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ANSTELLE EINES VORWORTES

ZEITENWENDE

Die Welt formiert sich neu. Die Vorboten heraufdämmernder Zeiten kündigen es unüberhörbar an: Es kommt zur Angleichung der Geschlechter; der Einebnung von Ethnien, Ständen und Klassen. Wertvorstellungen und Traditionen verschwinden. Selbst Jahreszeiten lösen sich auf; Grenzen fallen, Weltmeere sterben leise, gigantische Wanderbewegungen setzen ein, und die Weltbevölkerung steigt sprunghaft an.

Wer historisches Gefühl besitzt, zweifelt nicht daran. Diese Erde richtet sich auf etwas Neues aus – auf ein neues Zeit­alter. Es stößt bereits vor, ohne dass dessen Werte schon sichtbar sind. Vielleicht ist es tatsächlich so, wie es Oswald Spengler in seinem vor 100 Jahren verfassten Werk „Der Untergang des Abendlandes“ beschrieben hat. Alles im ­Leben unterliegt dem ewigen Kreislauf von Werden und Vergehen. Auch jede Kultur. Sie wird geboren, erlebt eine magische, seelenhafte Frühzeit, erreicht das Flegelalter, stürmt in Leidenschaft hinaus, hat nichts und doch genug, liebt und hasst, ist verschwenderisch ohne Maß, gleich­gültig, schön und grausam zugleich, ohne Absichten und Rücksichten, erobert, geht Irrwege, errichtet sich Denk­mäler, bringt Genies hervor, kehrt fremd heim, ordnet, mehrt, urteilt und herrscht weise, verliert unbemerkt ­laufend an Lebenskraft, um im schicksalserzwun­genen ­Aufbäumen noch einmal, ein letztes Mal das Beste und die Verkörperung all dessen hervorzubringen, wofür sie einst stand – und endet schließlich als kraftloser, verwirrter, ge­bückter Greis, devot gegenüber allem und jedem; auch gegenüber den Zerstörern. Die unübersehbaren Zeichen des nahenden Lebensendes jeder Hochkultur sind stets die­selben: Geschichtslosigkeit, Mate­rialismus, starke Unter­haltungsindustrien, Werteverfall, ­Irreligiosität, geringe Ehrfurcht vor den Leistungen der Vorgenerationen, völlige Überhöhung der eigenen Person und eigenen Bedürfnisse, starker Geburtenrückgang und schließlich Überlassung des Kulturgebietes an andere Volksmassen und deren Nachkommen. Ländernamen sind am Ende nur noch Bezeichnungen von Liegenschaften; die dort lebenden Menschen ohne innere Verwandtschaft zur Kultur. Umgemünzt auf uns und mit dem Kreislauf der Jahreszeiten gesprochen: Es ist Spätherbst geworden. Es wird früh dunkel. Es fröstelt schon.

Diese Entwicklung – das „Sich-selbst-nicht-mehr-Mögen“ der Europäer, die Absage an das Eigene und innere Leere – hat Kardinal Joseph Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI., schon sehr früh erkannt: „Es gibt in Europa eine seltsame Unlust an der Zukunft. Am deutlichsten ist dies daran zu erkennen, dass Kinder als Bedrohung der Gegenwart angesehen werden; sie werden weithin nicht als Hoffnung, sondern als Grenze der Gegenwart empfunden. Europa scheint ausgerechnet in der Stunde seines äußersten Erfolgs von ­innen her leer geworden, gleichsam von einer lebensbedrohenden Kreislaufkrise gelähmt, auf Transplantate angewiesen. Diesem inneren Absterben der tragenden seelischen Kräfte entspricht es, dass auch ethnisch Europa auf dem Weg der Verabschiedung begriffen erscheint. Der Vergleich mit dem untergehenden Römischen Reich drängt sich auf, das als großer geschichtlicher Rahmen noch funktionierte, aber praktisch schon von denen lebte, die es auflösen sollten, weil es selbst keine Lebenskraft mehr hatte.“ In seiner Rede über Europas Identität wird das emeritierte Oberhaupt der katholischen Kirche noch deutlicher: „Hier gibt es einen merkwürdigen und nur als pathologisch zu bezeichnenden Selbsthass des Abendlandes, das sich zwar lobenswerter­weise fremden Werten verstehend zu öffnen versucht, aber sich selbst nicht mehr mag, von seiner eigenen Geschichte nur noch das Grausame und Zerstörerische sieht, das Große und Reine aber nicht mehr wahrzunehmen vermag. Europa braucht, um zu überleben, eine neue – gewiss kritische und demütige – Annahme seiner selbst, wenn es überleben will.“

Dass diese Welt aus den Fugen gerät, ist völlig neu für uns. Wir alle wuchsen mit dem mehr oder weniger biederen Traum vom sicheren Glück bis hin zur Pensionierung auf. Natürlich bezogen wir den technischen Fortschritt in unsere Vorstellung von der Zukunft mit ein. Aber unsere Lebensumstände hielten wir für gesichert. Man darf die Macht dieser naiven Vorstellung nicht unterschätzen. Wir haben nie gelernt, was es bedeutet, alles zu verlieren. Uns fehlt das tiefe Misstrauen gegenüber allem, was man besitzen kann. Uns fehlt die Erfahrung, dass ein Mensch alles ohne großes Bedauern zurücklassen kann, wenn es nötig ist. Denn das ist eine der wenigen gültigen Definitionen von Freiheit: die Unabhängigkeit von materiellen Dingen. Das Zeichen wahrer menschlicher Größe, die Benjamin Franklin einmal treffend charakterisiert hat: „Ein wahrhaft großer Mensch wird weder einen Wurm zertreten, noch vor dem Kaiser kriechen.“

So gesehen ist unsere Zeitenwende eine Art „Rückkehr zur geschichtlichen Normalität“: Das Leben war auch für vorangegangene Generationen keine ausgemachte Sache. Es war etwas Gefährliches, Nichtvorhersehbares und oft Feindliches. Seuchen, Kriege, Ernteausfälle, Naturkatastrophen, hohe Kindersterblichkeit, von vornherein geringe ­Lebenserwartung und dergleichen mehr. In seinem Gedicht „Das Lied von der Glocke“ schreibt Schiller ganz bewusst „… muss hinaus, ins feindliche Leben …“. Die Menschen damals bereiteten ihre Kinder auf ein Dasein voll Ungewissheit, Gefahr und Wagnis vor. Mit der Erziehung zu Frohsinn, Gelehrigkeit, Mut, Disziplin, Entsagung, Bescheidenheit, Prinzipientreue und der Bereitschaft, Opfer zu bringen. Jede dieser – geistigen und von vielen als „unzeitgemäß“ befundenen – Tugenden ist in einer gefahrvollen Umwelt nicht nur überlebensnotwendig, sondern macht furchtloser, freier und glücklicher, da sie den Menschen von materiellen Umständen unabhängig macht; man ist weit mehr als sein Haus, sein Auto oder eben glückliche Umstände. Wer einen Menschen vom Schlage Mahatma Gandhis für zehn Jahre ins Gefängnis wirft, der nimmt ihm kaum etwas. Denn jemand, der sein Leben geistig-seelisch lebt, erreicht Punkte, an denen er durch keine Macht der Erde mehr eingeschüchtert oder gebrochen werden kann. Die Idee, dass der Geist alles und die Materie nichts ist – der Glaube an das, was unvergänglich bleibt –, formt die innerste Überzeugung, ­jedem Schicksal gewachsen zu sein. Der Mensch wird furchtlos und frei.

Erpressbar und ängstlich hingegen ist der reine Materialist. Er hat nichts anderes als das eigene „Hiersein“ und seinen Komfort. Wer ihm das nimmt, nimmt ihm alles. Die tief sitzende Angst vieler hat ihren Ursprung darin, dass unsere Konsumgesellschaft als neue Volkskirche in allen Belangen von einer rein materiellen Lebensvorstellung geprägt ist. Je materialistischer Menschen sind, desto auswegloser ist ihre Angst und die Abhängigkeit vom bequemen Leben: Denn ist man Materialist durch und durch, glaubt man also in letzter Konsequenz, dass, wenn dieses Leben vorbei ist, alles zu Ende sei, ist man leicht erpressbar. Für ihre „quasi-paradiesische“ Vorstellung vom bequemen Leben sind die Bürger Europas gegenwärtig sogar bereit, im Kampf gegen den Terror leichtfertig ihre Grund- und Freiheitsrechte aufzugeben; dies, um sich für nur kurze Zeit Sicherheit zu erkaufen und ganz im Sinne des sich formierenden Orwell’schen Über­wachungsstaates, der wie so oft in der Geschichte „die Freiheit im Namen der Freiheit abschafft“1. Rein aus Furcht vor dem Ende der Annehmlichkeiten werden auch wiederholt Pleitebanken und Pleitestaaten auf Kosten künftiger Generationen mit gigantischen, nicht mehr vorstellbaren Summen und Haftungen vor dem Bankrott gerettet und als unfähig erwiesene Politiker im Amt belassen oder der irrwitzige Selbstlauf gescheiterter Institutionen, Ämter und Konferenzen nicht gestoppt. Dabei attestierte schon Albert Einstein, dass es wohl „die reinste Form des Wahnsinns ist, alles beim Alten zu lassen, und trotzdem zu hoffen, dass sich etwas ändert“.

Die Zeitenwende brachte übrigens unnachahmlich Joseph Roth zu Papier. In seinem Werk „Radetzkymarsch“ lässt er eine seiner Hauptfiguren Folgendes sagen: „Ja, es scheint, dass Gott selbst die Verantwortung für die Welt nicht mehr tragen will. Es war damals leichter! Alles war gesichert. Jeder Stein lag auf seinem Platz. Die Straßen des Lebens waren wohl gepflastert. Die sicheren Dächer lagen über den Mauern der Häuser. Aber heute, Herr Bezirkshauptmann, heute liegen die Steine auf den Straßen quer und verworren und in gefährlichen Haufen, und die Dächer haben Löcher, und in die Häuser regnet es, und jeder muss selber wissen, welche Straße er geht und in was für ein Haus er zieht.“

Oder, in den Worten einer untergegangenen Sprache: Estote parati. – Seid bereit.

EIN GLEICHNIS ZU WEIHNACHTEN

Für die meisten ist Weihnachten eine liebe Tradition, die an die eigene Kindheit erinnert und einmal im Jahr in schönem Rahmen die religiösen Bedürfnisse befriedigt. Doch nach christlichem Glauben geht es am Heiligen Abend um etwas ganz anderes; um sehr viel mehr: um etwas, das nichts mit Konsum, Wohlfühl-Religion oder der Verharmlosung von Jesus zu tun hat.

Wenn man einem kleinen Kind die Bedeutung des christ­lichen Weihnachtsfestes erklären wollte, dann vielleicht so:

„Stelle dir einen voll besetzten Reisebus vor. Er rast einen steilen Abhang hinab. Die Bremsen sind defekt; die Insassen des Reisebusses befinden sich in Todesgefahr. Das Unglück scheint kaum noch zu verhindern zu sein. Der Busfahrer hat nur eine einzige Chance, um das Leben der Insassen zu retten: Er muss den Bus auf die nahe gelegene Wiese auslenken und dort zum Stehen bringen. Doch auf dieser Wiese spielt ein kleiner Junge. Er ist der einzige Sohn des Busfahrers, der keine Chance hätte, dem heranrasenden Bus auszuweichen. Sein Leben für das der anderen Menschen. Kurz bevor der Bus die Wiese erreicht, steht der Junge auf. Er hat die Situation blitzschnell erfasst. Er blickt in die Augen seines Vaters und nickt ihm bejahend zu. Kurze Zeit später kommt der Bus im aufgeweichten Boden der Wiese zum Stillstand. Das Leben der Insassen ist gerettet. Alle diese Menschen in dem Reisebus – das sind wir. Der Name des Jungen? Jesus. Und doch gibt es keinen Grund zur Trauer. Ganz im Gegenteil. Das Kind, Jesus, ist nicht tot. Nach christlichem Glauben sitzt es jetzt zur Rechten Gottes.“

Und zu Weihnachten feiert die Welt die Geburt von Jesus.

1 Wie anders war da noch die Einstellung des britischen Außenministers John William Ward, 1. Earl of Dudley (1781–1833), der sagte, dass „die Menschen in Paris eine vortreffliche Polizei haben; aber sie bezahlen die Vorteile teuer. Ich will lieber, dass alle drei bis vier Jahre ein halb Dutzend Menschen in Ratcliffe Road erwürgt werden, als dass ich den Haus­suchungen, der Spionage und all den anderen Machenschaften Fouchés ausgesetzt bin.“ Joseph Fouché (1759–1820) war ein Politiker der Französischen Revolution und Polizeiminister. Er galt als äußerst brutal und rücksichtslos und etablierte den ersten Überwachungsstaat.

Offen gesagt Band 3 Zum aktuellen Zeitgeschehen

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