Читать книгу Wenn sie mich finden - Terri Blackstock - Страница 16

11 Dylan

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Wieder eine schlaflose Nacht. Meine Einschlafversuche sind unterbrochen von Zeiten vor dem PC. Schließlich gebe ich es auf und mache Kaffee, dann stelle ich den Fernseher an. Die Lokalnachrichten laufen gerade und als Brent Paces Foto auf dem Bildschirm erscheint, gehe ich näher an den Fernseher heran.

Die örtliche Polizei ist noch immer auf der Suche nach der mutmaßlichen Täterin, die in Georgia gesehen wurde, wo sie ein junges Mädchen und ihr Baby aus der Hand eines Kidnappers befreit hat. Heute erhielten wir aus einer anonymen Quelle Bilder vom Tatort des Mordes an Brent Pace, die dieses Verbrechen ins rechte Licht rücken. Der brutale Mord geschah bereits vor Monaten …

Die Moderatorin berichtet die Einzelheiten und dann wird das Bild eingeblendet, das man mir damals nicht überlassen wollte: Brents blutüberströmter Leichnam am Fuß der Treppe in seinem Haus.

Die Bilder werden nur kurz eingeblendet und sind stark verpixelt, aber die Moderatorin verkündet, wer mehr sehen wolle, könne auf die Website des Senders gehen. Sofort bin ich am Computer und rufe die Seite auf. Hier sind die Bilder, unverpixelt, blutig und brutal.

Ich spüre die Hitze in meinen Ohren, ein Brennen in meinem Rückgrat und Herzrasen, wenn ich daran denke, dass Brents Mutter diese Bilder zu sehen bekommt. Wie muss es sie verletzen, wenn sie zum Tagesgespräch bei allen Freunden und Bekannten werden. Ich weiß ohne Zweifel, warum sie gerade jetzt veröffentlicht werden. Das ist Keegans Methode, die Öffentlichkeit daran zu erinnern, dass Casey Cox keine Heldin ist, sondern ein Killer. Und ich weiß auch, wem man die Indiskretion anlasten wird.

Ich lasse den Fernseher laufen und stürme aus meiner Wohnung hinunter zu meinem Auto. Auf der Fahrt zum Polizeidezernat zittern mir die Hände.

Dort angekommen, laufe ich im Eilschritt über den Rasen und die Stufen zum Eingang hinauf. Ich nehme Kurs in Richtung von Keegans Abteilung, um ihn mir zunächst direkt vorzuknöpfen, aber dann besinne ich mich eines Besseren. Es ist sinnlos, ihn und Rollins direkt zur Rede zu stellen. Stattdessen gehe ich zum Büro von Polizeichef Gates weiter hinten im Gebäude und hoffe, dass ich ihn antreffe. Seine Sekretärin telefoniert gerade und ein weiterer Apparat klingelt. Ich höre ihn reden, er ist in seinem Büro.

Er hat bereits von den Bildern gehört und versucht gerade, sich aus der Sache herauszureden. Ich stecke meine zitternde Faust in die Tasche. „Ich muss ihn sprechen“, sage ich zu der Sekretärin. „Dylan Roberts.“ Bei diesem Namen sieht sie erschrocken hoch, legt den Hörer ab und geht zu seiner Tür. „Er ist hier“, sagt sie. „Dylan Roberts.“

„Dylan, rein mit Ihnen!“, tobt er und sie winkt mir einzutreten. Ich sehe sofort, dass Polizeichef Gates ebenso vor Zorn kocht wie ich. Er marschiert hinter seinem Stuhl hin und her und hält den Hörer ans Ohr, während er weiterschimpft. „Nein, ich weiß nicht, was er sich dabei gedacht hat, aber ich werde es gleich erfahren. Ich rufe zurück.“

Er knallt den Hörer auf den Apparat und lehnt sich über seinen Schreibtisch zu mir vor. „Es gibt da ein paar Menschen, die mir sehr am Herzen liegen und die erneut in tiefe Trauer gestürzt wurden, weil sie den blutigen Körper ihres Sohnes auf einem Fernsehbildschirm ansehen mussten und ihn überall im Internet finden können. Was wissen Sie davon, Dylan?“

„Deswegen bin ich hier“, sage ich. „Weil ich genau dieselbe Frage habe. Wer hat diese Fotos an die Presse gebracht?“

„Keegan sagt, Sie waren’s. Setzen Sie sich.“

Ich kann jetzt nicht sitzen. „Keegan weiß sehr gut, dass man mir diese Fotos gar nicht ausgehändigt hat.“ Meine Hände zittern noch immer, als ich mein Handy heraushole und die Fotos aufrufe. Ich blättere durch den Ordner, bis das erste Bild erscheint, das ich an jenem Tag gemacht habe – es sind Bilder von der Tatortdokumentation der Spurensicherung. Kein einziges zeigt Brents Körper. Ich reiche ihm das Handy und beobachte, wie er die Bilder ansieht.

Schließlich gibt er mir das Handy zurück. „Das beweist gar nichts, Dylan. Wer sagt mir, dass sie die anderen Fotos nicht einfach auf dem Weg hierher gelöscht haben?“

„Und warum sollte ich dann wohl sofort, nachdem ich sie gesehen habe, hier auftauchen? Brent war mein Freund. Ich will nicht, dass die ganze Welt ihn so anstarren kann. Das trägt die Handschrift von Detective Keegan.“

Er knurrt. „Und was veranlasst Sie zu dieser Aussage?“

„Keegan gefällt die PR nicht, die Casey Cox im Moment bekommt“, sage ich. „Er möchte die Geschichte verändern.“

„Das will ich auch“, erwidert Gates. „Genauso wie Sie selbst. Aber dies …“

Endlich sinke ich auf einen Stuhl und vergrabe das Gesicht in den Händen. „Hat Brents Mutter sie gesehen?“

„Das am Telefon eben war Jim“, sagt er. „Sie war gerade im Supermarkt – die Bilder liefen auf zehn Großbildschirmen. Man musste ihr ein Beruhigungsmittel geben. Sie ist am Boden zerstört. Als wäre es erst gestern passiert.“

Ich brauche einen Moment, um meine Gefühle unter Kontrolle zu bringen. Ich reibe mir über die Lippen, damit sie mir gehorchen. „In meiner gesamten Arbeit als Ermittler habe ich niemals Informationen durchsickern lassen“, sage ich mit Nachdruck. „Und ich würde es auch nie tun. Schon gar nicht, wenn die Familie eines Freundes betroffen ist. Können wir vielleicht eine einstweilige Verfügung gegen den Sender erwirken? Eine Unterlassungsklage?“

„Zu spät“, entgegnet der Polizeichef. „Die Bilder sind draußen. Die Leute machen sich Screenshots davon und verschicken sie an Freunde.“

Ich stoße die Luft aus. „Die Leute sind krank.“

„Die Bilder sind spektakulär. Die Sache ist skandalös. Schrecklich – und die Leute wollen Blut sehen.“ Er macht eine Handbewegung, mit der er versehentlich eine Wasserflasche und seine Kaffeetasse vom Schreibtisch fegt. Die Tasse zerbricht klirrend in Scherben und der braune Inhalt verteilt sich auf dem Fußboden.

Seine Sekretärin stürmt herein. „Sir, ist Ihnen was passiert?“

„Nein“, bellt er. „Bringen Sie mir Keegan und Rollins her. Auf der Stelle. Egal, wo sie stecken, erklären Sie ihnen, ich will sie hier sehen. Und rufen Sie den Staatsanwalt an. Ich kann ihn nicht mehr heraushalten. Wenn er kann, soll er auch herkommen.“

Dass er die beiden Ermittler kommen lässt, bedeutet hoffentlich, dass er mir glaubt. Die Sekretärin ruft den Staatsanwalt an und ich lasse den Polizeichef eine Minute allein, gehe hinaus auf den Flur und checke per Handy, wie sich die Bilder bisher verbreitet haben. Dann höre ich am Ende des Ganges jemanden fluchen. Als ich hochschaue, marschiert Jim Pace auf mich zu. Seine Augen sind gerötet, seine Schritte energisch. „Dylan, sag mir, dass du das nicht warst!“

Dass er das überhaupt in Erwägung ziehen kann, lässt meine Augen brennen. Ich gehe ihm entgegen. „Jim, warum sollte ich wohl wollen, dass diese Bilder in Großformat über die Bildschirme flimmern? Warum sollte ich wollen, dass Leute sie weiterverschicken und dass Elise sie zu sehen bekommt? Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen.“

Jims Lippen zittern und er hat sich nicht mehr in der Gewalt. Er schlägt die Hände vors Gesicht und kehrt mir den Rücken zu. „Ich kann es einfach nicht glauben“, stammelt er. „Seine Mutter …“

„Ich glaube es auch kaum“, flüstere ich.

Er dreht sich zu mir um. „Wer hatte Zugang zu diesen Fotos?“

„Die Leute von der Spurensicherung, die sie gemacht haben“, sage ich. „Und natürlich die Ermittler, die den Fall bearbeiten. Aber mir wollte man keinen Zugriff auf diese Fotos geben und das hat seinen Grund. Für diese Bilder gibt es sehr strenge Beweismittelsicherungsbestimmungen. Alles zu dem Zweck, es der Familie zu ersparen, noch einmal mit allen Einzelheiten konfrontiert zu werden.“

Am Ende des Ganges entsteht Bewegung und ich höre Keegans Stimme, der, Rollins im Schlepptau, auf uns zumarschiert. Keegan ist wütend, hat das Kinn vorgestreckt und schaut mich von oben herab an, als wolle er sich gleich auf mich stürzen. Ich straffe die Schultern und gehe ihm entgegen.

Dann sieht Keegan Jim und seine Miene verändert sich. Er streckt ihm die Hand entgegen. „Jim, das tut mir schrecklich leid. Wir gehen der Sache auf den Grund, und wenn wir herausfinden, wer das war …“ Er lässt Jims Hand los und zeigt mit dem Finger auf mich. Mit jedem Wort schnellt sein Finger vor: „Wenn. Wir. Herausfinden. Wer …“

Gates hat uns gehört und ruft uns zu sich in sein Büro. Keegan geht sofort in die Offensive, kaum dass er über die Schwelle ist. „Chef, sehen Sie, was passiert, wenn man sich Hilfe von außen holt. Er ist ein Anfänger – ein Amateur! – und so einer hat in einem Mordfall nichts verloren.“

„Wissen Sie, ich habe diese Fotos nicht an die Presse lanciert“, knurre ich.

„Ach nein? Und wer sagt mir, dass das stimmt?“

„Ich. Denn ich hatte darum gebeten, diese Fotos zu bekommen, und Sie selbst haben sie mir verweigert.“ Ich wende mich an Rollins. „Sie waren dabei. Sie haben es gehört.“ Rollins sieht aus, als sei er eben erst aus dem Bett gekrochen, und er riecht nach Alkohol. Er sagt keinen Ton.

„Sie haben die Bilder abfotografiert“, wirft Keegan mir vor.

„Aber nicht die mit der Leiche. Sie haben genau beobachtet, welche ich fotografiert habe. Sie haben neben mir gesessen und genau verfolgt, was ich tat. Wir haben besprochen, welche ich abfotografieren kann.“

„Und Sie haben anscheinend nicht zugehört!“

„Setzen Sie sich!“, brüllt der Polizeichef und tritt gegen den Stuhl, den er Keegan rüberschiebt. Keegan und Rollins nehmen Platz, aber ich stehe noch immer mit Brents Dad in der Tür. Ich muss Jim sagen, dass er sich entscheiden muss, wem er mehr vertraut – mir oder ihnen. Aber ich muss vorsichtig sein.

Jetzt reden alle durcheinander, jeder will den anderen übertönen. Ich schweige und lehne mich gegen die Wand.

Schließlich lässt sich Gates in seinen Stuhl fallen. Sofort herrscht Schweigen. „Jim, ich hoffe, Sie glauben mir, wenn ich sage: Ich wusste nichts von dieser Sache und ich werde noch heute Ermittlungen anordnen, um herauszufinden, wer die Fotos weitergegeben hat.“ Bei diesen Worten sieht er nacheinander mich, Keegan und Rollins an. „Und Sie können mir glauben: Wenn wir Ergebnisse haben, werden hier Köpfe rollen.“

Er reibt sich die Schläfen und faltet die Hände vor dem Gesicht. „Jim, ich rufe den Sender an und verlange, dass die Bilder aus dem Netz genommen werden. Aber damit ist die Sache noch nicht vorbei. Vermutlich haben weitere Medien das Thema bereits aufgegriffen. Wir leben eben im Zeitalter von Sharing und Tweets. Wir können diese Bilder nicht restlos wieder einfangen.“

Er lehnt sich in seinem Stuhl zurück und fährt sich mit den Fingern durchs Haar. „Aber zumindest einen Lichtblick gibt es in dem Ganzen. Es wird die Leute daran erinnern, dass Casey Cox kein weiblicher Ritter in schimmernder Rüstung ist, sondern eine kaltblütige Mörderin. Vielleicht führt das ja dazu, dass jemand sie anzeigt. Wo immer sie steckt.“

Jim richtet seinen gequälten Blick auf den Polizeichef. „Das reicht nicht, damit meine Frau dieses Bild vergisst.“

„Ich weiß“, nickt Gates.

„Was wissen Sie!“, schießt Jim zurück. „Er war nicht Ihr Sohn. Sie kannten ihn nicht einmal. Was wissen Sie also?“

Gates bleibt ruhig, er sackt in seinem Stuhl zusammen, erscheint jetzt fast kleinlaut. Keegan und Rollins starren auf den Fußboden; sie vermeiden jeglichen Blickkontakt. Ich sehe Jim an und wünschte, ich könnte ihm seinen Schmerz abnehmen. Sein Blick trifft den meinen und ich lese darin, dass er mir vertraut. Mehr muss ich nicht wissen.

Die Männer, die jetzt hier in einem Raum mit ihm sitzen, sind die Mörder seines einzigen Sohnes. Und wenn es das Letzte ist, das ich in meinem Leben tue, aber ich werde dafür sorgen, dass sie dafür zur Verantwortung gezogen werden. Nichts täte ich lieber, als Jim jetzt schon wissen zu lassen, dass Casey Cox nicht diejenige ist, die für diese Verbrechen bezahlen sollte. Aber ich weiß, dass er das im Moment noch nicht annehmen könnte.

Schließlich ergreift Jim das Wort. „Dylan war es jedenfalls nicht. Ich will, dass er in diesem Fall weiterermittelt.“

„Okay“, sagt der Polizeichef. „Aber ich schwöre, wenn wir herauskriegen, wo das Leck war, dann verliert hier jemand seinen Job. Und vielleicht folgt noch eine Anklage wegen Behinderung der Justiz und Manipulation von Beweismitteln.“

Keegan nickt und schießt einen bösen Blick auf mich ab. Rollins hält den Kopf gesenkt.

„Okay, und jetzt raus hier, alle drei“, sagt Gates.

Ich verlasse als Erster den Raum, Keegan und Rollins kommen hinterher. Sobald wir auf dem Flur sind, packt Keegan mich am Arm. Ich drücke ihn unwillkürlich an die Wand. Ich schwitze, halte ihn aber dort fest, mein Gesicht ist nur Zentimeter von seinem entfernt. „Sie rühren mich nicht noch einmal an“, sage ich zwischen den Zähnen hindurch.

Meine Reaktion irritiert ihn – ebenso wie mich selbst –, und als ich ihn loslasse, macht er ein paar Schritte, dreht sich dann aber noch einmal zu mir um. „Sie verlieren die Neven, Mann! Sie sind zu hundert Prozent unzurechnungsfähig!“

Rollins steht zwischen uns und versucht, Keegan zum Schweigen zu bringen. Ich kann sehen, dass er Angst davor hat, was ich als Nächstes tun könnte.

Aber Keegan ist noch nicht fertig. „Und nur, damit das klar ist: Fassen Sie mich noch einmal an, dann werden Sie sehen, aus welchem Holz ich geschnitzt bin.“

Ich würde ihm am liebsten sagen, dass ich weiß, aus welchem Holz er geschnitzt ist, und zurückfragen, ob er mich dann erstechen will wie meinen Freund. Es ist schon ironisch, dass er gerade außerhalb meiner Reichweite ist, als er mir droht. Ich muss hier verschwinden, bevor ich eine Dummheit begehe. Ich schüttele den Kopf, gehe an Rollins vorbei und rempele Keegan mit der Schulter an, um zu sehen, wie er reagiert. Er weicht einen Schritt zurück. Feiger Hund.

Ich marschiere durch den Flur zum Ausgang.

Wenn sie mich finden

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