Читать книгу Wenn sie mich finden - Terri Blackstock - Страница 8
3 Casey
ОглавлениеIch wusste, dass ich irgendwann gezwungen sein würde, schnell abzuhauen. Deshalb habe ich vor ein paar Wochen das Nötigste an Gepäck im Auto verstaut, darunter drei verschiedene Haarfarben – schwarz, rot und platinblond –, eine Schere, ein paar Baseballkappen, mein Bargeld und ein paar Klamotten. Ich wusste, wenn sie mich finden, würde ich nicht mehr zurück in die Wohnung können. Ich würde auf der Stelle verschwinden müssen.
Gott sei Dank war ich gewarnt, dass sie mir auf der Spur waren.
In der Nasszelle meines Motelzimmers fehlen Fliesen über der Duschwanne, der Rigips dahinter ist verschimmelt. Der Vinylfußboden wellt sich unter der Kommode; auch darunter schimmelt es.
Ich stehe vor dem Spiegel und versuche zu entscheiden, wer ich diesmal sein will. Von Natur aus bin ich blond. Aber in den letzten Wochen war ich eine Brünette.
Zuerst stutze ich mir den Pony. Der Rest kommt später. Für Shady Grove habe ich mir das Haar schon auf Kinnlänge abgeschnitten und inzwischen gibt es sicher Bilder von mir mit braunem Haar. Ich könnte es noch kürzer schneiden, aber das wäre doch zu vorhersehbar. Und wenn es erst einmal ab ist, gibt es kein Zurück. Ich schneide den Pony so, dass er mir noch in die Augen hängt, etwas, woran ich mich erst gewöhnen muss. Meine Augen sind am schwersten zu tarnen; sie sind außergewöhnlich groß und mandelförmig. In Shady Grove habe ich sie nie geschminkt, weil das Polizeifoto, das sie von mir haben, mich mit Augen-Make-up zeigt. Ich weiß nicht, was ich diesmal tun soll. Ich muss wirklich völlig anders aussehen – nicht nur wie Version zwei oder drei von mir selbst. In Shady Grove habe ich darauf geachtet, dass mich niemand fotografiert, aber natürlich haben sie die Aufnahmen aus den Überwachungskameras, die mich gefilmt haben. Trotzdem könnte es gut sein, dass es kein erkennbares Bild von mir mit braunen Haaren gibt. Sie werden das blonde verwenden.
Ich färbe mir das Haar schwarz, dann dusche ich, um die Farbe auszuspülen. Ich gefalle mir nicht. Meine Haut ist die einer Blonden. Aber nun ist es passiert. Als die Haare trocken sind, bin ich eine andere geworden. Wenn ich die Augen dunkel und verraucht schminke und die Mandelform mit reichlich Eyeliner kaschiere, könnte das den Gesamteindruck stark verändern. Und wenn die Schwellung am Kinn abgeklungen ist und ich die Schrammen im Gesicht mit Make-up überdecke, ziehe ich vielleicht keine neugierigen Blicke auf mich.
Ich spüle die abgeschnittenen Haare fort, dann föhne ich mich und schneide das Haar noch etwas kürzer.
Das Bemühen, einen akzeptablen Schnitt hinzukriegen, treibt mir die Tränen in die Augen. Hinten soll es etwas kürzer sein, oben verwuschelt und kraus. Ich weiß nicht, warum ich um ein paar verlorene Haare weine, wo ich doch über ein verlorenes Leben weinen könnte, aber ich kann mir nicht helfen.
Als ich alles getan habe, was mir einfällt, um mein Äußeres zu verändern, stelle ich den Wecker neben das Bett. Er soll mich in zwei Stunden wecken. Ich muss mein Auto loswerden, bevor es Tag wird. Nachdem ich meine Tränen getrocknet habe, sinke ich rasch in einen tiefen Schlaf.
Ich träume, dass jemand nach mir tritt und zum Schlag ausholt, ich spüre stechenden Schmerz … dann verwandelt sich die Gestalt in den toten Körper von Brent … dann in den meines Vaters …
Als der Wecker klingelt, schrecke ich auf. Wo bin ich? Ich zittere, meine Haut glänzt von Schweiß, aber ich erinnere mich, dass ich in einem Motel bin. Dann zwinge ich mich zum Aufstehen, putze mir die Zähne, dusche noch einmal und knete das Deckhaar etwas stärker. Ich mache das Bett so, dass es aussieht, wie ich es vorgefunden habe, und stehle mich aus dem Haus und zu meinem Auto. Unbeobachtet – zumindest soweit ich weiß – fahre ich davon.
Gegen fünf finde ich eine Raststätte, die geöffnet hat. Ich streiche mir den Pony in die Augen und gehe hinein. Ich kaufe ein paar Chips, etwas zu trinken und ein Einmalhandy in einer Plastikhülle, außerdem eine Telefonkarte dazu. Rasch aktiviere ich es. Das Guthaben ist schon verfügbar.
Mit der GPS-Funktion des Handys suche ich die nächste Busstation heraus, zwanzig Meilen entfernt. Der Weg dorthin ist leicht zu finden, den Hinweisschildern sei Dank. Ich erreiche den Busbahnhof, als die Sonne aufgeht.
Soll ich mein Auto einfach hier auf dem Parkplatz stehen lassen – was ein todsicherer Hinweis wäre, dass ich einen Bus genommen habe – oder es woanders parken? Ich fahre ein wenig in der Gegend herum und finde schließlich ein Parkhaus, das zu einer Bank gehört. Man muss erst zahlen, wenn man das Parkhaus wieder verlässt – was ich nicht vorhabe zu tun. Ich lasse den Wagen dort in der Hoffnung, dass viel Zeit vergehen wird, bis er auffällt. Dann laufe ich zurück zum Busbahnhof. Ich trage meine weiße Baseballkappe und lasse den Pony in die Augen hängen.
Die Sonne ist jetzt aufgegangen. Ich besorge mir einen Fahrplan und suche die Verbindungen. Ich muss zurück nach Durant, Oklahoma, denn da kann ich einen neuen Führerschein auf falschen Namen bekommen, das weiß ich. Vielleicht würde ich auch hier eine Möglichkeit finden, mir gefälschte Papiere zu besorgen, aber je weniger Dritte involviert sind, desto besser. Außerdem machen mir die Leute Angst, denen ich begegnen müsste, um an einem Ort wie diesem Kontakt zur Unterwelt zu bekommen. Der Mann in Pedro’s Place in Durant bricht zwar das Gesetz, aber er scheint ein Minimum von Anstand zu besitzen. Er macht mir keine Angst.
Es sieht so aus, als könne ich einen Bus nach Dallas nehmen und dort in eine Linie umsteigen, die über Durant fährt. Ich überlege einen Moment, bevor ich den Fahrschein löse. Hat Dylan herausgefunden, dass ich dort schon einmal einen falschen Führerschein bekommen habe? Rechnet er damit, dass ich es wieder versuche? Er … oder Keegan?
Ich glaube nicht. Sie wissen, dass ich in Durant war, aber sie wissen sicherlich nicht alles, was ich dort getan habe.
Ich denke über mein Outfit nach. Schwarzes Haar mag ich nicht besonders, aber die Auswahl an möglichen Haarfarben ist nun mal begrenzt. Ich google nach Perückenläden und finde ein paar in der näheren Umgebung. Während ich noch den Weg zur nächsten Adresse heraussuche, wird mir klar, dass ich nicht einfach in den Laden spazieren kann. Das wäre zu riskant. Es gibt Menschen, für die es normal ist, sich eine Perücke zu kaufen – Krebspatienten zum Beispiel –, aber jemand wie ich würde auffallen. Es könnte die Alarmglocken schrillen lassen.
Ich google noch einmal und finde einen Versandhändler für Perücken mit Sitz in New York. Die Kunsthaarperücken sehen auf den Fotos ziemlich gut aus. Aber trotzdem: Wenn ich eine Perücke trage, der man ansieht, dass es eine Perücke ist, werde ich nur zusätzliche Aufmerksamkeit auf mich ziehen. Ich werde in eine Echthaarperücke investieren müssen.
Während ich durch die Produkte scrolle, finde ich lange Perücken mit Pony in Blond und Braun. Ich klicke bei beiden „In den Einkaufskorb“ und finde dann noch einen rotblonden Kurzhaarschnitt, den ich ebenfalls in den Warenkorb lege. Die Gesamtsumme liegt bei über tausend Dollar. Wie soll ich das bezahlen? In bar habe ich das Geld, aber ich habe keine Kreditkarte.
Ich rufe den Kundendienst an und frage, ob ich ihnen eine Geldanweisung schicken kann. Ja, das ist möglich, erfahre ich, und schicke die Bestellung ab. Als nach einer Zustelladresse gefragt wird, zögere ich wieder. Ich will nach Durant, also sollte die Lieferung wohl dorthin gehen. Allerdings weiß ich nicht, in welches Motel.
Ich stelle das Telefon auf laut, gehe zurück zu Google und gebe „Pedro’s Place, Durant“ ein. Das Restaurant, wo ich vor ein paar Monaten meine falschen Papiere bekommen habe, erscheint. Ich nenne die Adresse als Lieferanschrift. Dann bitte ich um Expresszusendung, sobald die Zahlung erfolgt ist. Die Kosten dafür werde ich bei der Geldanweisung berücksichtigen.
Ich gehe zur Post, immer noch mit der weißen Baseballkappe und gesenktem Kopf, um den Überwachungskameras zu entgehen, und hole mir eine Geldanweisung. Dann suche ich eine FedEx-Filiale und zahle den Betrag in bar ein, der am nächsten Morgen bei dem Perückenversender sein soll.
Es ist alles so kompliziert. Ich muss die Dinge im Voraus bedenken, alles genau planen, berücksichtigen, was schiefgehen könnte. Aber ich bin müde. Ein Teil von mir möchte einfach kapitulieren. Sollen sie mich doch finden.
Nein, das ist dumm. Ich muss mich verstecken. Ich kann nicht zulassen, dass Keegan und seine Komplizen mich töten.
Ich nehme ein Taxi zum Busbahnhof. Der Bus fährt um neun, und bis dahin sitze ich in der Behindertentoilette und warte, dass die Zeit vergeht. Ich bin so müde, dass ich nicht mal weinen kann.
Schließlich steige ich in den Bus und setze mich weit nach hinten, direkt vor das Bordklo. Ich nehme den Platz am Gang und hoffe, dass niemand den Sitz daneben beanspruchen wird. Ich stecke die Kopfhörer in mein neues Handy, aber dann wird mir klar, dass ich ja keine Musik darauf habe. Während die anderen Passagiere einsteigen, lade ich mir eine Radio-App herunter, registriere mich unter falschem Namen und suche einen Sender, der mir gefällt. Ich wünschte, ich könnte meine Lieblingsmusik von meinem eigenen Account aufrufen. Wozu gibt es all diese „Gefällt mir“-Buttons, wenn ich sie nicht nutzen kann? Vermutlich ist es mein Schicksal, dass andere die Musik für mich aussuchen.
Die Musik lullt mich in den Schlaf, noch bevor der Bus abfährt, und ich schlafe für ein paar Stunden. Als ich aufwache, ist meine Seele ernüchtert von der Tatsache, dass die Realität der letzten 24 Stunden – oder der letzten paar Wochen – nicht ausgelöscht ist.