Читать книгу Wenn sie mich finden - Terri Blackstock - Страница 13

8 Casey

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Ich hasse es, deprimiert zu sein. Das ist nicht mein Normalzustand, trotz der Wahrheiten, die mich seit Jahren verfolgen. Mein Verstand versucht, die Niedergeschlagenheit abzuschütteln und etwas zu finden, das mich zum Lächeln bringt. Aber diesmal heftet die Stimmung sich an mich und nimmt mich in Geiselhaft. Meine Augen fühlen sich an wie Reibeisen und ich möchte am liebsten im Bett bleiben und schlafen, bis der Albtraum endet. Aber wenn ich das versuche, versinke ich in dem Schrecken der Erinnerung daran, wie ich Brent gefunden habe, und ich wache zitternd und schweißgebadet auf und muss mich fragen, ob ich im Schlaf geschrien habe und mich vielleicht jemand durch die Wand gehört hat. Dann liege ich wach, wälze mich von einer Seite auf die andere, auf den Bauch, auf den Rücken, ziehe die Knie an, strecke mich wieder, versuche alles, um eine bequeme Lage zu finden, während mein Kopf schmerzt und meine Gedanken sich im Kreis drehen.

Ich versuche, mich auf die einfachen Dinge zu konzentrieren – ausrechnen, wie viel Geld ich ausgegeben habe und wie viel mir noch bleibt, Listen schreiben, was ich besorgen muss. Aber alles kommt mir so sinnlos vor. Werde ich mich jemals aus dieser Situation befreien können? Und: Kann man vielleicht daran sterben?

Dann nehmen meine Gedanken eine Richtung ins Morbide – ich, tot in einem Hotelbett, niemand sieht nach mir, bis man das Zimmer aufbricht, um das Geld für die Übernachtung einzutreiben. Sie kennen ja meinen wahren Namen nicht, also könnten sie auch niemanden benachrichtigen oder mir ein anständiges Begräbnis ausrichten. Meine Familie wird nie erfahren, was mir zugestoßen ist.

Ich stehe auf, ziehe mir Schuhe an und gehe joggen. Ich bin nicht besonders fit – normalerweise jogge ich nicht –, aber heute tue ich’s und renne schneller, als es für Jogger üblich ist. Ich konzentriere mich ganz darauf, wie meine Füße auf dem Pflaster aufkommen, und auf mein Aus- und Einatmen. Nach ein paar Häuserblocks bleibe ich stehen, außer Atem und mit Seitenstichen, und sinke auf den Bordstein, um wieder zu Luft zu kommen. Die Tränen attackieren mich wieder und der Kummer verzerrt meine Gesichtszüge, sodass ich mir wünsche, ich hätte meine Sonnenbrille dabei. Autos fahren an mir vorbei, aber niemand sieht mich.

Ich muss mit jemandem reden. Also laufe ich zurück in mein Hotel. Mit meinem neuen Handy gehe ich ins Internet und rufe die Seite mit meinem geheimen E-Mail-Konto auf – das unter dem Namen Kein-Untergang. Ich will wissen, ob Dylan mir geschrieben hat. Hat er.

Lassen Sie mich wissen, wann und wo wir reden können. Ich habe Ihnen eine Menge zu erzählen.

Ich würde ihm gern antworten, besinne mich dann aber eines Besseren. Ich bin so weit gekommen, habe mich so lange versteckt. Wenn ich ihn anrufe – woher weiß ich, dass er nicht direkt neben Keegan sitzt und der den Anruf mithört?

Dann versuche ich, mich an den besorgten Blick in seinen Augen zu erinnern, als er mich aus Dotsons Haus befreit hat, als er mich aus diesem schrecklichen Keller in die Freiheit zog, als er mich gehen ließ.

Vielleicht kann ich ihm wirklich trauen. Zumindest in gewissem Maß. Wenn ich vorsichtig bin …

Ich tippe:

Ja, wir können reden. Geben Sie mir eine sichere Nummer.

Ich warte ungefähr eine halbe Stunde, gucke immer wieder in meine Mails, um zu sehen, ob er geantwortet hat. Ich zwinge mich selbst, mich aufs Fernsehen zu konzentrieren, weiß aber gar nicht, was ich da schaue. Endlich, nach zwei Stunden, sehe ich seine Antwort. Es ist eine Telefonnummer, dann die Worte:

Bitte rufen Sie an. Die Nummer ist sicher.

Etwas schnürt mir die Kehle zu und ich muss schlucken. Setze ich mein Leben aufs Spiel, wenn ich den Anruf mache? Aber dann empfinde ich Frieden – zum ersten Mal seit Wochen tiefen inneren Frieden. Ich greife zum Handy und gebe die Nummer ein. Mein Herz rast, während ich auf die Verbindung warte. Es klingelt einmal, zweimal …

„Hallo?“

Ich schweige ein paar Sekunden, dann frage ich: „Warum haben Sie mich laufen lassen?“

„Weil Sie unschuldig sind.“

Jetzt laufen die Tränen wieder und ich kann nicht sagen, ob es Erleichterungstränen oder Tränen noch tieferer Trauer sind. „Woher wollen Sie das wissen?“

„Ich habe Nachforschungen angestellt. Ich glaube den Unterlagen, die Sie mir geschickt haben – den Dingen, die in Brents Dateien stehen. Das ist die Wahrheit. Und ich werde Keegan und Rollins und alle, die sonst noch in diese Geschichte verwickelt sind, auffliegen lassen. Aber das kann ich erst, wenn ich unwiderlegbare Beweise habe. Ich will eine Anklage erhärten können. Sie werden nicht damit davonkommen.“

Ich schniefe und wische mir mit dem Ärmel die Tränen ab. „Und Sie suchen weiter nach mir?“

„Ja“, sagt er. „Ich möchte Sie finden, bevor die anderen es tun. Vor denen sind Sie nicht sicher. Sagen Sie mir, wo Sie sind.“

„Nein“, sage ich rasch. „Dazu vertraue ich Ihnen nicht genug.“

Es ist ein paar Sekunden lang still. „Casey, alles Ordnung mit Ihnen? Dotson hat Sie übel zugerichtet. Waren Sie beim Arzt?“

„Nein“, sage ich. „Es geht schon.“

„Ihr Mut ist bewundernswert.“

Ich unterbreche ihn gereizt. „Überhaupt nicht. Ich bin abgehauen.“ Ich schließe die Augen und ziehe die Knie an die Brust. „Ich bin auf der Flucht.“

„Aber man hat Ihnen eine Falle gestellt.“

„Und? Was soll ich also tun? Zurückkommen? Ist das Ihre Lösung?“

„Nein. Ich möchte, dass Sie bleiben, wo Sie sind. Oder irgendwohin gehen, wo Sie sicher sind. Auch wenn ich nicht sagen kann, wo das ist.“

Ich öffne die Augen wieder und wische mir übers Gesicht.

„Wenn ich Sie nicht finden kann, dann kann Keegan es wahrscheinlich auch nicht. Offen gesagt, bin ich ziemlich gut.“

Ich lache und bin selbst überrascht. „Ja, sind Sie.“

„Sie aber auch. Ein normaler Mensch könnte nicht so lange untertauchen, wie Sie es jetzt bereits geschafft haben.“

„Es ist eben besonders wichtig für mich.“

„Ja, das ist es.“ Für einen Moment ist da zwischen uns etwas Menschliches, Zartes. „Casey, ich habe Ihnen gesagt, dass ich an PTBS leide. Und da hilft es immer, mit jemandem zu sprechen. Wenn Sie einen Therapeuten finden, müsste er alles, was Sie sagen, vertraulich behandeln.“

„Nicht, wenn er glaubt, dass ich einen Mord begangen habe.“

„Dann wenden Sie sich an eine Kirchengemeinde. Sie brauchen Hilfe. Sie können das, was Sie durchgemacht haben und noch durchmachen, nicht allein bewältigen. Ich weiß das.“

Ich starre auf den Fernseher, aber ich sehe nur Dylans Gesicht vor mir, dieses Gesicht, das ich nur einmal gesehen habe. „Warum haben Sie das?“

„PTBS? Ich war Kriminalermittler bei der Armee. Ich war in drei Auslandseinsätzen, einmal im Irak und zweimal in Afghanistan. Ich war nicht bei der kämpfenden Truppe, aber ein paarmal geriet ich in Granatenangriffe. Das Schlimmste passierte bei meinem zweiten Konvoi-Einsatz … wir fuhren in eine Sprengfalle. Wir haben … Leute verloren.“

Ich höre den Schmerz in seiner Stimme, so abgehackt kommen seine Worte.

„Ich weiß, ich sollte mich glücklich schätzen, dass ich überlebt habe. Aber ich kann meine Gedanken nicht immer kontrollieren.“

Seine Stimme verliert sich und ich weiß, er wird nicht mehr zu diesem Thema sagen. Ich bin ratlos, was ich antworten soll. Alles, was mir einfällt, klingt banal und abgenutzt.

„Sie haben auch traumatische Erfahrungen gemacht, und nicht nur einmal“, fährt er fort. „Sie waren zwölf, als Sie Ihren Vater tot aufgefunden haben. Haben Sie darüber schon jemals mit irgendjemandem geredet?“

„Ja, mit den Polizisten. Sie klangen, als ob sie Anteil nehmen würden, aber dann sind sie verschwunden und ich hab nie wieder von ihnen gehört. Und ich habe mit Brent geredet.“ Ich schlage wieder die Hände vors Gesicht, als könnte er mich sehen. „Dylan, wenn Sie mir helfen wollen, dann schützen Sie meine Familie. Schützen Sie Hannah und ihren Mann und das Baby. Schützen Sie meine Mom … Es geht ihr nicht gut.“

„Da bin ich dran“, sagt er nicht sehr überzeugend. Ich weiß, er kann sie letztlich nicht vor Keegan in Schutz nehmen. „Hannah spielt gut mit; sie vertritt die Selbstmordversion über Ihren Vater, genau wie die Polizei. Sie stellt keine Bedrohung für sie dar. Ich weiß, dass sie nicht daran glaubt, aber solange Keegan überzeugt ist, dass sie es tut, ist sie in Sicherheit. Er kann sich nicht noch einen Mord leisten, den er vertuschen muss, wenn es sich vermeiden lässt.“

„Das kümmert ihn wohl kaum. Er ist ein Bluthund. Wer kann ihn aufhalten?“

„Ich werde ihn aufhalten.“

„Nachdem er vollendete Tatsachen geschaffen hat. Nachdem es zu spät ist für die Menschen, die ich liebe.“

„Casey, Sie müssen sich jetzt um sich selbst kümmern. Auf Hannah richten sich gerade viele Augen. Die Presse belagert ihr Haus und das Ihrer Mutter; sie versuchen immer wieder, jemanden vor die Kamera zu kriegen. Ich glaube nicht, dass ihr im Moment etwas passieren kann.“

Ich springe auf. „Was? Sie belagern sie? Warum?“

„Na, wegen dem, was Sie in Shady Grove getan haben. Das ist ein gefundenes Fressen für die Medien. Stellen Sie sich die Schlagzeilen vor: Ist sie ein Killer oder eine Heilige?“

„Weder noch.“

Er schweigt einen Moment. „Heiligkeit ist nicht das, was die Leute dafür halten. Sie sollten mal die Bibel dazu befragen.“

„Ich weiß nicht viel von der Bibel“, sage ich.

„Das lässt sich ändern. Vielleicht gefällt sie Ihnen sogar.“ Ich mag den sanften Ton seiner Stimme. „Ich glaube wirklich, dass Gott hier seine Hand im Spiel hat. Er ist der Grund, warum ich auf Ihrer Seite bin.“

Wieder fließen die Tränen. Ich wische sie fort.

„Casey, ich wünsche mir, dass Sie sehen können, wo er am Werk ist. Halten Sie Ausschau nach ihm. Nehmen Sie mich als erstes Indiz.“

Ich denke darüber nach, was er sagt. Wenn er nicht lügt, wenn er wirklich auf meiner Seite steht, dann ist die Tatsache, dass es ihn in meinem Leben gibt, allerdings ein Wunder. Ich denke an mein Entkommen aus Shady Grove, daran, dass er im entscheidenden Moment aufgetaucht ist, wenn auch nur, um mich zu verhaften. Aber dann hat er es nicht getan.

„Ja, das sehe ich“, flüstere ich, ziehe den Ärmel über meine Faust und wische mir über Wangen und Nase.

„Gut.“

Ich weiß nicht, warum dieser Augenblick mit Dylan mich so tröstet. Ich wünschte, ich könnte ihm direkt gegenübersitzen. Ich wünschte, ich könnte seine Hand halten.

Ich wünschte, ich müsste dieses Gespräch nicht abbrechen. Aber es ist möglich, dass er das Gespräch zurückverfolgen lässt. Falls das so ist, bin ich vermutlich bereits entdeckt. Jedenfalls sollte ich es jetzt nicht noch ausdehnen. „Ich muss Schluss machen“, sage ich leise.

„Ich bin froh, dass Sie angerufen haben. Tun Sie das wieder. Wenn ich nicht direkt abnehmen kann, rufe ich Sie zurück.“

Ich weiß nicht, ob ich ihn je wieder anrufen werde. Für alle Fälle sage ich: „Vielen Dank, Dylan.“

„Passen Sie auf sich auf“, sagt er. „Ich bete für Sie.“

Ich beende das Gespräch, überrascht, wie gut mir diese Bemerkung tut. Dass da jemand, irgendein Jemand, für mich beten will … Die Vorstellung verleiht mir Kraft; ich fühle mich nicht mehr so entsetzlich schwach.

Heute Nacht werde ich schlafen. Und morgen werde ich etwas anderes tun als trauern.

Wenn sie mich finden

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