Читать книгу Wenn sie mich finden - Terri Blackstock - Страница 6
1 Casey
ОглавлениеDie Lichter des Polizeiwagens in meinem Rückspiegel machen mich fertig. Shady Grove liegt gerade zehn Meilen hinter uns. Die Polizei rast mit Blaulicht und Sirene durch den Verkehr und klebt mir so an den Fersen, dass das kreisende Licht blauen Terror in mein regennasses Auto malt. Es gibt keine Möglichkeit anzuhalten – der Verkehr ist zu dicht und der Straßenrand wird von Gräben begrenzt.
Mein Herz hastet und stolpert, ich bin schweißgebadet.
Aber irgendwie spüre ich auch eine Spur Erleichterung. Bald wird es also vorbei sein – das Wegrennen, das Versteckspiel, dieses Sichdurchschlagen mit falscher Identität, das einen dem wirklichen Leben entfremdet. Denn es tut fürchterlich weh, wenn man sich Beziehungen vom Herzen reißen muss wie heißes Wachs.
Doch so rasch die Erleichterung gekommen ist, so rasch vertreibt die Wirklichkeit sie auch wieder. Denn mein Leben wird vorbei sein, wenn sie mich meinen Peinigern übergeben. Und dann werden sie es auf meine Familie absehen.
Ich betrachte mich selbst im Rückspiegel. Sie werden mich sofort erkennen, die Verletzungen sind eindeutig. Mein Kinn ist geschwollen und verkratzt, an meiner Hand klebt Blut. Die Beine in den zerrissenen Jeans fühlen sich auch blutig an und zerschrammt. Wen wird es interessieren, dass ich heute Nacht um mein Leben gekämpft habe – und um das Leben eines weiteren Menschen? Dass ich etwas Gutes getan habe, wird nicht zählen; schließlich haben sie am Tatort meine DNA an der Leiche meines besten Freundes gefunden. Für sie bin ich nichts als eine kaltblütige Mörderin. Sie werden sagen, ich verdiene, was immer passiert.
Der Polizeiwagen ist jetzt fast direkt hinter mir. Ich biege auf den Parkplatz eines Kinos ab, wissend, dass sie mir folgen und mich gleich mit vorgehaltener Waffe umzingeln werden.
Aber nein – sie bleiben auf der glitschigen Straße, fahren am Parkplatz vorbei. Mit angehaltenem Atem drehe ich mich um und beobachte sie durch die nasse Heckscheibe, starr vor Erstaunen, bis sie eine halbe Meile weiter ihr Ziel erreichen. Ein Unfall. Zwei Wagen sind beteiligt und die Polizeiwagen blockieren die Straße und stoppen den Verkehr.
Ich stoße die Luft aus und spüre Tränen kommen. Es ist also nicht vorbei. Es geht weiter. Ich werde weiter auf der Flucht sein.
Ich wische mir mit dem nassen Ärmel über die Augen und nehme mich gerade genug zusammen, um mein Auto im Schatten des Kinogebäudes zu parken. Dann angele ich nach meiner Handtasche und der Reisetasche, die ich vor ein paar Tagen hinter meinem Sitz verstaut habe. Ich krame in der Handtasche und finde Make-up und Lippenstift. Ich wünschte, ich hätte auch Lidschatten und Puder, aber beides ist in der Wohnung, in die ich nicht mehr zurückkann.
Ich schalte die Spiegelbeleuchtung an und trage das Make-up auf mein zerschrammtes Kinn auf. Die Wangenknochen bearbeite ich mit Lippenstift, um sie etwas normaler aussehen zu lassen.
Es ist nicht perfekt, aber zumindest sieht man nicht mehr auf den ersten Blick, dass ich heute Abend zusammengeschlagen wurde. Ich ziehe den Reißverschluss der Reisetasche auf und greife nach der schwarzen Baseballkappe, fasse mein Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen und ziehe die Kappe darüber.
Im Aschenbecher finde ich eine Münze, die hoffentlich als Schraubenzieher taugt. Ich steige aus dem Wagen und gehe zurück zur Einfahrt des Parkplatzes. Es ist spät, der letzte Film ist vorbei, aber auf dem Gelände steht noch eine Handvoll verstreuter Autos. Ein rostiger Buick mit zwei platten Reifen steht am nächsten, also knie ich mich dahinter – im strömenden Regen – und schraube das Nummernschild ab.
Dann gehe ich rasch zurück zu meinem Wagen und tausche die Nummern aus. Sie werden bald in weitem Umkreis nach meinem Kia fahnden. Ich muss ihn irgendwie loswerden, aber vorerst muss es mit dem falschen Nummernschild gehen, bis ich weit genug von hier weg bin.
Zurück auf der Straße, biege ich bei nächster Gelegenheit in eine Nebenstraße ab, um den Unfall zu umfahren. Ich bleibe auf Nebenrouten und steuere Richtung Westen. Nach etwa einer Stunde rechne ich nicht mehr jede Minute mit Martinshorngeheul. Ich weiß nicht, wo ich bin, aber wenn man kein Ziel hat, ist es egal, ob man sich verfährt.
Stunden später überquere ich die Grenze nach Mississippi und lasse Alabama und Georgia hinter mir. Jetzt muss ich schleunigst mein Auto loswerden.
Mein Kinn tut weh, mein Knie und mein blutiges Schienbein ebenfalls. Die Müdigkeit zerrt an mir wie ein Spannseil. Ich muss eine Bleibe finden und mich sauber machen.
Eine gute Stunde später erreiche ich eine Kleinstadt. An den Straßenecken lungern ein paar Männer herum. Ich biege in eine andere Straße ab, aber da wirkt es auch nicht sicherer. Weiter vorn ist ein Motel, das Mühe hätte, auch nur einen Stern zu bekommen. Aber das lässt mich hoffen, dass man dort Bargeld akzeptiert und nicht nach meinen Papieren fragt.
Das Büro hinter dem schmutzigen Glasfenster hängt voller Qualm. Ein Mann mit gepiercter Oberlippe begrüßt mich.
„Ich brauche ein Zimmer“, sage ich. „Ich zahle bar.“
Sein Haar hängt fettig über den schläfrigen Augen. Er stellt keine Fragen, nimmt mein Geld und reicht mir einen Zimmerschlüssel.
„Ist die Bettwäsche sauber?“, frage ich.
Seine Augen flackern. „Heute Morgen gewechselt“, knurrt er, offensichtlich gekränkt durch meine Nachfrage.
Ich würde am liebsten fragen, wie viele Stundengäste das Zimmer seitdem benutzt haben, aber ich seufze nur und mache mich auf zu der Nummer, die er mir genannt hat. Wenigstens ist es am Ende des Ganges, ich habe also nur auf einer Seite Nachbarn. Und vielleicht ist das Nebenzimmer ja leer. Mein Auto steht am anderen Ende des Parkplatzes und dort lasse ich es auch.
Das Zimmer riecht nach Zigaretten und etlichen anderen üblen Sachen, die ich nicht benennen kann. Ich trete ein und schlage die dünne Tagesdecke zurück. Die Laken sind zerknittert, aber sie sehen sauber aus. In voller Montur schlüpfe ich ins Bett und versuche, nicht an Wanzen, Flöhe oder Mäuse zu denken … oder an ein Polizeieinsatzkommando mit vorgehaltenen Waffen.
Ich entdecke die klebrige Fernbedienung und schalte den Fernseher ein. Es gibt nur die öffentlichen Programme. Ich suche mir einen Nachrichtensender und verfolge etwa eine Stunde lang die Meldungen. Ich will wissen, ob mein Fall schon bekannt ist. Aber ich sehe nichts. Vielleicht kommt ja nur im Regionalprogramm von Shady Grove eine Meldung.
Ich stelle mir vor, was morgen wohl über mich in den Medien gebracht wird. Wird die Aufmerksamkeit auch dem vermissten Mädchen gelten, das nun wieder bei seiner Familie ist?
„Flüchtige Kriminelle rettet entführtes Mädchen“ – das wäre die Sensationsschlagzeile, die Brent gewählt hätte, damit die großen Agenturen nach dem Artikel greifen. Diese Geschichte würde niemand ignorieren.
Ich frage mich, ob die Polizei in Shreveport es Dylan anlasten wird, dass ich ihnen entkommen bin. Er hatte den Auftrag, mich zu finden. Warum hat er mich einfach davonkommen lassen?
Es gibt nur eine Erklärung: Gott muss seine Hand im Spiel gehabt haben.
In den letzten Tagen habe ich mich mehr als einmal an ihn gewandt. Ich kenne ihn kaum. Aber ich glaube, er kennt mich. Als mir die Augen zufallen, flüstere ich noch ein „Danke“, bevor der Schlaf mich einholt.