Читать книгу Offen gesagt Band 3 Zum aktuellen Zeitgeschehen - Tassilo Wallentin - Страница 6
ОглавлениеERSCHIENEN AM 6. 9. 2015
„NEUSPRECH“
Die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) hat vor einigen Tagen den 2000 Jahre alten Tempel von Palmyra gesprengt, eines der wichtigsten Kulturdenkmäler der Menschheit. Der schlichte Grund: Er entsprach nicht dem Zeitgeist der neuen Machthaber. Wer meint, derartiges könne es bei uns nie geben, hat sich noch nicht mit den Tendenzen unserer immer dreisteren Tugendwächter befasst.
Im Tempel von Palmyra – Weltkulturerbe der UNESCO – verehrte man vor 2000 Jahren Götter, an die heute keiner mehr glaubt. Er hatte in all seiner Pracht nur einen Fehler: Er widersprach dem von den neuen Machthabern staatlich verordneten Zeitgeist, wonach man fremde Götter nicht einmal mehr zeigen darf. Deshalb sprengte ihn der IS. Ein schriller Schrei der Empörung ging durch die westliche Welt. Die UNESCO bezeichnete die Tat als Kriegsverbrechen. Von unfassbarer Barbarei war die Rede. Doch unsere selbsternannten Tugendwächter stehen derartigen Taten gar nicht so ferne, wie man meinen möchte:
Die beliebten Kinderbücher von Otfried Preußler wie „Die kleine Hexe“ oder „Der Räuber Hotzenplotz“ werden nach politisch nicht mehr korrekten Begrifflichkeiten wie „Türke“, „Chinese“ oder „Negerlein“ durchforstet. Die „Biene Maja“ und „Pipi Langstrumpf“ müssen in ihren Neufassungen ab nun „geschlechtsneutral“ sein, und der Kobold „Pumuckl“ darf keinen Bauch mehr haben. Am schlimmsten aber hat es Erich Kästner erwischt. Seine Bücher fielen schon 1933 der Bücherverbrennung anheim und liegen nun zum zweiten Mal auf dem Scheiterhaufen: diesmal in der Stadtbibliothek im deutschen Bad Dürrheim. Gemeinsam mit 3200 anderen Werken wurden Kästners Bücher wegen Verstoßes gegen den staatlich verordneten Zeitgeist zum Zwecke der Umerziehung eingestampft. Das endgültige Aus für „Das fliegende Klassenzimmer“, „Das doppelte Lottchen“, „Pünktchen und Anton“ und „Emil und die Detektive“.
Johann Strauss hat mit dem „Zigeunerbaron“ nichts Böses gemeint, und William Shakespeare wollte weder mit „Othello, der Mohr von Venedig“ Rassismus noch mit dem „Kaufmann von Venedig“ Antisemitismus schüren. Natürlich erfahren Begriffe einen Bedeutungswandel. Heute formuliert man vieles anders, wir leben auch in einer anderen Zeit. Deshalb haben bigotte, selbsternannte Tugendwächter nicht das Recht, Bücher großer Autoren rückwärts zu bereinigen. Sonst müsste man auch der „Mona Lisa“ einen „geschlechtsneutralen“ Bart verpassen und das Kunsthistorische Museum einer Zensur unterziehen. Wer Kästner liest, hat ihn aus seiner Zeit heraus zu verstehen. Wie den Tempel von Palmyra. Alles andere ist eine Form von Tugendterror.
Das Umschreiben von Kinderbüchern ist keine große Sache. Aber es ist ein weiterer, bewusst gesetzter Schritt in eine unheilvolle Richtung: Die Menschen sollen die Welt nicht mehr so sehen, wie sie ist oder wie sie einmal war, sondern wie sie nach dem Willen unserer Tugendwächter zu sein hat. Und von dort aus ist es nicht mehr weit zum Orwell’schen Überwachungsstaat mit seiner „Gedankenpolizei“, dem „staatlichen Ministerium für Wahrheit“ und dem „Neusprech“, der von oben vorgeschriebenen, künstlich veränderten Sprache als Mittel der neuen Herrschaft über uns.