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Vier

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Sie waren schließlich zu dem Reihenhäuschen im Ahornkamp gefahren, das Eva und Georg Feldmeyer seit einigen Jahren bewohnten. Und während die Kinder im Bett und Georg vor einer belanglosen TV-Dokumentation eingeschlafen waren, hatten Eva und Thaddäus sich nach draußen in den Herbst gesetzt.

Sie hatten zwei leere Müllsäcke auf die vom Nebel feuchten ehemaligen Eisenbahnschwellen gelegt, die als Treppe in den winzigen Großstadtgarten führten. Darauf saßen sie und bliesen Kringel aus Zigarettenrauch in die Luft. Zwischen ihnen stand eine leere Flasche Chianti und zwei nur noch halb damit gefüllte Gläser.

Thaddäus hatte Eva alles haarklein erzählt. Wenn er die Informationen von Kommissionsleiter Falter richtig verstand, war seine Mieterin Monika Harms auf folgende Weise ums Leben gekommen: Zunächst hatte man sie mit einem Elektroschocker niedergestreckt und ihr dann ein Betäubungsmittel verabreicht. Dann war sie in eine seit Jahren ungenutzte Fabrikhalle gebracht worden – oder an einen ähnlich abgelegenen Ort. Dort hatte der Täter oder die Täterin ihr zunächst eine größere Menge Blut abgenommen, um damit fein säuberlich ein Zitat aus Shakespeares König Lear an eine nahegelegene Wand zu pinseln. Die Tötung selbst geschah dann durch Stiche mit einem langen Messer durch die Augen in den Kopf des Opfers. Spuren am Tatort gab es absolut keine, was also auf eine gezielte und böswillige Planung hindeutete.

»Das klingt wie aus einem ziemlich sadistischen Horrorfilm«, sagte Eva schließlich und blies weiteren Rauch in die Luft, der sich bald zu den Nebelschwaden im Garten gesellte.

»Als ich für die Reportage im Chronos recherchiert habe, dachte ich das auch«, meinte Thaddäus zerknirscht. »Es war ein absolut fantastischer Stoff. Die Story hatte alles, was nötig war. Die Aufmerksamkeit war entsprechend groß.«

»Und jetzt hat die Story dich gewissermaßen eingeholt.«

Thaddäus atmete Rauch aus. »Das ist alles ganz großer Mist, Eva. Weiß du, über so etwas zu schreiben ist eine Sache. So bizarr das alles mit den Shakespeare-Versen und den Messern auch ist, die Leute lesen so etwas. Sie wollen so etwas Perfides ja auch lesen. Wenn es dich dagegen selbst betrifft, dann ...«

Er sprach nicht weiter. Eva wusste, wie es um seine Seele bestellt war. Überhaupt wusste Eva das Allermeiste aus seinem Leben. Mehr als jeder andere Mensch außer Thaddäus selbst, womöglich sogar mehr als seine eigene Schwester. Die hübsche Eva mit den blondgelockten Haaren und der spitzen Nase. Vor vielen, vielen Jahren – während des Studiums in Hannover – waren einmal starke Gefühle im Spiel gewesen. Man hatte viel gemeinsam unternommen, hatte viele gemeinsame Interessen gehabt. Vor allem die Sympathie für Hamburg hatte sie verbunden. Aber Eva war damals liiert gewesen. Und der ungeduldige Thaddäus, der nicht hatte warten wollen, bis Eva sich vielleicht über ihre Gefühle im Klaren wurde, hatte Clara kennengelernt und war seinerseits eine Beziehung eingegangen. Und während es mit Clara ganz hervorragend lief, sah Eva plötzlich ein, dass ihr damaliger Freund nicht der Mann für ein ganzes Leben sein würde.

Doch während sich nun abzeichnete, dass Thaddäus’ Beziehung nicht von kurzer Dauer sein würde, hatte Eva das Warten wiederum irgendwann satt. Und so kam Georg Feldmeyer daher, heiratete sie und gründete mit ihr eine Familie.

So simpel wie bitter konnte das Leben sein, wenn man sich nicht oder zu langsam eingestand, wie es um das eigene Herz bestellt war. Denn während Eva nun Mann, Haus, festen Job und zwei wunderbare Kinder hatte, konnte Thaddäus auf zehn Jahre an der Seite von Clara Cornelius (sie nannten sie in Gesprächen stets CC) zurückblicken – und auf eine bittere Trennung. Während Eva also mit sich mehr oder weniger im Reinen war, hatte Thaddäus nichts außer einer verkorksten Langzeitbeziehung vorzuweisen. Keinen Ehering, keine Kinder, nicht einmal einen Hund hatten sie gehabt. Sich trotz der Beziehung eine größtmögliche Ungebundenheit vorzuheucheln, war ganz Claras Welt gewesen – bis vor drei Jahren.

Mit Eva hatte er sich unterdessen auf Beste Freunde geeinigt. Denn so sehr ihn diese Frau auch immer noch faszinierte und in ihren Bann schlug, so hatte sie nun Kinder. Ihre Ehe war glücklich routiniert und den Kindern ging es gut. Sich dort hineindrängen wollte Thaddäus um nichts in der Welt. Wenn er die Wahl hatte, ob er einem Kinderherz Leid zufügte oder seinem eigenen, dann wählte er seines. Und damit waren die Verhältnisse für ihn klar und von nun an für immer wie in Stein gemeißelt.

»Und die Verbindung?«, riss Eva ihn aus seinen Erinnerungen, mit denen er das Nachgrübeln über Monika Harms zu betäuben versuchte.

»Hm?«

»Na, es muss doch irgendeine Verbindung zwischen dem Mord und deiner Reportage geben. Da hat der Polizist schon recht: Es ist doch kein Zufall, dass dieses Mädchen ermordet wird, nachdem du ausführlich über ihren Mörder berichtet hast.«

Ja, das war ein Punkt, den Thaddäus am liebsten ganz unten in den Ablagefächern seines Verstandes vergraben wollte. Der Gedanke, dass das Ganze irgendetwas mit ihm zu tun haben könnte.

»Ich habe keine Idee«, gab er zu. »Ich weiß absolut nicht, wer es auf meinen Seelenfrieden abgesehen haben könnte.«

Nein, das wusste er wirklich nicht. Er hatte zwar (zum steten Missfallen der unmittelbar Betroffenen) viele Kontakte innerhalb der alten Adelskreise der Republik arg schleifen lassen – weil er es nicht mochte, sich darin zu bewegen – aber er konnte sich niemanden vorstellen, der ihn regelrecht hassen würde. Denn er hatte ja niemandem etwas wirklich Hassenswertes angetan.

»Und was ist mit diesem Verleger? Dem ersten Opfer?«

»Keine Ahnung«, meinte Thaddäus tonlos und nahm einen Schluck Chianti. Es war viel zu kalt für trockenen Rotwein. »Ich weiß nicht, ob jemals jemand aus meiner Familie etwas mit diesem Brünning zu tun hatte.«

»Du glaubst also nicht, dass es so eine Art Rachefeldzug sein könnte.«

Entgeistert blickte Thaddäus sie an. »Rachefeldzug? Jetzt mach mich bitte nicht schwach.«

»Ich mein ja nur, dass du vorsichtig sein solltest.«

»Ich kann nicht vorsichtiger oder weniger vorsichtiger sein, als ich bin. Ich bin nämlich völlig ahnungslos.«

»Dann tu was dagegen!«, zischte Eva.

»Was denn?«

»Hör dich um!«

»Du meinst, ich soll in eigener Sache ermitteln?«

»Tja, wenn du es so ausdrücken willst«, versetzte Eva. »Offenbar tappt die Polizei ja ziemlich im Dunkeln.«

»Hm«, machte Thaddäus. Ihm behagte dieser plötzliche Sprung ganz und gar nicht. Aber was behagte ihm schon in dieser ganzen Angelegenheit?

»Komm schon!«, meinte Eva. »Du bist der König der Recherche, wenn ich den Kreisen meiner Kolleginnen und Kollegen glaube. Du kennst Leute, du kannst scharf nachdenken, du bist dreist genug, wenn es nötig ist ...«

»Aber das sind verfluchte polizeiliche Ermittlungen ... die vom LKA haben mich ohnehin schon auf dem Kieker.«

»Na und? Was kann dir denn passieren?«

»Ich weiß nicht. Es fühlt sich ... nicht gut an, darüber nachzudenken.«

Eva sah weg und nahm einen Schluck Wein.

»Wie standest du eigentlich zu dieser Monika?«, wollte sie nach einer Weile wissen.

»Was willst du damit andeuten?«

»Gar nichts«, winkte Eva ab. »Ich will bloß wissen, wie gut du sie kanntest.«

Thaddäus überlegte kurz, wie er es am treffendsten beschreiben konnte. »Ich hielt sie für äußerst talentiert.«

»Talentiert?«, hakte Eva nach. »Wenn ich an ein junges hübsches Mädchen im Zusammenhang mit dem Wort talentiert denke, dann kann das auch etwas ziemlich Schmutziges bedeuten.«

Thaddäus stöhnte entnervt auf. »Hört auf damit! Das ist absolut nicht komisch! Amir hat Monika eines Tages angeschleppt und gefragt, ob sie nicht auch in der Villa wohnen könne. Sie hat an der Uni Journalistik und Kommunikationswissenschaften studiert und ... na ja, sie war echt gut.«

»Woher weißt du das?«

»Sie hat mir damals ihre Situation erklärt. BAFöG war in ihrem Fall kaum welches da und ihre Eltern wollten oder konnten sie nicht finanzieren. Deshalb jobbte sie. Aber solche Geschichten kann einem ja jeder erzählen. Und da sie wusste, wer ich bin, hat sie mir ihr Portfolio an Arbeitsproben in die Hand gedrückt. Und was ich da gelesen habe, war ziemlich beeindruckend. Monika Harms war quasi die geborene Journalistin, Eva!«

»Wirklich?«

»Ich kann dir ihre Sachen gern mal zeigen. Ihre Schreibe, ihre Hartnäckigkeit, um bei der Recherche an Informationen zu gelangen, ihr Ideenreichtum ... das war gut ... nein, es war brillant. Wirklich, wirklich brillant.«

»Klingt ein wenig nach dir.«

»Besser.«

»Oh. Also warst du so etwas wie ein Mentor für sie?«

Thaddäus schüttelte den Kopf. »Nicht wirklich. Ab und zu hat sie mich etwas gegenlesen lassen oder sich den einen oder anderen Tipp geholt. Aber so etwas wie ein Mentor war ich sicherlich nicht für sie. Dafür war sie schon viel zu gut.«

Eva blickte ihm tief und durchdringend in die Augen. »Hätte sie es getan?«

»Was?«, war Thaddäus verwirrt.

»Hätte sie nachgeforscht, recherchiert in dieser Sache mit dem Mord? Hätte sie versucht, auf irgendetwas zu stoßen, was Licht ins Dunkel bringen könnte – wenn die Polizei schon nichts findet?«

»Möglich«, gestand Thaddäus vorsichtig.

»Dann«, folgerte Eva, »bist du es ihr eigentlich schuldig.«

Sie leerte ihr Weinglas.

König Tod

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