Читать книгу Todesruhe - Ein Fall für Julia Wagner: Band 2 - Tanja Noy - Страница 14

10. KAPITEL

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Seltsame Erscheinungen

Seufzend wandte Charlotte sich an den jungen Kollegen, der zu ihrer rechten Seite stand, und fragte: „Sind Sie bereit?“

Der Mann mit dem Namen Michael Tech nickte unsicher. Gerade erst zur Mordkommission gekommen, war dies der erste große Fall, an dem er mitarbeitete, und entsprechend nervös war er. Dies hätte Charlotte gerade noch hingenommen, immerhin hatten sie alle irgendwann einmal angefangen; bei Tech lösten Nervosität und Unsicherheit allerdings den unangenehmen Reflex aus, sich den Zeigefinger ins Ohr zu stecken und dann zu betrachten, was er daraus hervorholte. So wie jetzt.

Sie verkniff es sich, ihm wie einem Kind auf die Finger zu hauen, wandte sich stattdessen ab und sagte: „Also dann. Fangen wir an.“

Eine ausgesprochen seltsame Erscheinung erwartete sie im ersten Zimmer: ein Mann mit schütterem Haar, ungepflegtem Zottelbart und burgunderrotem Gesicht, der einen Pullover trug, welcher schon deutlich bessere Zeiten gesehen hatte, und sich so linkisch bewegte, dass er fast über seine eigenen Füße stolperte.

„Mein Name ist Charlotte Gärtner“, stellte Charlotte sich vor und fügte mit einer knappen Handbewegung hinzu: „Das dort ist mein Kollege Tech. Wir sind von der Kriminalpolizei und werden jetzt Ihr Zimmer durchsuchen.“

Der Mann nickte weder noch schüttelte er den Kopf. Aber er trat zur Seite, und sie schritten an ihm vorbei.

Sofort schlug Charlotte ein säuerlicher Gestank aus Müll und Schweiß entgegen. Aber nicht nur das. Es roch auch noch nach etwas anderem. Nach kaltem Rauch. Aber nicht nach Zigaretten. Sie schnüffelte kurz, dann wandte sie sich dem Mann zu. „Wie ist Ihr Name?“, wollte sie wissen.

„Karl“, sagte er mit überraschend heller Stimme. „Hamm Se mal ’ne Kippe für mich?“

„Ich rauche nicht.“

Der Mann mit dem Namen Karl wandte sich an Tech. „Sie?“

Auch der junge Beamte hob bedauernd die Schultern.

„Shit. Stürm’ Se am helllichten Tag in mein Zimmer und hamm nit mal was zum Qualmen?“

„Tut mir leid“, sagte Charlotte. „Wie ist Ihr Nachname?“

„Waffenschmied.“

Sie nickte, trat zum Bett in der Ecke, schob die Decke zur Seite und stellte überrascht fest, dass sich kein Betttuch über der Matratze befand. Stattdessen ein großes dunkles Loch in der Mitte.

„Hab heut Morgen mein Bett angezündet“, erklärte Waffenschmied in ihren Rücken. „Deshalb hamm se mir die Streichhölzer und die Kippen weggenommen.“

„Ach“, machte Charlotte. „Dann waren Sie also für die Störung verantwortlich.“ Sie hob die Matratze an, legte sie wieder zurück auf den Rost und schaute dann unter das Bett.

„Hab nicht aufgeräumt“, redete Waffenschmied weiter in ihren Rücken.

„Das ist mir bereits aufgefallen.“ Charlotte richtete sich wieder auf.

„Hätt ich gewusst, dass Frauenbesuch kommt, hätt ich aufgeräumt.“

„Sie können immer noch durchlüften.“

„Hab ’ne Frau. Erika. Hab ich öfter ma hart angefasst. Da isse mir weggelaufen. Dann kam der Alkohol. Hat mich vom Weg abgebracht. Aber ich werd wieder.“

„Das freut mich für Sie.“ Den aufgeplatzten Äderchen und den nach unten gezogenen Mundwinkeln zufolge hatte Erika ihn schon vor einer ganzen Weile verlassen.

„Sie hamm ja keine Ahnung, wie einen das hier fertigmacht“, redete er weiter in Charlottes Rücken. „Wie Tiere im Käfig halten die uns hier. Jawohl. Wie Tiere im Käfig.“

Es entstand ein leises Scharren, als Charlotte einen alten grünen Sessel zur Seite schob, um zu sehen, ob sich darunter etwas befand. „Kannten Sie Weinfried Tämmerer?“, fragte sie währenddessen.

„Sie hamm ja keine Ahnung. Wie Tiere im Käfig. Jawohl.“

Charlotte wischte sich mit dem Ärmel ihres Hemdes über die Stirn. Dann trat sie zum schmucklosen Schrank und öffnete ihn.

„Könn Se mich hier rausholen?“

„Dazu habe ich leider keine Befugnis.“

„Ich bin nicht blöd, wissen Se. Obwohl se mich hier so behandeln, als wär ich’s.“

Charlotte schob jede Menge muffiger Wäschestücke zur Seite und dankte Gott, dass es Latexhandschuhe gab.

„Sie könnten ’nen Deal mit ’m Doc machen und ihm sagen, dass ich Ihnen bei den Ermittlungen geholfen hab.“

„Dazu müssten Sie mir aber erst einmal bei meinen Ermittlungen helfen.“

„Hab ihn gestern Abend gesehen. Im Fernsehzimmer. Wir hamm hier nämlich nur einen Fernseher“, fügte Waffenschmied hinzu, als rechne er damit, dass Charlotte ihm das nicht glauben würde.

„Wen?“, wollte sie wissen. „Tämmerer?“

Der Alkoholiker beugte sich etwas nach vorne. Seine Lippen zitterten unter dem zotteligen Bart. Er nickte.

„Haben Sie mit ihm gesprochen?“, fragte Charlotte weiter.

Wieder Nicken.

„Und was hat er gesagt?“

„Weiß nicht. Bin Alkoholiker. Macht die Zellen im Kopf kaputt, sagt der Doc. Bring’ Se mich hier raus?“

„Dazu müsste Ihnen erst wieder einfallen, was Tämmerer gestern Abend zu Ihnen gesagt hat.“

„Versprechen Se’s. Sonst sag ich nix.“

„Ich kann Ihnen nichts versprechen, Herr Waffenschmied, aber Professor Malwik und ich werden darüber reden. Was hat Weinfried Tämmerer zu Ihnen gesagt?“

„Fällt mir bestimmt wieder ein, wenn Se mit ’m Doc gesprochen hamm.“ Damit klappte der Alkoholiker den Mund zu, was zur Folge hatte, dass der Rest der Durchsuchung in Stille verlief.

Das nächste Zimmer. Der nächste Patient. Sein Name war Stefan Versemann, und er sah außergewöhnlich gut aus. Groß und schlank, hatte er ein schmales Gesicht mit hohen Wangenknochen, eine gerade Nase und einen kräftigen Zug um den Mund. Dazu blondes Haar und kluge blaue Augen hinter einer randlosen Brille – was mochte diesen Mann in die geschlossene Psychiatrie gebracht haben?

Die meisten Menschen erwarten, dass psychisch kranke Menschen hässlich und gedrungen aussehen, dass man ihnen ihre Verrücktheit quasi schon von Weitem ansieht. Natürlich ist das ein Irrglaube, aber wer hat schon die Gelegenheit, hinter solche Mauern blicken zu können, sofern es einen nicht selbst oder jemanden aus der Verwandtschaft betrifft?

Dieser Mann hier war auf jeden Fall wirklich schön, ein anderes Attribut kam Charlotte für ihn nicht in den Sinn.

„Wie geht es Ihnen, Herr Versemann?“

„Kenne ich Sie?“, gab er unsicher zurück. „Ich kenne Sie nicht.“

„Mein Name ist Charlotte Gärtner. Ich bin von der Kriminalpolizei und muss jetzt Ihr Zimmer durchsuchen.“

„Wegen der … Sache mit Tämmerer?“

„Ja.“ Charlotte trat ein, gab Tech ein Zeichen und machte sich an die Arbeit.

„Das Ganze darf aber nicht länger als fünf Minuten dauern“, sagte Versemann schnell. „Sonst komme ich zu spät zu meiner Therapie.“

„Ich fürchte, die fällt heute aus.“

„Oh …“ Er senkte den Blick und begann an der Kordel seiner Trainingshose zu zupfen. „Aber die Therapie ist wichtig für mich. Wenn ich sie mache, geht es mir besser.“

Charlotte sagte: „Ich verstehe Sie. Aber hier ist letzte Nacht ein Mord geschehen. Und das ist eine sehr ernste Angelegenheit.“

Versemann zwirbelte die Kordel noch etwas heftiger. „Natürlich.“

„Was machen Sie eigentlich beruflich, Herr Versemann?“ Das war zwar nicht die Standardfrage, mit der Charlotte sonst begann, aber es interessierte sie.

„Ich bin hochbegabt.“

Charlotte seufzte und besann sich wieder auf den Grund ihres Besuches. Während Tech sich im Badezimmer zu schaffen machte, kümmerte sie sich auch hier zuerst um das Bett. „Kannten Sie Weinfried Tämmerer?“, fragte sie währenddessen.

„Nicht sehr gut.“ Versemann hörte für einen Moment auf, mit der Kordel zu spielen, fing aber sofort wieder damit an. „Er war immer alleine. Niemand wollte etwas mit ihm zu tun haben. Weil … weil er …“

„Pädophil war?“

Nicken.

„Können Sie sich vorstellen, wer ihn umgebracht haben könnte?“

„Nein.“

„Konnte ihn jemand ganz besonders nicht leiden?“

„Campuzano.“ Das kam relativ flott. Dazu ein weiterer unsicherer Blick in Charlottes Richtung. „Kennen Sie Robert Campuzano?“

„Noch nicht.“

„Tämmerer hatte große Angst vor ihm.“

Na, das ist doch schon mal was, dachte Charlotte. „Und warum hatte Tämmerer so große Angst vor Campuzano?“

„Das darf ich Ihnen nicht sagen.“

„Warum nicht?“

Die Antwort war nicht mehr als ein Wispern: „Weil er mir dann auch wehtut.“ In der nächsten Sekunde hörte Versemann auf, mit der Kordel zu spielen, richtete sich zu voller Größe auf und sagte in ganz normalem Ton: „Und jetzt muss ich wirklich zu meiner Therapie, Frau Kommissarin.“

In das nächste Zimmer kamen sie gar nicht erst hinein, weil ihnen eine Frau in bunten Gummistiefeln den Weg versperrte. Sie war Mitte fünfzig, mit feinem Haar, das die Farbe von stumpfem Gold hatte, ihre Augen waren auffallend bernsteinfarben, und sie knurrte wie ein Hund: „Nein!“

„Glauben Sie mir, ich bin auch nicht scharf darauf, Frau Kirsch“, sagte Charlotte, „aber es ist mein Job.“

Elisa bewegte sich nicht von der Stelle, hob nur einen Finger in die Höhe, der rund war wie ein Würstchen. „Ich weigere mich.“

„Frau Kirsch, machen Sie es uns nicht …“

„Ich habe meine Tabletten nicht bekommen. Und ich bin kein Verbrecher.“

„Treten Sie zur Seite, ich verspreche Ihnen, es geht auch ganz schnell.“

Elisa funkelte Charlotte nur weiter böse an, während Tech sich nervös den Finger ins Ohr bohrte.

„Die sollen uns hier gesund machen. Jedenfalls ist das so gedacht.“

„Frau Kirsch, wenn Sie nicht freiwillig zur Seite gehen, muss ich …“

„Stattdessen geben sie uns das Gefühl, dass wir zu nichts zu gebrauchen sind. So läuft das hier.“

„Hören Sie, es tut mir wirklich leid, aber hier ist ein Mörder unterwegs, und ich hab nicht ewig Zeit.“ Damit schob Charlotte die kleine Frau einfach beiseite.

„Weshalb geben sie mir wohl meine Tabletten nicht?“, ereiferte sich Elisa hinter ihr.

Tech machte sich auf den Weg in Richtung angrenzendem Badezimmer.

„Ich habe keine Ahnung“, sagte Charlotte und sah sich in dem mit allerlei Nippes vollgestopften Zimmer um. Überall standen und hingen seltsame Gegenstände, jeder Zentimeter freie Fläche war bedeckt. Wünschelruten, Glockenspiele, Mobiles lagen auf dem Boden oder hingen von der Decke. Und alles in den Farben Indigo, Anthrazit, Taubenblau oder Schiefergrau. Die Vorhänge waren zugezogen und an einigen Stellen mit altmodischen Broschen und keltischen Motiven zusammengesteckt. Die einzige Lichtquelle war eine schwach leuchtende Tischlampe. Den Tisch selbst zierte ein Kreis aus Kristallen. Charlotte erkannte sie nicht alle, nur den Rosenquarz, den Amethyst und den Basalt. Und mittendrin lag wie in Omas guter Stube ein gehäkeltes Spitzendeckchen. Auch der Sessel davor war am Rücken und an den Armlehnen mit Kristallen verziert. Den Grund für all das kannte wohl nur Elisa selbst, doch die hatte gerade ganz andere Sorgen.

„Weil sie nicht wollen, dass ich etwas sage!“, ereiferte sie sich weiter. „Ich habe nämlich etwas gesehen. Und jetzt geben sie mir meine Tabletten nicht. Und das ist die Wahrheit.“

Charlotte, die gerade die Vorhänge aufziehen wollte, um bei der Durchsuchung mehr Licht zu haben, drehte sich zu ihr um. „Sie haben etwas gesehen?“

„Habe ich, allerdings.“

„Was haben Sie gesehen, Frau Kirsch?“

„Annegret! Ich habe sie gesehen! Aber das interessiert ja niemanden!“

„Doch. Mich interessiert es. Wer ist Annegret?“

Elisa biss sich auf die Lippen, als fiele es ihr schwer, sich daran zu erinnern, was sie eben noch gesagt hatte. „Annegret Lepelja“, sagte sie dann. „Sie ist eine von denen, die nicht gehen. Und jetzt wollen sie mir meine Tabletten nicht geben.“ Sie brach ab und fügte hinzu: „Ich war dort. Und das ist die Wahrheit.“

„Wo waren Sie? In Tämmerers Zimmer? Als er umgebracht wurde?“ Wenn nicht dort, was meinte sie dann?

Noch einmal hob Elisa einen Finger in die Höhe, und dieses Mal klang es so, als doziere sie: „Die Balance um uns herum ist tief gestört. Verwirrung, Zweifel und Furcht haben die Herrschaft übernommen. Annegret ist unser Schicksal, im Guten wie im Bösen. Und mehr sage ich nicht, bevor ich nicht meine Tabletten bekomme.“ Damit verschränkte sie die Arme vor der Brust und klappte ebenso resolut den Mund zu, wie Karl Waffenschmied zwei Zimmer zuvor.

Die nächste Tür. Zekine Yilmaz. Jene zierliche junge Türkin, die am Morgen auf Jan Jäger losgegangen war. Nun saß sie etwas schief in einem alten orangefarbenen Sessel, offenbar mit Tabletten ruhiggestellt, und gab nur noch kurze, unterdrückte Schluchzer von sich, die mehr an einen Schluckauf als an Weinen erinnerten.

„Ich weiß, das ist kein guter Zeitpunkt“, sprach Charlotte sie an. „Aber wir müssen Ihr Zimmer durchsuchen.“

Die junge Frau reagierte nicht darauf, deshalb gab Charlotte Tech ein Zeichen, dass er anfangen konnte, und begann dann ebenfalls mit der Durchsuchung.

Ein paar Minuten vergingen daraufhin schweigend. Dann sagte Zekine auf einmal ganz leise, kaum verständlich: „Diese Art von Tod … hat niemand verdient.“

Erstaunt wandte Charlotte sich zu ihr um und sah gerade noch, wie sie aufschluchzte und heftig schluckte und nach Luft schnappte. Um dann, in der nächsten Sekunde, völlig wegzutreten.

Als Tech den Kopf aus dem Badezimmer streckte, war sie bereits vom Sessel auf den Boden gesackt und dort regungslos liegen geblieben.

Todesruhe - Ein Fall für Julia Wagner: Band 2

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