Читать книгу Todesruhe - Ein Fall für Julia Wagner: Band 2 - Tanja Noy - Страница 5
1. KAPITEL
ОглавлениеDie finstersten Nächte
Drei Monate später
Dienstag, 26. Juli
22:07 Uhr
Sie wusste, dass sie so schnell wie möglich verschwinden musste. Dass sie in Gefahr schwebte und verloren war, wenn er erst auf sie aufmerksam wurde. Sie musste laufen. Doch gerade als sie sich abwenden wollte, stand er auf einmal wie aus dem Boden gewachsen vor ihr und sah auf sie herab.
In seinen Augen war nicht die Spur eines Gefühls zu erkennen. Als er sprach, war seine Stimme genauso kalt wie seine Augen: „Was machst du hier?“
Sie schluckte. „Nichts. Ich …“ Sie brach ab. Ich bin das Licht, er ist der Schatten, dachte sie bei sich. Und: Wäre ich in meinem Zimmer geblieben, hätte ich ihn nicht getroffen. Nicht jetzt. Nicht hier. Und: Wäre ich immer das brave Mädchen geblieben, zu dem man mich erzogen hat, dann wäre ich überhaupt nicht hier gelandet.
Aber für Reue war es nun zu spät. Sie war hier, an diesem Ort namens „Mönchshof“, einer geschlossenen psychiatrischen Klinik, in der alle kranken und verlorenen Seelen der Stadt begraben waren. Bildlich gesprochen. Auf jeden Fall ein düsterer, trostloser Ort.
Jeder Einzelne hier konnte eine lange Geschichte darüber erzählen, wie er hier gelandet war, und sie wusste genau, dass einige der Geschichten hier enden würden. Vielleicht auch alle. Auf jeden Fall war dies die finsterste Nacht ihres Lebens. In jeder Hinsicht. Sie konnte kaum etwas erkennen, die Mondsichel hinter dem vergitterten Fenster wurde von einer dicken Wolkenschicht verdeckt. Ihn aber sah sie, wie er sie von oben bis unten musterte, ehe er eine leichte Kopfbewegung machte. „Warum bist du nicht in deinem Zimmer?“
„Ich bin … gerade auf dem Weg dorthin.“ Sie überlegte, ob es vielleicht doch noch nicht zu spät war, um wegzulaufen. Oder wie lange es wohl dauern würde, bis jemand käme, wenn sie anfing zu schreien. Eindeutig zu lange. Nein, wenn ihr an ihrem Leben etwas lag, dann musste sie tapfer weiterlächeln und hoffen, dass er sie gehen ließ.
Und so lächelte sie tapfer weiter. Das Lächeln erwiderte er jedoch immer noch nicht. Er betrachtete sie nur weiter aus diesen starren Augen, die so kalt waren, als wäre überhaupt kein Leben in ihnen. Sie spürte sein Misstrauen, seinen Argwohn, und ihre Angst bekam nun einen Geschmack, eine Konsistenz und brannte in ihrer Kehle wie Galle, während er herauszufinden versuchte, ob sie etwas gesehen hatte. Er schien das Risiko abzuwägen, das sie darstellte. Dann zischte er: „Wenn du was sagst, bist du tot.“
Sie antwortete nicht, sondern wandte sich um und rannte los.
Stefan Versemann begriff zuerst nicht, was draußen vor sich ging.
Er war gerade auf der Toilette gewesen, nun wusch er sich die Hände, als er mit einem Mal reglos innehielt und aufsah. Für einen kurzen, dämmrigen Moment war er davon überzeugt, draußen auf dem Flur etwas gehört zu haben.
Er verließ das Badezimmer, öffnete die Tür einen Spalt und schaute hinaus. Und da war tatsächlich etwas. Ein verschwommener Schatten, der über den Flur zu schweben schien.
Versemann hielt die Luft an und ärgerte sich, dass er seine Brille nicht aufhatte.
Der Geist Annegrets? War das etwa ein schwarzer Umhang gewesen, den er gesehen hatte? Elisa Kirsch erzählte ständig davon, dass Annegret Lepelja nachts durch die Flure der Klinik geisterte. Allerdings war Elisa auch permanent auf Tranquilizern.
„Müssen Geister eigentlich auch mal auf den Topf?“, hatte Robert Campuzano gefragt, woraufhin sie ihn nur wortlos angestarrt hatte.
„Im Ernst“, sagte Campuzano. „Muss so ein Geist noch Geschäfte verrichten, oder ist das für die kein Thema mehr?“
Wie idiotisch, dachte Versemann nun. Geister. Natürlich gab es keine Geister. Damit schloss er die Tür wieder und legte sich zurück in sein Bett. Es war ein Mensch gewesen, den er dort draußen gesehen hatte, dessen war er sich nun sicher. Und dieser Mensch war natürlich nicht geschwebt, er war lautlos gerannt.
Oder doch nicht?
Doch die tote Annegret?
Versemann seufzte auf. Auf einmal war er sich überhaupt nicht mehr sicher. Auf einmal war er sich nicht einmal mehr sicher, ob er überhaupt etwas auf dem Flur gesehen hatte.
Er seufzte noch einmal leise auf. War das der Wahnsinn, von dem alle hier sprachen?
Aus dem Tagebuch von Annegret Lepelja, 1881:
Wär’s abgetan, so wie’s getan ist, dann wär’s gut. Nun, da ich wieder alleine bin, gestehe ich mir ein, dass ich zur Mörderin geworden bin. Oder zur Vollstreckerin, so wie Svetlana es mir auftrug.
Vielleicht bin ich nur närrisch, doch sind meine Gedanken derart leuchtend bunt gefärbt, dass es mich überrascht, dass die Welt sie nicht aus meinem Schädel bersten sieht. Ich habe diese Gedanken tief in meinem Inneren begraben. Denn dies ist eine riskante Zeit, und ich brauche Nerven wie aus Stein gemeißelt.
Die Gefahren wurden vorher sorgfältig von mir abgewogen. Doch woher sollte ich wissen, wie hätte ich mir je vorstellen können, wie es wäre, es so tot vor mir liegen zu sehen? So still.
Es ist das Beste, nicht mehr daran zu denken.
Jetzt ist es an der Zeit, an mich selbst zu denken.
Vorsichtig und vor allem ruhig muss ich sein. Mir ist kein Fehler unterlaufen. Und so muss es bleiben. Ich werde meine Gedanken tief in mir begraben, damit niemand sie hört.
Dies war Kind Nummer eins.
2:18 Uhr
„Können Sie schon wieder nicht schlafen, Frau Kirsch?“, fragte Felix Effinowicz mit einem leichten Anflug von Gereiztheit. Er war hundemüde und hatte noch beinahe vier Stunden Nachtdienst vor sich.
Elisa Kirsch, ein Spatz von einer Frau, gerade mal ein Meter fünfundfünfzig groß, Prima Ballerina längst vergangener Tage, trug schon wieder ihre bunten Gummistiefel unter einem langen Nachthemd und einer offenen Strickjacke. „Den hier hat sie nach mir geworfen!“, sagte sie und hielt ihm einen dunklen Keramikaschenbecher unter die Nase, der aussah wie ein Hundenapf. „Sehen Sie? Die eine Seite ist ganz abgesplittert. Das ist passiert, als er auf den Boden gefallen ist.“
„Ich verstehe“, sagte Effinowicz, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, sie einfach zu ignorieren, und dem Pflichtbewusstsein, seinen Job zu machen, was beinhaltete, ihr zuzuhören, irgendwie Verständnis zu zeigen und sie wieder zurück in ihr Bett zu bekommen. Sein Pflichtbewusstsein siegte. „Der Aschenbecher ist also durch die Luft geflogen.“
„Ich hätte die anderen Teile aufheben sollen“, stellte Elisa erschrocken fest. „Hab ich nicht dran gedacht.“ Sie begann, ihre Strickjacke bis zum Kinn zuzuknöpfen, als würde ihr das etwas mehr Zeit geben, um diese Information zu verarbeiten.
„Ist schon in Ordnung. Ich werde gleich danach sehen. Und jetzt gehen Sie wieder ins Bett.“
Elisa rührte sich nicht. „Ich hab gesehen, wie er hoch in der Luft geschwebt ist! Und dann ist er direkt auf mich zugerast. Verstehen Sie?“ Sie zuckte zur Seite, als würde das Ding erneut auf sie zufliegen. „Schnell. Richtig schnell!“
„Okay.“ Effinowicz gähnte. „Und jetzt gehen Sie zurück in Ihr Zimmer und legen sich wieder schlafen.“
Elisa blinzelte. „Sie glauben mir nicht! Natürlich glauben Sie mir nicht! Aber ich weiß doch, was passiert ist! Ich weiß es!“
„Ja. Davon bin ich überzeugt.“
„Denken Sie nicht, Sie wären stärker als sie. Sie fordert, was ihr zusteht.“
„Elisa, gehen Sie jetzt …“
„Sie ist hier, ich weiß es. Aber Sie begreifen es nicht.“
„Das macht nichts“, sagte Effinowicz. „Ich bin es gewohnt, dass ich manches nicht begreife. Und jetzt gehen Sie wieder in Ihr Zimmer, sonst muss ich nachhelfen.“
Elisa hob das Kinn und machte sich davon, allerdings ließen ihre Wortsalven dabei keinesfalls nach: „Dich wird sie sich auch noch holen, wenn du hier weiter große Töne spuckst! Was glaubst du denn? Dass du stärker bist als sie? Und meine Tabletten geben sie mir auch nicht! Aber ich weiß, was ich gesehen habe! Ich weiß es!“
Effinowicz ließ sich schwer auf einen der Stühle im Pflegerzimmer sinken und murmelte: „Ich brauche dringend einen Kaffee.“
4:10 Uhr
Wer würde bestreiten wollen, dass die Seelen der Menschen abgründig sind? Dass ihr Wesen aus dunklen Kammern und unzähligen verwinkelten Gängen besteht? Dass der feste Boden, auf dem wir uns bewegen, gar nicht fest ist? Niemand würde das tun.
Im Gegenteil. Der feste Boden, auf dem wir uns bewegen, ist nichts weiter als eine Illusion. Unter uns befinden sich Abgründe, Hohlräume, tiefste Dunkelheit, und wir bewegen uns darüber, im festen Vertrauen darauf, aus der Gegenwart, im Hier und Heute, eine einigermaßen annehmbare Zukunft formen zu können – und die Vergangenheit zu vergessen.
Aber die Vergangenheit lässt sich nicht übertünchen, egal, was wir auch versuchen. Zu vieles bleibt tief in uns verankert und stößt uns immer wieder an, damit wir es nur ja nicht vergessen. Es quillt hervor wie flüssige Lava, und alles, was ihm in den Weg gerät, zerfällt zu Asche.
Dies war die neunundvierzigste Nacht. Und genau wie in den achtundvierzig Nächten zuvor kroch der Traum wie ein langsam wirkendes Gift in Julias Körper und lähmte sie, während er in die dunkelsten Winkel ihrer Erinnerung vordrang. Es gab kein Entrinnen, keine Möglichkeit die Augen von dem Grauen zu verschließen. Sie war gezwungen, hinzusehen, sie erkannte den Ort. So, wie sie Sandmanns entstellte Leiche erkannte. Die Blutlache, die sich unter seinem reglosen Körper ausbreitete, während das Leben in ihm längst erloschen war.
Dann war auf einmal alles um Julia herum dunkel. So dunkel, dass sie die Hand vor Augen nicht mehr sehen konnte. So lange, bis ein kleines Licht die Schwärze erhellte und auf sie zukam. Die Wände waren unendlich hoch, und es gab nur dieses eine kleine Licht. Das Licht einer Kerze. Sie wusste, dass er es war, und in ihr lieferten sich Angst und Hass einen erbitterten Kampf.
Einen Augenblick lang hörte sie die Stimme ihres toten Vaters: Nur eine einzige Entscheidung, Julia. Und nur du kannst sie treffen. Dann trat Wolfgang Lange aus dem Schatten, lautlos, wie ein Geist. Sie sah es in seinen Augen. Etwas Wildes, Primitives. Seine Lippen formten sich zu einem boshaften Lächeln. In jeder Nacht dasselbe boshafte Lächeln.
Julia wollte schreien, fliehen, doch ihr Körper gehorchte ihr nicht. Sie war starr. In der nächsten Sekunde befand sie sich mit unerträglichen Schmerzen auf dem Boden. Sie konnte nicht mehr schlucken, nicht mehr atmen, kroch verzweifelt rückwärts. Dann sah sie das überdimensionale Kreuz.
An dem Kreuz hing Eva.
„Es ist Zeit, mich um deine Freundin zu kümmern. Sie ist überreif, sozusagen.“
Langes Stimme prallte von den Wänden ab, und in diesem Moment verlor Julia endgültig die Nerven. Sie schrie, aber kein Ton kam aus ihrer Kehle.
Das Messer in seiner Hand wurde zu einer Pistole, zu ihrer eigenen Pistole, ein Schuss krachte wie ein Donnerschlag, und ihr Körper explodierte. Dann ein zweiter Schuss, und Julia sah sich selbst, wie sie zur Seite sackte. Der Boden kam ihr entgegen, sie schlug mit der Schläfe auf und hörte in weiter Ferne Evas Weinen. Der Boden unter ihrer Wange fühlte sich kalt an, aber ihr eigenes Blut wärmte sie, während sie spürte, wie ihr Körper immer schwächer wurde. Die Welt um sie herum verschwamm vor ihren Augen, ehe völlige Dunkelheit sie verschlang.
In dieser Sekunde schlug Julia die Augen auf. Sie blinzelte, versuchte, sich zu orientieren, und stellte fest, dass sie in ihrem Bett lag, vermeintlich sicher in einer psychiatrischen Klinik.
Sie atmete ein paarmal tief durch, um ihren Herzschlag zu beruhigen. Das Blut rauschte in ihren Ohren. Schweiß klebte auf ihrem Gesicht, und ihr T-Shirt war völlig durchnässt. Sie würgte. Ihre Augen brannten. Decke und Wände drehten sich um sie herum.
Kraftlos wollte sie sich vom Bett erheben und sank doch nur auf den Boden davor, rang weiter nach Luft, aber ihre Lungen wollten sich nicht beruhigen, schenkten ihr keinen Sauerstoff.
Mit mehr Kraft, als sie eigentlich besaß, zwang Julia sich auf die Füße und eilte ins Badezimmer, ehe sie sich in die Toilette übergab.
Eine ganze Weile blieb sie anschließend neben der Schüssel sitzen und starrte auf die kalten Fliesen. Dann richtete sie sich auf, zog das feuchte T-Shirt aus und warf es auf den Boden, zwang sich auf die Füße und blickte in den Spiegel. Sie blinzelte nicht, starrte sich einfach nur an. Sie war älter geworden. Oder vielleicht wirkte sie inzwischen auch nur viel älter als zweiunddreißig Jahre. Sie hatte immer noch dieselben dunkelbraunen, halblangen Haare, denselben langen Pony, der ihr über das linke Auge fiel, dieselbe Größe, dieselbe Figur, dieselben Tätowierungen. Aber nun war noch etwas anderes hinzugekommen. Sie betrachtete die beiden Narben, eine unterhalb des Herzens und eine etwas tiefer auf der linken Seite, und plötzlich erinnerte sie sich an das letzte Gespräch mit Frau Dr. Sattler, der Psychologin.
„ Ich habe mit Ihrem Kollegen Zander über Sie gesprochen, Frau Wagner.“
„ Exkollegen.“
„ Sie haben ihn schon wieder hinausgeworfen. Warum wollen Sie nicht mit ihm sprechen?“
Keine Antwort.
„ Er macht sich große Sorgen um Sie. Er würde Ihnen gerne helfen.“
Schweigen.
„ Sie sind nicht sehr mitteilsam, Frau Wagner.“
„ Sie stellen nicht die richtigen Fragen.“
„ Wolfgang Lange war Ihr Mentor, richtig? Sie haben ihm vertraut.“
„ Ich habe zu vielen Menschen vertraut. Und zu viele Menschen haben mir vertraut.“
„ Sie haben in unserem letzten Gespräch angedeutet, er wollte beweisen, dass er besser ist als Sie.“
Schweigen.
„ Aber das war er nicht, sonst hätten Sie jene Nacht im April nicht überlebt. Sie waren besser als er.“
Nichts.
„ Und Sie sind es noch, denn Sie sind hier. Sie haben sich freiwillig in eine Behandlung begeben, weil Sie leben wollen.“
„ Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich das wirklich will.“ Julia klappte den Mund zu, und wieder herrschte ein paar Sekunden lang Schweigen.
Dann fragte Frau Dr. Sattler: „Warum wollte dieser Mann Sie töten?“
Keine Antwort von Julia.
„ Frau Wagner?“
Julia stand auf, stopfte die Hände in die Taschen ihrer Jogginghose und lief im Zimmer auf und ab. Es dauerte eine ganze Weile, ehe sie sagte: „Ich kenne die Antwort auf diese Frage nicht.“
„ Wirklich nicht?“
Erneutes Schweigen.
„ Sie gestatten es sich nicht, wütend zu sein“, blieb die Psychologin am Ball.
„ Weshalb sollte ich wütend sein?“
„ Weil dieser Mann Sie zerstören wollte.“
Keine Antwort.
„ Aber er ist tot. Und Sie sind noch am Leben. Wie auch Ihre Freundin noch am Leben ist. Wo ist sie jetzt?“
„ Eva? Sie ist abgereist. Mit unbekanntem Ziel. Wer kann es ihr verübeln?“
„ Sind Sie jetzt wütend?“
„ Wenn ich es bin, dann nicht auf Eva.“
Julia starrte sich immer noch im Spiegel an.
Die Realität hat die lästige Eigenschaft, immer das letzte Wort zu haben.
Selbst wenn die Träume und Erinnerungen nicht gewesen wären, allein durch diese beiden Narben auf ihrem Körper würde sie jeden Tag an das Geschehene erinnert werden.
Sie sah sie, und sie spürte den Schmerz. Und so würde es bleiben.