Читать книгу König Tod - Thilo Corzilius - Страница 9
Fünf
ОглавлениеEvas Worte waren noch lange in Thaddäus’ Geist nachgehallt. Während der gesamten U-Bahn-Fahrt zur Station Klosterstern spukte ihm alles Gesehene, Gehörte und Gesagte im Kopf herum. Wie hatte Amir unter Tränen gesagt, als die Polizisten sie von Monikas Tod unterrichtet hatten?
Verfluchte, verdammte Scheiße!
Das wäre zwar niemals Thaddäus’ eigene Wortwahl gewesen, aber eigentlich hatte Amir damit ziemlich recht. Es hatte keinen Zweck, seine Gedankenwelt in Watte oder gar in Wein zu packen.
Während er den Harvestehuder Weg am Alsterufer hinunterging, geisterten Horrorvisionen in seinem Verstand herum. Gab es irgendeine Verbindung zu ihm? War der Tod von Monika Harms eventuell eine Rache für irgendetwas, an das sich Thaddäus nicht erinnern konnte? Für etwas, das er vielleicht vergessen hatte? Vielleicht sogar für die Reportage – obwohl er darin Wert auf wenig Meinung und viel Objektivität gelegt hatte.
Verflucht, niemand weiß auch nur irgendetwas über den sogenannten Shakespeare-Mörder. Es gibt nicht den kleinsten Hinweis.
Thaddäus malte sich aus, wie sich die Polizei an alles klammerte, was auch nur im Entferntesten einem Strohhalm glich.
Schließlich erreichte er die Villa, schloss die Haustür auf und schüttelte sich. Von der Unterhaltung und dem Heimweg war er ziemlich durchgefroren. Der Hamburger Herbst war wie immer sehr feucht – obwohl Thaddäus das vielbesungene Hamburger Wetter heute erspart blieb (Ein fein zerstäubter Dauerregen, beinahe ein dicker Nebel, der in jede noch so kleine Ritze kroch).
Er streifte Schuhe und Socken ab und schlüpfte in seine eiskalten Hausschuhe. Innerlich verfluchte er sich, dass er sie vor seinem Weggang nicht wie gewohnt unter den Heizkörper der Gästetoilette neben der Diele gestellt hatte. Aber er hatte in dem Moment, als er mit den beiden Polizisten zur Tür hinaus war, andere Sorgen gehabt. So schlurfte er zur Küche und füllte den Wasserkocher, um sich eine Tasse Tee zu machen.
Während das Wasser unter lautem Zischen langsam immer wärmer wurde, holte er sich ein paar dicke Socken aus seinem Schlafzimmer. Schließlich nahm er die frisch aufgegossene Tasse Tee in die Hand und machte sich auf die Suche nach Amir.
An einsamen Abenden fand sich Amir manchmal im Salon ein (der als Wohnzimmer diente – mit bequemen, aber sicherlich auch hässlichen Sofas), um dort durch das ziemlich sinnlose abendliche Fernsehprogramm zu zappen. Auch, wenn es nicht sehr häufig vorkam, nutzte Amir den Fernseher immer noch häufiger als Thaddäus. Dass dort ironischerweise kein ultraflaches High-Tech-Gerät stand, sondern ein dicker, alter Röhrenfernseher aus den Siebzigerjahren, störte den ansonsten so technikbegeisterten Amir nicht im Geringsten. Thaddäus vermutete, dass dahinter vielleicht eine gewisse Vorliebe für Dinge steckte, die retro waren.
Doch im ehemaligen Salon war er nicht, also ging Thaddäus ins Obergeschoss, wo Amir, Kirsten und Monika drei große Zimmer bewohnten ...
Nein, Monika hatte dort gewohnt, korrigierte er den Gedanken. Ihre Zimmertür stand offen. Thaddäus hatte es an Kirsten delegiert, den Beamten Monikas Zimmer zu zeigen, damit sie es durchsuchen konnten.
Schwaches Licht drang unter Amirs Türspalt hervor, also klopfte Thaddäus bei ihm an.
»Amir?«
Keine Antwort.
Thaddäus wartete eine höfliche halbe Minute, dann klopfte er wieder.
»Amir?«
Er lauschte.
Schließlich kam ein gedämpftes »Hm?« von drinnen.
Thaddäus drückte die Klinke hinunter und trat ein, um in der Folge beinahe von dem Bild des Elends erschlagen zu werden, das er vorfand. Das Zimmer an und für sich sah aus wie immer. Es gab einen schweren Schreibtisch, einen Schrank, eine Kommode und ein Bett, die allesamt aus der Zeit stammten, als Thaddäus’ Eltern noch gelebt und die Villa bewohnt hatten. Ursprünglich hatte sich hier das Kinderzimmer seiner jüngeren Schwester Anna-Katharina befunden. Jetzt wurde es von Amir Benayoun bewohnt, der die Möblierung um ein großes, gammliges Sofa ergänzt hatte und seine Besitztümer ohne erkennbare Ordnung auf allem verteilt hatte, was sich als Ablagefläche nutzen ließ. Zentrum des Zimmers war der Schreibtisch, auf dem ein Computer ohne Außenverkleidung stand und meistens beharrlich vor sich hinsummte.
Das Summen des Rechners fehlte in der gewohnten Geräuschkulisse des Zimmers, er war ausgeschaltet. Aber auch sonst war einiges anders. Eines der riesigen Fenster stand zur Alster hin sperrangelweit offen und die Herbstluft schwappte wie kaltes Wasser herein. Auf dem Fußboden verstreut lagen mehrere Dosen, die noch vor wenigen Stunden voll mit billigem Bier gewesen waren. Und zusammengekauert unter einer fusseligen Wolldecke hockte Amir in einer Ecke seines alten Sofas. Mit dämmrigem Blick starrte er irgendwo an der Welt vorbei.
»Um Gottes willen«, entfuhr es Thaddäus, als er registriert hatte, wie es um den Raum und seinen Bewohner bestellt war. Mit schnellen Schritten war er beim Fenster, schloss es umgehend und drehte die Heizung hoch.
»Amir, was tust du hier, verflucht noch mal?«
Doch der Anblick, den Amir bot, war mehr als jämmerlich. Thaddäus konnte nicht anders, als sich ans andere Ende auf den braun-beigen Bezug des Sofas zu setzen.
Amirs Pupillen folgten ihm träge.
»Ich bin fertig«, brachte er schwer vom Alkohol beeinträchtigt hervor.
»Das sehe ich«, kommentierte Thaddäus trocken. »Aber das ist doch keine Art, sich seiner Trauer hinzugeben.«
»Nicht?«, fragte Amir nach. »Was tut man denn sonst?«
Das war in der Tat eine gute Frage! War es nicht das, was Menschen so taten, wenn sie etwas hart traf, sie aber gleichzeitig niemanden hatten, zu dem sie gehen konnten? Passierte nicht genau das mit den armen Seelen all derer, die sich allein in Kneipen betranken, bevor sie auf das letzte noch einen, bitte nur ein du hattest jetzt aber genug zu hören bekamen?
»Ich sag dir, was man sonst tut, Thaddäus«, brabbelte Amir schließlich weiter. »Man geht zu seiner Familie und heult, bis die Augen rot werden. Und dann noch ein bisschen mehr.«
Ja, das ist sicher eine Möglichkeit ... wenn man denn eine Familie hat, zu der man gehen kann.
»Aber meine verdammte Familie ist weit, weit weg«, dozierte er weiter. »Nicht so wie Kirsten, die einfach zu ihrem Eugen abhauen kann.«
»Du hast doch sonst bestimmt auch irgendwelche Freunde, zu denen du gehen kannst.«
Amirs Augen wurden so groß wie die eines Hundewelpen. Er tat Thaddäus so unsagbar leid. Der schlaksige, unrasierte junge Kerl mit dem leicht bräunlichen Teint, der sonst so eine erfrischende Mischung aus temperamentvoller Unbedarftheit und völligem Selbstvertrauen an den Tag legte, schien verloren in diesem Zimmer.
»Ich will nicht zu denen«, murrte Amir. »Das sind Computer-Nerds, denen man so was nicht erzählen kann.«
Wieso kann man das nicht?, fragte Thaddäus sich. War es für Freunde oder gute Bekannte nicht eine Frage des Anstands, ein wenig still zu sitzen und zuzuhören, wenn jemand daher kam, der vom Schicksal geschlagen war? Das sollte doch selbst ein emotional unerfahrener Computer-Freak drauf haben.
»Brauchst du irgendetwas?«, fragte Thaddäus. Doch Amir zuckte bloß mit den Schultern.
Hilflos stand Thaddäus wieder auf. »Versprich mir, dass du aufhörst zu trinken, ja?«
Noch ein Schulterzucken. »Ist ja nix mehr da.«
Thaddäus stöhnte. »Willst du nicht schlafen oder so?«
»Kann nicht. Wenn ich die Augen zumache, erscheint Monika.«
In dem Moment schrillten erneut die Alarmglocken bei Thaddäus. Natürlich! Das war doch eigentlich all die Zeit mehr als offensichtlich gewesen.
»Du warst in Monika verknallt, richtig?«
Amir wandte den Kopf um, mit Augen so groß wie Seen.
»Das ist Mist«, murmelte Thaddäus.
Es fiel ihm wie Schuppen von den Augen. Amir hatte Monika damals mitgebracht. Thaddäus hatte keine Ahnung, wo sie sich kennengelernt hatten. Doch nicht lange nachdem Amir in der Von-Bergen-Villa eingezogen war, zog auch Monika ein. Ja, irgendwie war Amir all die Zeit um Monika herumgeschlichen, aber ...
»Ihr hattet doch nichts miteinander?«, hakte Thaddäus nach. Etwas zögerlicher: »Oder?«
Doch Amir schüttelte stumm den Kopf. Er hätte es gerne so gehabt – die Sprache, die diese Geste sprach, war nur allzu deutlich.
Das machte alles natürlich noch eine Spur tragischer, als es ohnehin schon für alle Beteiligten war. Doch natürlich wusste auch Thaddäus nicht viel beizutragen. Hilflosigkeit war allgegenwärtig.
»Willst du mit mir vielleicht über ... etwas reden?«, bot er schließlich an.
Doch Amir lehnte ab. »Danke, Thaddäus. Ich komme schon, wenn ich Hilfe brauche. Ich ... würde vielleicht ganz gern wieder allein sein.«
»Tja«, machte Thaddäus unentschlossen. »Aber lass bitte das Fenster zu!«
»Hm.«
»Amir!«
»Ja, ist ja gut ... Ich ... lasse es zu.«
»Danke ... und Amir?«
»Hm?«
»Ich hab beschlossen, vielleicht selbst noch etwas nachzuforschen in der Sache«, gestand Thaddäus im Hinausgehen.
»Welche Sache?«, rief Amir ihm hinterher.
»Na, in der Sache, die mit Monika passiert ist. Ich ... ich kann das so nicht auf sich beruhen lassen.«
»Weil das sonst Scheiße ist?«, brachte Amir es auf den Punkt.
Thaddäus musste schmunzeln. Ja, sein israelischer Mieter und Mitbewohner hatte manchmal eine unwiderstehliche Art, die Dinge kurz und knapp zu fassen.
»Ja, Amir«, sagte er schließlich. »Genau deshalb. Und jetzt sieh zu, dass du etwas Schlaf kriegst! Wir sehen uns morgen.«