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Frühlingssignal

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Alles klingt heute ganz anders. Die S-Bahn unterm Bürofenster schmettert übers Gleis. Die Kinderstimmen von der Nebenstraße tragen plötzlich bis hier herauf in den vierten Stock. Und natürlich die Vögel. Auf der Kastanie am Platz drüben wird ein veritables Madrigal durchjubiliert. Drossel hat die Dominante.

Heute Hochgelehrtes, Tiefgedachtes, Ferngefühltes ins Tagebuch zu tragen, will nicht passend scheinen. Mag’s töricht sein oder ein bißchen sentimental, ganz ungeistige Frühlingsempfindungen alle Jahre wieder in die Feder fließen zu lassen – nur Dickhäuter können einem solchen Tag widerstehen.

Zwischen zwei Kühltürmen eines Kraftwerks ist in der Morgensonne die feine, zierliche Silhouette des Funkturms zu sehen. Am U-Bahn-Eingang der alte Ahorn hat über Nacht dicke Blattknospen aufgesteckt. Eine junge Dame auf glitzerndem Motorroller gleitet vorbei, ihr nilgrüner Schal versucht vergeblich, die schwarzen Locken festzuhalten.

Die Cafés am Kurfürstendamm haben wieder die Stühle herausgestellt. Manchmal ist die Sonne schon so intensiv, daß sie ihre rot-weiß gestreiften Sonnensegel aufspannen. Zwischen vier und sechs flaniert man wieder wie eh und je zwischen Uhlandstraße und Joachimstaler. Ich sitze eine Weile träge in meinem gelblackierten Stuhl und sehe nur auf die Füße der Vorübergehenden. Da klickt ein wohlgepflegter Herrenschuh mit Boulevardbeschlag heran. Öfter sehe ich billiges Ersatzlederschuhwerk aus dem Osten.

Ein bißchen Sonne verzaubert die ganze große Stadt. Jeder, der vom Urlaub aus den Bergen kommt, fällt natürlich noch immer genauso auf wie in den trübsten Wintertagen. Niemand traut sich so recht, diese Luxusbräune ganz unbefangen zu präsentieren. Sie erinnert die Berliner daran, daß man »raus« kann. Wenn man kann. Es gehört Kleingeld dazu, gewiß – wie überall. Aber es gehört hier doch noch ein kleines bißchen mehr dazu, nach Bayern oder nach Österreich zu fahren: das Passieren einer Grenze, der einzig wirklich hinderlichen Grenze, die es heute in Europa noch gibt.

Uff, das war aber auch ein Winter! Und nun glänzt das auf, schimmert, breitet sich hin, wagt sich vor. Der Hund frißt irgendein würziges Unkraut. Die warmen Socken gehen das letztemal in die Wäsche; der Hut bleibt am Nagel.

Es ist nicht das taufrische Licht allein – auch von innen her sehen die Gesichter der Leute in der U-Bahn, selbst abends noch, glatter aus. Großstädter erleben das Steigen des Jahres, die Rückkehr von Fruchtbarkeit und milder Luft vielleicht dankbarer noch als Landbewohner.

Zwischentöne - Ein Skizzenbuch

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