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KILLIN, SCHOTTLAND

Time Zero: 27 Stunden

»Soll ich wirklich nicht dabei sein?«, fragt Mum und bleibt unsicher im Türrahmen stehen.

»Zum hundertsten Mal: nein. Geh endlich! Ich komm allein zurecht.«

»Du rufst mich an, wenn …«

»Wenn was? Wenn er ein Axtmörder ist? Ich weiß nicht, ob das klappt. ›Entschuldigung, könnten Sie Ihre Axt kurz weglegen. Ich habe meiner Mami versprochen anzurufen!‹« Mum sieht mich entnervt an. »Alles gut. Du hast ja seinen Namen und die Telefonnummer. Geh!«

Sie gibt mir einen Kuss auf die Stirn und verlässt das Haus.

Am liebsten würde ich sie zurückrufen, aber ich verkneife es mir. Ich bin sechzehn, fast siebzehn, da kann ich mich nicht mehr hinter meiner Mutter verstecken. Warum bin ich nur so aufgeregt?

Seufzend lasse ich mich aufs Sofa plumpsen und lehne mich an Ramsay, meinen riesigen Plüscheisbären. »Sei doch ehrlich, Shay«, sage ich laut und fahre erschrocken zusammen, als meine Stimme durch das leere Haus dringt. Wenn ich diesem Jungen die ganze Geschichte erzähle, wird er fragen, warum ich nichts unternommen habe, und mich womöglich für Calistas Schicksal verantwortlich machen.

Vielleicht denke ich insgeheim genauso. Normalerweise hätte ich keinen Gedanken mehr an eine solche zufällige Begegnung verschwendet. Ich kann mich so gut daran erinnern, weil mir bei der Sache nicht wohl war. Und ich habe nichts unternommen.

Die Zeit will nicht vergehen. Endlich höre ich Motorengeräusche. Ich stehe auf und ziehe den Vorhang beiseite. Die Sonne verschwindet gerade hinter den Bergen, als ein Motorrad um die Ecke biegt. Kurz werden die Maschine und der schwarz gekleidete Fahrer von einer Art Heiligenschein umrahmt. Dann ist es wieder stockdunkel.

Als ich die Haustür öffne, nimmt der Fahrer den Helm ab. Er fährt sich mit der Hand durchs Haar und streicht es sich aus den Augen.

»Shay?«, fragt er. »Ich bin Kai.« Er zieht sich die Handschuhe aus und wir geben uns die Hand. Er hält meine eine Weile. Sieht mich dabei durchdringend an – bittend, bedürftig. Wie gebannt schaue ich ihm in die Augen – hellbraun, mit einem goldenen Ring um die Pupillen, der in Grün übergeht.

Blinzelnd löse ich den Blick. »Komm doch rein«, sage ich. »Magst du vielleicht einen Tee oder …«

»Nein. Nein, Shay. Sag, was du beobachtet hast. Bitte.« Er klingt ängstlich und angespannt. Seine Schwester, seine kleine Schwester, wird seit fast einem Jahr vermisst. Wie fühlt sich das wohl an? Ich muss ihm alles genau erzählen, egal, ob ich dabei gut wegkomme.

»Natürlich. Tut mir leid.«

Im Wohnzimmer biete ich ihm einen Sessel an und nehme auf dem Sofa Platz. Vorher öffnet er noch den Reißverschluss seiner Motorradjacke und zieht sie aus. Er ist hochgewachsen, hat breite Schultern. Von der Sonne ist das Haar ausgebleicht, blonde und braune Strähnen wechseln sich ab. Wahrscheinlich ist er ein oder zwei Jahre älter als ich. Meine Freundin Iona würde sagen, er sieht todesgut aus. Er setzt sich und schaut mich ruhig an. Wartet, dass ich loslege.

»Okay. Ich war mit dem Rad unterwegs. Da gibt es diese eine Stelle oben auf dem Berg, wo ich immer anhalte. Es war nachmittags, so zwischen drei und vier. Ich weiß, dass es der 29. Juni war, weil wir am nächsten Tag in die Ferien gefahren sind, sonst hätte ich sicher auch mitbekommen, dass sie vermisst wird.«

Er nickt, lässt mich nicht aus den Augen.

»Ich sah jemanden den Pfad hinaufkommen. Ein Mädchen. Mit Jeans und rotem Kapuzenpulli. Der Weg ist ziemlich steil, und zu Fuß ist es ein weiter Marsch von Killin, darum habe ich mich gefragt, wer sie wohl ist, und genauer hingeschaut. Da oben treffe ich sonst nie jemanden.«

Er greift in die Tasche und reicht mir ein Foto. »Und du glaubst, es war meine Schwester? Unsere Calista?«

Auch wenn es ein anderes Bild ist als das auf dem Handzettel, lassen das lange dunkle Haar, die blauen Augen und der fragende Blick keinen Zweifel zu. Ich nicke. »Das ist sie. Da bin ich ganz sicher.«

»Auch nach all der Zeit?«

»Ja.« Ich zögere, eigentlich will ich darüber gar nicht reden, aber es muss wohl sein. »Das ist so ein bisschen mein Ding. Wenn ich mich konzentriere, habe ich ein fotografisches Gedächtnis. Ich präge mir leicht was ein.«

»Okay. Und was war dann?«

Also erzähle ich ihm die ganze Geschichte. Dass sie sich angeblich nicht verirrt hatte, ich ihr gefolgt bin, wie der Wagen hielt und sie mit dem Mann einstieg.

»Wie sah der Mann aus?«

»Ganz gewöhnlich. Sorry, das hilft dir jetzt nicht. Kurzes Haar, schon ein wenig schütter. Etwas über vierzig. Wenn ich ein bisschen darüber nachdenke, fällt mir vielleicht noch mehr ein.«

Er runzelt unwillig die Stirn.

»Tut mir echt leid. Hätte ich sie doch bloß dazu gebracht, mit mir zu reden, die Polizei gerufen oder sonst was getan. Irgendwas.«

Als Kai aufschaut und meinen Blick sieht, werden seine Züge weicher. Er schüttelt den Kopf. »Was immer auch mit meiner Schwester passiert ist, ist nicht deine Schuld. Ich dachte nur, na ja.« Er greift erneut in seine Tasche und fördert ein weiteres Foto zutage. »Ich dachte, es könnte eventuell dieser Mann gewesen sein.« Sein Blick sagt mehr als tausend Worte, er hasst ihn.

Auf dem Bild ist ein älterer Mann mit langem, üppig silbergrauem Haar zu sehen. Mit den durchdringend blauen Augen sieht er aus wie ein Filmstar, selbst auf dem Foto hat er eine unglaubliche Ausstrahlung. Und irgendwie kommt er mir auch bekannt vor, vielleicht habe ich ihn mal in einem Film gesehen?

Aber das ist nicht der Mann, zu dem Calista in den Wagen gestiegen ist. »Nein. Sieht ihm überhaupt nicht ähnlich.«

»Sicher? Bist du ganz sicher?«

Weil ich spüre, dass er es sich wünscht, schaue ich noch einmal richtig hin. Und seltsamerweise triggert das Bild eine Erinnerung. Nur dieses silberne Haar irritiert mich. Angestrengt denke ich nach und schüttle schließlich den Kopf – woran auch immer ich mich erinnere, ist für Kais Sache nicht von Bedeutung. »Es ist nicht der Mann, den ich mit deiner Schwester gesehen habe.« Ich schaue Kai an. »Wer ist es?«

»Mein Stiefvater. Meine Mutter hat sich vor ein paar Jahren von ihm scheiden lassen.«

»Und du meinst, er könnte deine Schwester entführt haben?«

»Der würde alles tun, um Mum wehzutun. Gehst du mit mir zur Polizei, erzählst du denen, was du gesehen hast?«

»Klar.«

»Kannst du mir auch zeigen, wo du Calista begegnet bist?«

Ich nicke. »Das können wir nur nicht im Dunkeln machen.«

»Ich komme morgen wieder.«

Allmählich verlöscht das Feuer in seinen Augen. Kai wirkt müde und abgespannt.

»Wo wohnst du denn?«

»Newcastle.«

»Also einen Geordie-Dialekt hast du aber nicht.«

Er lächelt verhalten. »Nein. Wir sind da erst vor fünf Jahren hingezogen. Vorher haben wir überall gewohnt. Ursprünglich kommen wir aus Deutschland. Du klingst aber auch nicht besonders schottisch!«

»Nee, bin ich auch nicht. Meine Mutter schon. Sie stammt hier aus der Gegend. Vor etwas über einem Jahr sind wir aus London hergezogen. Ihre Tante Addy ist gestorben und hat ihr das Haus hinterlassen. So hat es mich hier in die Pampa verschlagen und …« Beschämt halte ich inne, als mir klar wird, dass ich ihn zutexte. Halt die Klappe, Shay. Deine Familiendramen interessieren ihn nicht.

»Dann haue ich jetzt mal ab.« Kai streckt sich und langt nach seiner Jacke.

Ich bin unschlüssig. Mir ist klar, was Mum täte, wenn sie hier wäre. »Ist ’ne ziemlich lange Fahrt zurück nach Newcastle und morgen wieder her. Du kannst gerne hier auf dem Sofa schlafen.«

»In netter Gesellschaft?«, fragt er und mir steigt die Hitze in den Kopf. Kais Blick wandert zu Ramsay und zurück zu mir, er grinst. In seinen Augen steht der Schalk, als wüsste er genau, was ich zuerst gedacht habe. Als ob so ein Typ Interesse an mir haben könnte!

»Na, das musst du mit Ramsay klären. Vielleicht verbringt er die Nacht lieber allein auf dem Sessel.«

»Musst du nicht deine Eltern fragen?«

»Ich wohne hier bloß mit meiner Mum. Sie arbeitet im Pub und kommt erst in ein paar Stunden nach Hause. Außerdem ist sie sowieso einverstanden.«

Kais Lächeln verschwindet wieder, so als könnte es sich nie lange auf seinem Gesicht halten. »Da fällt mir noch was ein. Ich rufe lieber meine Mutter an und erzähle ihr, was du gesagt hast.«

Er verschwindet nach draußen. Ich höre ihn in einer fremden Sprache reden – wahrscheinlich Deutsch. Für mich ergeben die Worte keinen Sinn, aber er hat eine schöne Stimme, fast melodisch. Im Englischen formuliert er die Wörter schulbuchmäßig. Man hört weder Newcastle noch irgendeine andere Region raus.

Ich schreibe Mum eine Nachricht. Er ist da und hat mich noch nicht gekillt. Kann ich ihm für heute Nacht das Sofa anbieten? Morgen soll ich ihm die Stelle zeigen, wo ich seine Schwester gesehen habe, und mit ihm zur Polizei gehen.

So schnell, wie sie antwortet, wird sie mit dem Handy in der Hand gelauert haben. Natürlich. Mach ihm was zu essen. Kommst du alleine klar? Ist er nett?

Draußen in der Dunkelheit klingt seine Stimme wie Musik. Traurige Musik, so wie in der Oper, wenn alles schiefgeht. Ob er nett ist, will Mum wissen. Auf jeden Fall nicht Hundebaby-nett. In seinem Blick liegt etwas Verstörendes, als müsste er mit seinem Inneren ringen.

Auf einmal steht Kai ganz verlegen in der Tür. Anstelle von Wut verströmt er unendliche Traurigkeit. Ich wünschte, ich könnte ihn irgendwie aufheitern.

Ich schreibe zurück: Ja.

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