Читать книгу Wenn sie mich finden - Terri Blackstock - Страница 9

4 Dylan

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„Ich verstehe einfach nicht, wieso man dieses Mädchen jetzt als Heldin feiert.“ In den Worten von Jim Pace schwingt tiefe Trauer. „Sie ist eine kaltblütige Mörderin. Aber die Medien wittern eine Sensation und lassen es so aussehen, als hätte sie dieses Mädchen gerettet.“

Er sichert den Beitrag von Fox News über die Ereignisse in Shady Grove und lässt ihn noch einmal laufen. Keegan und Rollins sitzen ihm und Elise am quadratischen Konferenztisch in Jims Sitzungsraum gegenüber; der Polizeichef, der Leiter der Ermittlungsabteilung und ich sitzen auf der Seite gegenüber dem Bildschirm. „Sie ist in dieses Haus eingebrochen. Und zwar nicht nur einmal, sondern zweimal. Sie ist eine Kriminelle, kein Messias.“

Ich sitze schweigend da, starr, betrachte meine Hände. Wenn ich sie jetzt verteidige, ist alles vorbei. Sie werden mir den Fall aus der Hand nehmen und dann habe ich keine Chance mehr, sie zu schützen.

„Dylan, Sie waren doch dort“, sagt Elise mit Tränen in den Augen. „Können Sie der Presse nicht sagen, was für eine schreckliche Person sie ist? Können Sie nicht erklären, was sie unserem Jungen angetan hat?“

Ich hole tief und stockend Luft. „Ich glaube nicht, dass es uns helfen würde, sie zu finden, wenn ich vor die Presse gehe“, sage ich. „Ich muss im Hintergrund bleiben. Wenn man mich erkennt, könnte jemand sie warnen, sobald ich ihr auf den Fersen bin.“

„Was ist sie? Eine Agentin?“, fragt Jim. „Wie kann sie überhaupt so lange einer Verhaftung entkommen? Es ist ja fast, als sei sie von der CIA ausgebildet oder so. Ich verstehe das nicht. Sie hat doch ganz normal hier gelebt, vor aller Augen. Ist zur Arbeit gegangen, hat mit Leuten geredet.“

„Ihr Dad war Polizist“, sage ich. „Sie muss das eine oder andere aufgeschnappt haben.“

„Jim, die lokalen Medien da unten haben nicht gezeigt, was sie hier gebracht haben“, sagt Polizeichef Gates. „Aber glauben Sie mir, jetzt, wo die Sache landesweite Aufmerksamkeit erregt, wird man sie erkennen, egal, wo sie ist. Irgendjemand wird sie anzeigen.“

„Da bin ich nicht so sicher“, entgegne ich. „Sie wird ihr Aussehen verändern. Vermutlich hat sie das schon.“

„Trotzdem“, sagt Elise. „Man erkennt sie an diesen Augen. Nur deswegen wird das überhaupt zur Geschichte der Woche gemacht. Weil sie aussieht, wie sie aussieht.“

Ich betrachte wieder meine Hände.

Der Polizeichef sieht aus, als hätte er nächtelang nicht geschlafen. Er reibt sich die Augen. „Jim, Elise – ich weiß, es ist enttäuschend, dass wir sie schon fast hatten und sie jetzt doch entkommen ist, aber ich versichere euch: Wir werden sie finden.“

Keegan weist mit dem Daumen auf mich. „Er ist derjenige, der sie hat davonkommen lassen. Ehrlich gesagt, wir brauchen keinen Privatermittler, um sie zu finden. Lassen Sie Sy und mich das übernehmen. Wenn Sie bereit sind, die Reisekosten für ihn zu übernehmen, können Sie das genauso gut für uns tun. Wir jedenfalls werden das Mädchen kriegen.“

Swayze, der Leiter der Ermittlungsabteilung, der bisher bei unseren Besprechungen nicht dabei war, meldet sich zu Wort. „Wir können hier ein paar Tage lang auf die beiden verzichten, Chef. Ich sage: Lassen Sie sie weiter nach dem Mädchen suchen.“

Ich halte den Atem an und warte darauf, jetzt gefeuert zu werden.

Aber der Polizeichef reagiert verärgert. „Nein. Wir haben weder das Personal noch das Budget dafür. Wir haben auch hier vor Ort zu viele ungelöste Fälle. Ich kann nicht einfach zwei meiner Kriminalermittler freistellen.“

Jim räuspert sich und sieht mich an. Ich mache mich darauf gefasst, dass er mir jetzt die Sache aus der Hand nimmt. „Die Wahrheit ist doch“, sagt Jim, „dass Dylan sie gefunden hat. Niemand sonst.“

Das ist meine Chance. „Ich werde sie auch noch einmal finden. Und ich verspreche: Ich sorge dafür, dass Brent Gerechtigkeit zuteilwird.“

Keegan gibt seine Sache noch nicht verloren. „Hören Sie, bei allem Respekt, aber dieser Mann hat Probleme. Tut mir leid, dass ich das sagen muss, Dylan, aber ich glaube, der Vorfall da unten war ein Trigger für Ihr posttraumatisches Belastungssyndrom.“

„Mein PTB-Syndrom hab ich ganz gut im Griff“, kontere ich, obwohl das nur ein Wunschtraum ist.

„Ach ja. Und deswegen hat man Sie aus der Armee entlassen?“

Das trifft mich jetzt doch. „In allen Ehren“, erwidere ich, auch wenn ich weiß, dass die anderen das auch wissen.

Keegan versucht es auf eine andere Tour. „Sie haben doch verstanden, Jim, oder? Sie hat fünfmal auf Ihren Sohn eingestochen – und zwar an Stellen, die garantiert tödlich sein mussten. Dazu braucht es einen Plan, man muss sich informieren. Nur eine dieser Wunden wäre …“

„Hören Sie auf“, unterbreche ich ihn. Elise ist kreidebleich und ich weiß, dass jedes Bild, das er vor ihrem inneren Auge wachruft, für sie wie eine tödliche Wunde ist.

„Detective“, sagt Jim, „Sie müssen uns nicht daran erinnern, was dieses Mädchen getan hat.“

„Tut mir leid“, sagt Keegan. „Ich wollte nur unterstreichen, wie dringend dieser Fall ist. Soweit wir wissen, hat diese Cox mit dem Kidnapper in Shady Grove gemeinsame Sache gemacht. Sie muss Hilfe haben, sonst könnte sie nicht so lange unentdeckt bleiben. Jetzt machen die Medien sie zu einer Art Heldin. Aber wollen Sie mir weismachen, sie ist einfach so über ein Mädchen gestolpert, das vor zwei Jahren entführt wurde und seitdem verschwunden war? Das kommt mir ziemlich spanisch vor. Da passt etwas nicht zusammen.“

„Es gibt keinen Beweis, dass sie ihn gekannt hat“, werfe ich rasch ein. „Die Polizei in Shady Grove hat die Geschichte von diesem entführten Mädchen bestätigt. Als Casey zum ersten Mal wegen des Einbruchs in das Haus verhaftet wurde, hat sie erklärt, woher sie wusste, dass das Mädchen bei ihm war. Sie haben das nicht ernst genug genommen. Aber Sie müssen bedenken, ich war auch dort. Casey ist in das Haus eingebrochen, um das Mädchen herauszuholen. Das hatte sie schon seit Tagen versucht.“

„Wollen Sie sie vielleicht verteidigen?“, fragt Swayze vorwurfsvoll.

„Natürlich nicht, aber man kann nicht einfach die Fakten verdrehen, nur weil sie uns nicht passen. Sie ist berechnend, ja. Aber sie ist ganz sicher keine Psychopathin. Um dieses Mädchen zu retten, hat sie es riskiert, selbst gefasst zu werden.“

Sofort erhebt sich von allen Seiten Protestgemurmel, aber ich sage laut und mit Nachdruck: „Vor allem müssen wir einen klaren Kopf bewahren, wenn wir ihr Profil erstellen. Zumindest habe ich das so gelernt. Sie ist, die sie ist.“

Keegan stimmt mir zu, bevor irgendjemand anders etwas sagen kann. „Ja, er hat recht.“

Verblüfft wende ich mich zu ihm.

„Eine Psychopathin ist sie vermutlich nicht. Vielleicht hat sie sogar einen tiefen, fast zwanghaften Gerechtigkeitssinn. Vielleicht hat sie geglaubt, Brent hätte etwas Unrechtes getan und sie würde dieses Unrecht wiedergutmachen, indem sie ihn umbringt.“

Alle lassen die Worte auf sich wirken. Ich sage nichts, bin aber höchst misstrauisch.

„Ihre Mutter hat eine Zwangserkrankung, schwerer Fall. Vermutlich liegt etwas Derartiges in der Familie.“

„Für eine genetische Vererbung von Zwangsstörungen gibt es keinerlei wissenschaftliche Belege“, werfe ich ein. Ich habe mich diesbezüglich bereits informiert. „Die Experten streiten sich da. Aber ihre Freunde und auch ihre Familie haben gesagt, sie hätten keine Anzeichen für eine Geisteskrankheit an ihr bemerkt.“

„Hören Sie, was er da sagt?“, wirft Sy an den Polizeichef gewandt ein. „Er klingt geradezu wie ihr Verteidiger. Auf wessen Seite stehen Sie eigentlich, Dylan?“

Ich schüttele den Kopf. „Ich bin kein Verteidiger. Ich klinge wie ein Ermittler, der Ihnen helfen will, den Fall so weit aufzurollen, dass man einen Verteidiger brauchen wird. Wollen Sie dafür solide Fakten oder nicht?“

„Man hat Sie nicht eingestellt, damit Sie für uns die Fakten erhärten“, schnaubt Keegan. „Man hat Sie eingestellt, damit Sie Casey zurückbringen. Und sonst nichts.“

Die Adern an meinen Schläfen pulsieren. „Ich bin kein Beutejäger. Ich bin Ermittler.“

„Sie sind weder das eine noch das andere“, schreit Keegan.

„Ruhe!“, donnert der Polizeichef. „Dylan arbeitet vollkommen im Rahmen seiner Befugnisse, wenn er Beweise sichert und Fakten recherchiert, um sie zu finden. Und offen gesagt, Männer: Von Ihnen hoffe ich, dass Sie besser informiert sind, als es gerade den Anschein hat. Lassen Sie also den Mann in Ruhe arbeiten. Dylan ist näher an sie herangekommen als Sie. Jim, ich stimme Ihnen zu, wir sollten Dylan weiter auf ihre Fährte setzen. Und ich weiß es zu schätzen, dass Sie die Mittel dafür bereitstellen.“

Jim sieht mich aus müden Augen an. „Dylan, ich vertraue dir“, sagt er. „Ich will, dass du an der Sache dranbleibst.“

„Danke“, antworte ich. „Ich werde dich nicht enttäuschen.“

Keegan lehnt sich abrupt in seinem Stuhl zurück. „Das haben Sie bereits.“

„Es reicht“, schnappt der Polizeichef. „Die Sache ist entschieden. Dylan, lassen Sie uns wissen, was Sie brauchen. Sie bleiben in Kontakt mit Keegan und Rollins – halten Sie sie auf dem Laufenden, falls Sie neues Beweismaterial finden. Und wenn Sie sonst noch etwas brauchen, wissen Sie ja, wie Sie mich erreichen können. Dieser Fall hat für mich Priorität und ich werde tun, was ich kann. Bringen wir das hinter uns.“

Wir verabschieden uns alle. Jim bittet mich, noch kurz zu warten, damit er mir mein Honorar zahlen und mir noch einen Vorschuss für weitere Auslagen geben kann. Ich bleibe vor Jims Büro stehen, während er noch letzte Worte mit Polizeichef Gates wechselt. Schließlich kommt er heraus und reicht mir einen Scheck.

„Ich bin froh, dass du die Sache weiterverfolgst, Dylan“, sagt er. „Dir kann ich es ja sagen: Keegan gefällt mir. Rollins ist vielleicht ein anständiger Kerl, aber er sagt nicht viel. Manchmal, glaube ich, riecht er nach Alkohol. Aber Detective Keegan … mit dem kann man wohl schwer zusammenarbeiten, was?“

„Er hat eine eigenwillige Persönlichkeit“, antworte ich ausweichend. „Aber ich kann mit jedem zusammenarbeiten. Das geht schon in Ordnung. Ich denke, er hat ein höchstpersönliches Interesse daran, sie zu finden.“

Er glaubt offenbar, ich rede von Keegans Ego. Wenn er wüsste, was Keegans wirkliches Interesse ist.

„Ich möchte, dass du alles hast, was du brauchst“, sagt Jim. „Chartere dir einen Flieger, wenn es nötig ist. Ruf mich an, wenn du einen Flug brauchst. Und sobald du weißt, wo sie steckt, fährst du auf der Stelle hin.“

Ich versichere ihm, dass ich das tun werde. Beim Hinausgehen frage ich mich, ob ich Jim nicht vielleicht die ganze Wahrheit hätte sagen sollen. Würde er mir glauben? Nein, natürlich nicht. Im Moment gibt es nichts, was ihn davon überzeugen könnte, dass das Mädchen, deren DNA man an der Leiche seines Sohnes gefunden hat, keine Mörderin ist. Warum sollte er Mitleid mit ihr empfinden? Und man kann nicht einfach Anschuldigungen gegen Polizisten vorbringen, ohne sehr viele stichhaltige Beweise dafür zu haben. Aber diese Beweise kann ich nur erbringen, wenn die Situation vorerst so bleibt, wie sie ist.

Als ich über den Parkplatz zu meinem Auto gehe, fährt Keegan gerade davon. Der Blick, mit dem er mich durch das Fenster bedenkt, lässt mir einen Schauer über den Rücken laufen. Ich setze die Sonnenbrille auf und tue so, als hätte ich ihn nicht bemerkt.

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