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Die gegenwärtige Stadt
ОглавлениеNicht schön, nicht leuchtend und einladend nicht,
unvereinbar schon immer City und Vorstädte,
unübersichtlich das Ausmaß,
40 Kilometer Stadtbahngleis verbinden Erkner mit Wannsee;
repräsentativ das Zentrum,
aber ostelbisch klein-bürgerlich
die tausend Straßen der inneren Wohnviertel,
und heute noch Dörfer, zu Kurorten avanciert,
sind Zehlendorf, Gatow, Frohnau.
Kneipen mit Molle und Korn, nicht eben poetisch,
kein Raum ist in dieser gegenwärtigen Stadt
für altehrwürdige Ratskeller, lauschige Weinstuben.
Die ältesten Steine erzählen von fünfhundert Jahren Geschichte;
selbst die Natur ist jung und hart hier:
Kiefernforst, Heide, gedämmter Fluß
und kleine hellblaue Seen mit Schilf,
belebt von Segeln und Rudern.
Nicht königlich, nicht souverän gegliedert,
nicht beschlossen in einer Idee wie Paris,
nicht gewachsen in Ringen reifer Kultur wie Rom –
kolonial ist Berlin,
ungezähmt, wuchernd, von Anfang bis heute.
Nicht einmal hundert Jahre Reichshauptstadt,
aber weit in die Mark geschäumt, eingepflockt
in den Sand wie eine riesige steinerne Zeltstadt,
unmäßig, ohne Umriß:
eine Inflation in Betrieb.
Die Anfänge ärmlich, Kölln,
ein Hügel im Spreebogen, inmitten slawischer Wälder.
Hansestadt, Vorposten noch, als in Prag
schon die erste deutsche Universität steht.
Im Dreißigjährigen Kriege kommt die Hälfte der Einwohner um.
Später ist die Stadt Zuflucht den Hugenotten:
eine Prise scharfen Gewürzes
in den zäh-groben Teig
der ländlich-behäbigen Kurfürstenresidenz.
Zuflucht und Bollwerk für Protestanten,
das bleibt diese Stadt,
für Verfolgte, die ihre Heimat lassen,
aus Gewissensnot,
um der Freiheit willen.
Sparen, exerzieren und sparen –
trommeln, marschieren, die Schlesischen Kriege.
Dann Sanssouci und der Anti-Macchiavell,
die Tafelrunde, Windspiele und Kerzen,
der aufgeklärte Despot, Bach und Voltaire.
Wie bürgerlich-goethisch, familiär und bescheiden
dagegen das Humboldtschlößchen in Tegel,
Schinkels knappe klassische Geste.
Doch dann der Weltgeist höchstselbst in Berlin,
mit Hegel die List der Vernunft
und der Totalitarismus des Denkens. –
Gefühl ist alles in den Salons der Romantik,
Rahel – nicht hübsch,
aber belebend, vermittelnd.
Berlin und die Juden,
da ist die andere Prise Gewürz.
Künste, Theater und Literatur,
später der Film – das will gehandelt sein,
Kurszettel ist die Kritik.
Ohne die findige Unrast der Juden,
ihr Werten, Scheiden und Wägen
und ohne den Sinn fürs Aparte
aus hugenottischem Erbe
hätten die »Gründer« Berlin gemacht:
zur ödesten Metropole von
Industrie, Beamtentum und Militarismus.
Selbst das Biedermeier war hier nicht geruhsam,
die deutsche Linke, Liberalismus, Sozialdemokratie
konsolidierten sich in Berlin,
dem alten Hauptquartier der deutschen Rechten.
Der Junker aus Schönhausen
und der Drechsler aus Leipzig –
Bismarck und Bebel,
die »Linden« mit Kranzler und Adlon –
die Hinterhöfe: Zilles »Milljöh«.
Die Wilhelmstraße regiert nun für Deutschland,
das zweite Reich sieht
Europa auf dem »Berliner Kongreß«.
Siemens, Virchow, Fontane,
der Fortschritt und die Bedenken,
Reichtum und Reichskolonialamt,
Kaisers Geburtstag und hipp, hipp, hurra!
Dann die Blumen an den Gewehren,
Siege und Hunger, das Ende einer Epoche,
es braust ein Ruf, es fällt ein Volk,
Siege, Hunger, dann »Achtzehn«.
Revolution der Soldaten und Arbeiter,
endlich ziviler Mut und Mäßigung: Ebert;
später ein Feldmarschall erster Diener der Demokratie.
Banken und Reichstag
und Schampus bei Huth und im Resi,
S-Bahn, U-Bahn und zweistöckiger Bus,
Kaufhäuser, Villen in Dahlem,
Zeitungsauflagen rotieren in die Millionen,
das ausschweifendste Nachtleben des Kontinents:
unter zartblauem Himmel, preußisch nüchtern,
ein anderes Babylon,
paradox wie das Jahrhundert.
Olympiade, die Jugend der Welt in Berlin,
Fackeln und Fahnen und Fahnen und Fackeln
und schließlich:
Sonnenwendfeuer und Scheiterhaufen, Bücherverbrennung,
das Ja zum totalsten der Kriege.
Tausend, zehntausend Tonnen Phosphor und Sprengstoff:
Lützowplatz, Hansaviertel, Bahnhöfe –
und über die Wohnungen, Fabriken, Geschäfte
der größten kontinental europäischen Stadtlandschaft
Bomben und Minen, eine Sintflut von Feuer.
Der Mensch stirbt, wenn mehr als die Hälfte
seiner Haut verbrannt ist –
Diese Stadt lebte weiter.
Heute nun: ein verzahntes Ineinander
von Karthago nach dem » . . . esse delendam«,
Neonreklamen und Neo-Kapitalismus.
Das westliche Hongkong für politische Flüchtlinge.
Die Arbeiter bilden die stärkste Partei.
Alle Filme der Welt.
Südfrüchte, Bücher und gute Stoffe,
der Dernier cri aller Moden
zwischen Paris und Tokio, Sydney und New York:
im einzigen Schaufenster des Westens
hinter dem Eisernen Vorhang.
Berlin führt das Doppelleben des Mondes,
angestrahlt nur auf einer Seite
und mit verödetem Gürtel
zur Zone eines verfinsterten Schweigens hin.
Nichts mehr von Gloria,
Klingklang und Luxus nicht,
Arbeit nicht viel,
etwas mehr als genug große Worte,
auch die zutreffenden (»Tapfres Berlin!«)
machen bankrott. Müde Menschen,
laute, wortkarge, törichte, überbewußte –
viele, zu viele Menschen.
Doch zusammen ein Schlag, der nicht umkommt,
verhältnismäßig wenig korrupt,
seltsam offen und wach und, wenn es sein kann,
tolerant und hemdsärmelig treu;
wißbegierig und vorlaut, anpassungsfähig und zäh
wie das Kaninchen im märkischen Sandfeld,
doch immer geheim auf Gelegenheit hoffend
zu Hochherzigkeiten.
Nicht schön, nicht leuchtend, auch einladend nicht
ist Berlin, und doch kann diese Stadt Heimat sein,
Heimat und Zentrum.
Heimat gerade denen,
die sonst fremd sind überall in der Welt.
Zentrum diesem schwierigen Volke der Deutschen,
dem fleißigen, immer gestaltlosen
zwischen Auflösung und Verkrampfung.
»Komm her oder bleib«, sagt Berlin,
»ich mach dir nichts vor.
Morgen kann vieles anders sein,
wie gestern vieles anders war;
aber ich bin gegenwärtig.
Das wäre nicht viel?
Wenn du willst, ist es alles.«