Читать книгу Todesruhe - Ein Fall für Julia Wagner: Band 2 - Tanja Noy - Страница 9
5. KAPITEL
ОглавлениеEin Toter ohne Augen
9:01 Uhr
Zu Lebzeiten musste der Mann recht gut ausgesehen haben, groß und schlank, mit vollem dunklem Haar, von silbernen Strähnen durchzogen, das ihm wellig aus der hohen Stirn fiel.
Das mit dem recht gut aussehen war nun allerdings vorbei. Der Unterkiefer hing herunter, die Oberlippe war hochgezogen und die Vorderzähne wie zu einem Knurren gebleckt. Ein dünner Blutfaden war aus dem linken Nasenloch gesickert und schwarz eingetrocknet. Und er hatte keine Augen mehr.
Charlotte blinzelte und unterdrückte eisern ein Flattern im Magen. „So etwas habe ich ja noch nie gesehen“, murmelte sie.
Der Kollege von der Spurensicherung schoss ein paar Fotos. Der Auslöser klickte und surrte. „Eine Leiche ohne Augen ist mir bisher auch noch nicht untergekommen.“
„Haben wir seinen Namen?“
„Weinfried Tämmerer. Wurde kurz vor 8:00 Uhr gefunden.“
Charlotte nickte und bewegte sich ein Stück zur Seite, um dem Mann nicht im Weg zu stehen. „Und was können Sie mir sonst erzählen?“
„Er wurde erschossen, und das – wie ich für den armen Kerl hoffe –, bevor man ihm die Augen entfernt hat. Was das Kaliber der Waffe betrifft, möchte ich mich nicht festlegen. Die Kriminaltechniker werden Ihnen da mehr helfen können als ich.“ Der Kollege legte ein Lineal neben den Blutfleck, der sich unter dem Kopf des Opfers ausgebreitet hatte, und beugte sich etwas nach vorne, um ein weiteres Foto zu machen. „Was ich Ihnen aber sagen kann, ist, dass es sich um keinen Raubmord handelt. Brieftasche und ein paar Münzen lagen unangetastet in der Nachttischschublade.“ Er hob den Blick, sah zur Tür und seufzte leise auf. „Na, großartig … Kennen Sie Madame?“ Als Charlotte daraufhin den Kopf schüttelte, fügte er hinzu: „Na, dann passen Sie mal auf.“
„Also bitte, was darf es heute sein?“ Frau Dr. Hannelore Strickners Stimme fiel durch knappe, präzise Aussprache auf, und Charlotte fuhr bei ihrem Klang unwillkürlich zusammen. Als sie den Kopf wandte, konnte sie die Frau sehen, die in der Tür aufgetaucht war. Sie war Ende fünfzig und ihre grauen, mit blonden Strähnchen durchzogenen, auftoupierten Haare standen wie Stacheln in alle Richtungen. Auf ihrer Nasenspitze saß eine rote Diorbrille, und in der rechten Hand hielt sie einen großen metallenen Koffer, den sie schnaubend neben sich abstellte. „Entschuldigen Sie die Verspätung, aber leider beinhaltet mein Etat noch keinen Hubschrauber, mit dem ich von einem Gewaltopfer zum nächsten fliegen kann. Aber nun, da ich endlich hier bin … Was haben wir?“
Charlotte räusperte sich. „Eine männliche Leiche. Keines natürlichen Todes gestorben.“
„Was Sie nicht sagen“, bemerkte die Strickner.
Charlotte räusperte sich erneut. „Er hat keine Augen mehr.“
Die Ärztin machte sich gar nicht erst die Mühe, auf etwas zu antworten, was sie selbst sehen konnte. Stattdessen wandte sie den Kopf, um Charlotte besser ins Visier nehmen zu können. „Und wer sind Sie?“, wollte sie wissen.
„Gärtner“, sagte Charlotte. „Mordkommission.“
„Ah. Die neue Kommissarin.“ Für einen Moment wurden die Augen der Strickner schmal hinter der roten Brille, dann konzentrierte sie sich wieder auf die Leiche. Sie klappte ihren Koffer auf und streifte sich Handschuhe über. Dann beugte sie sich etwas nach vorne, um den Toten besser in Augenschein nehmen zu können. „Ganz schön abartig“, murmelte sie. „Die Augen wurden ihm offenbar gewaltsam herausgerissen.“
Charlotte spürte schon wieder Übelkeit in sich aufsteigen, schloss für einen Moment die eigenen Augen, froh, dass sie diese noch besaß, und dachte darüber nach, dass es viele Gründe geben konnte, warum ein Mörder seinem Opfer die Augen ausriss. Ihr fiel nur im Moment keiner ein.
„Aber immerhin, ich würde vermuten, dass es für den armen Mann ziemlich schnell ging“, bemerkte die Ärztin nach ein paar Sekunden und wandte ihre Aufmerksamkeit nun der Schusswunde zu. „Ein Schuss in die Schläfe. Am Einschussloch ist schwarzes, angetrocknetes Blut.“ Sie schien den Inhalt ihres Koffers blind zu kennen, denn sie griff ohne hinzusehen zielsicher nach einer Lupe und studierte damit die Haut rings um das Loch. „Sehen Sie das?“ Ohne aufzublicken, hielt sie Charlotte die Lupe hin. „Der graue Schimmer auf dem Schwarz der Einschusswunde deutet darauf hin, dass er aus nächster Nähe erschossen wurde, der Schuss aber nicht aufgesetzt war. Ich tippe auf etwa einen halben Meter.“
Charlotte beugte sich etwas hinunter und starrte durch die Lupe.
„Die Asymmetrie der Verfärbung zeigt, dass der Schütze stand und schräg nach unten geschossen hat“, fügte die Strickner hinzu.
„Können Sie erahnen, was für eine Waffe verwendet wurde?“, fragte Charlotte.
„Ballistik ist nicht mein Fachgebiet, Frau Kommissarin.“
„Seltsam, dass niemand den Schuss gehört hat“, bemerkte der Mann von der Spurensicherung, ohne von seiner Arbeit aufzusehen.
„Schalldämpfer“, gab die Strickner zurück, ebenfalls ohne aufzusehen.
„Was?“, entfuhr es Charlotte. „Wie zum Teufel sollten die Herrschaften hier an einen Schalldämpfer gelangen?“
„Gegenfrage: Wie zum Teufel sind die Herrschaften hier an eine Pistole gelangt?“
Charlotte seufzte tief auf und nickte. „Todeszeitpunkt?“
„Irgendwann um Mitternacht herum, würde ich sagen.“ Die Strickner runzelte die Stirn, widmete sich noch einmal dem Körper des Toten und deutete nun auf mehrere Blutergüsse am Oberkörper. „Sehen Sie die Hämatome hier? Jemand muss ihn kurz vor seinem Tod noch ordentlich verprügelt haben.“ Damit richtete sie sich auf und legte die Instrumente ordentlich in den Koffer zurück. „Zuerst verprügelt und wenig später erschossen. Mehr kann ich Ihnen erst sagen, wenn ich ihn auf meinem Tisch hatte.“
Und das war es dann auch. Die Ärztin schnappte sich ihren metallenen Koffer und verschwand, ohne einen weiteren Blick auf die Leiche zu werfen.