenüber Ihrer Frau und Ihren Vorgesetzten nichts davon erzählen, dass Sie es sich gerne mal auf Autobahntoiletten von fremden Männern besorgen lassen. Wir haben da ein paar schöne Fotos von Ihnen …“

Gassmann hatte geschluckt, während eine Welle von Ohnmacht und Hilflosigkeit durch ihn hindurchschwappte.

Jetzt schluckte er immer noch.

Und er schwitzte.

Er hörte gar nicht mehr auf zu schwitzen.

Wir haben da ein paar schöne Fotos von Ihnen.

Er hatte keine Wahl. Er musste es tun.

Todesruhe - Ein Fall für Julia Wagner: Band 2

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