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Durch die Mark nach Schwerin

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Die Treppe zum Wohnhaus ist ganz zerfallen, die Leute gebrauchen sie als schiefe Ebene. Denn bewirtschaftet ist der Hof: es steht ein Knecht zwischen großen Pfützen. Das Strohdach der Scheune hat quadratmetergroße Löcher, die Sparren starren gegen den preußischblauen Frühlingshimmel. Die fast unbefestigte Dorfstraße besteht aus Schlaglöchern bis zu einer Tiefe von zwanzig Zentimetern. Mit zwanzig Stundenkilometern rumpelt unser »Ikarus«, ein ungarischer Bus, durch dieses märkische Elend. Bei der Ausfahrt lese ich auf dem gelben Schild: »Manker«. Das Dorf liegt in der Nähe von Neuruppin. Man hat uns über eine Umleitung gefahren. Lag an der Fernverkehrsstraße etwas, das wir nicht sehen sollten?

Ludwigslust: Links vor der kleinen Brücke, die zum Restaurant hinüberführt, ein Glaskasten mit »Sichtwerbung«. Die Bar des Hauses wird empfohlen. Drinnen riecht es bürgerlich-muffig, wie seit Jahrzehnten. Die Fleischbrühe mit Ei ist vorzüglich und kostet 65 Pfennig. Der Kollege neben mir zahlt für ein Glas chinesischen Tee und eine Flasche Selters 50 Pfennig. Ein Kalbsfilet mit Beilagen kostet 3,70 D-Mark (Ost) ohne Marken – gegen 100 g Fleischmarken nur 2,95 DM. Unter den Nachspeisen steht Ananas mit Schlagsahne obenan – es ist eine Wochentags-Karte. Der Kellner im schwarzen Anzug ist höflich und schnell; er könnte Steward auf einem Luxusdampfer gewesen sein. Auf den Tischen saubere weiße Decken.

Es ist schon dunkel, als wir das Parkhotel in Ludwigslust verlassen. Wir haben in dieser »HO-Gaststätte« relativ gut und preiswert gegessen; das Grabower Bier war nicht übel, und das Kännchen Mokka für 1,20 DM (Ost) ließ sich trinken, schmeckte etwas sehr frisch geröstet, war aber »reine Bohne«. Auf einem Schild vor dem Konsum einer kleinen Ortschaft lese ich allerdings im Vorbeifahren: »Kaffee eingetroffen – 100 Gramm 8 Mark.« Hat das HO-Restaurant für den Eigenbedarf Sonderpreise?

In den kühlen Aprilhimmel über Ludwigslust ragen überraschend viele Antennen. Ich zähle an einer Straße allein sieben. Es sind eigentümlich hohe Fernsehantennen mit allen Schikanen. Man kann mit ihnen zweifellos das West-Fernsehen über die Strahler in Hamburg empfangen.

Die Kollegin mir gegenüber schaltet ein kleines Lämpchen ein, das auf dem Tischchen zwischen uns montiert ist. »Ikarus«, der volkseigene Bus aus Budapest, das Transportmittel des »Presseamtes beim Ministerpräsidenten«, mit dem wir kollektiv verfrachtet werden, »Ikarus« ist den Abteilen der 1. Klasse in russischen D-Zügen nachgebildet. Er rumpelt robust über die Interzonenstraße Hamburg-Berlin. Wir schalten das idyllische feudale Glühwürmchen wieder aus, denn uns fasziniert die Dunkelheit in den Dörfern und Städten, durch die wir rumpeln und donnern.

Es ist acht Uhr abends. Nur wenige Fenster überhaupt erleuchtet, dann aber trübe, 25 er Birnen. Und dazu noch das Fenster verhängt. Nicht ein einziges Mal bietet sich zutraulicher Einblick in eine Wohnstube, eine Küche, wo doch jetzt gewiß wie überall auf der Welt um diese Zeit die Familie um den Tisch sitzt. Ist der Krieg hier eigentlich wirklich auch schon viele Jahre vorbei? »Kohlenklau!« Wer erinnert sich noch? Heute heißt es für die Leute hinter den verdunkelten Fenstern: »Wattfraß!«

Wer einmal so durch die Nacht der Sowjetzone nach Berlin gefahren ist, der versteht, daß diese Stadt in der Vorstellung der 17 Millionen Menschen in der Zone einem Stern gleich über dem grauen Einerlei der 14 Bezirke schwebt.

Aber Pointierung soll uns nicht ungenau machen. Das »platte Land« ist natürlich überall weniger glanzvoll als die Großstadt. Wer aus einem Heidedorf nach Hamburg kommt, steht auch verwirrt; wer umgekehrt mit feinen Stadtschuhen in einen Kuhstall tritt, fühlt sich ausgesetzt. Zumal, diese märkischen Dörfchen und mecklenburgischen Kleinstädte waren auch zu Kaisers Zeiten arme Flecken mit geduckten Dächern und geduckten Rücken; wenig Licht, und Berlin war auch damals die weithin strahlende Attraktion, das lockende Babel.

Nur: die heute an der ewig zu kurzen Decke herumschnippeln, die da heute preußische Zucht und Ordnung auf ihre Weise predigen – die leben von »Perspektiven«: Milch und Honig für jedermann. Das ist der falsche Zungenschlag einer Partei, die ihre Legitimation aus dem sozialen Versprechen bezieht. Und nicht einmal dieses Versprechen hält sie.

Schwerin allerdings präsentiert sich lustiger. Die jungen Mädchen, selbst die, die die abfahrenden russischen Soldaten mit blauen Halstüchern schmücken, mit Blumen, tragen sich westlich. Ihre engen Hosen und bunten Anoraks, die roten Ballettschuhe und die betont kurzen oder betont langen Haare wirken wie ein Affront inmitten von Gestalten, die aus einem Film von 1938 sein könnten. Eckige Schultern der Schneiderkostüme, weite Hosen der Männer, Mäntel lang übers Knie hinunter.

Auch die Stoffmuster sind noch die gleichen, und die Stoffqualität scheint recht wollarm zu sein. In einem Schaufenster sehe ich Schuhe. Gewiß, es gibt welche für 25 oder 35 Mark. Aber ein fester Halbschuh mit Kreppsohle ist für 112 DM (Ost) ausgestellt. »Und dann fehlt immer die richtige Größe«, sagt eine Frau unaufgefordert und geht weiter.

Diese Jugend strebt ganz unverkennbar eine amerikanische Note an. Man weiß ja, wie jazzbegeistert sie ist. Und das Regime läßt es zu. Auch in Moskau, dem großen, fernen, hier oft so nahen Vorbild.

Nachgelassen hat die »Transparentitis«. Oft erinnern kahle Stellen und vom Regen ausgelöschte Tafeln noch daran. Fähnchen freilich und auch wieder Spruchbänder dürfen nicht fehlen bei dem »Volksfest«, zu dem der Abschied von den Sowjetsoldaten heraufinszeniert wird. »Dank Euch, Ihr Sowjetsoldaten!« Die Jungen Pioniere, die hübschen Figurantinnen vom Theater, die Jung-Eisenbahner kennen es schon gar nicht mehr anders.

Ihren Eltern freilich sitzt der Schrecken noch in den Knochen. Für sie verbinden sich mit der Silhouette des Rotarmisten bestimmte Erinnerungen. Wir müssen verstehen, daß die Russen auch ihre besonderen, schlimmen Erinnerungen an die deutschen Soldaten haben. Man kann einander noch nicht wieder ganz unbefangen gegenübertreten. Das ist wohl leider eine Frage der Generationen, nicht allein eine des guten Willens.

Auf den Gräbern der gefallenen Russen üppige künstliche Blumen. Dann führt der Weg über das entsetzliche Oranienburg, wo Hitler ein KZ errichtete, das die Sowjets später wieder belegten – im Namen des Kampfes gegen den Hitlerismus. Die Verladerampe ist zu sehen, auf der die Waggons mit »Menschenmaterial« anrollten – erst solchem, dann solchem . . . Heute wird nur Kohle hier ausgeladen und auf dem blutigen Felde gelagert. Gott sei Dank. Und Gott gebe, daß es so bleibe.

Immer liegt über einer Landschaft, über der Natur, ein Hauch von Frieden. Wir sind gefahren durch das Land, in dem Fontane gegen Ende eines wahrscheinlich glücklicheren Jahrhunderts seine unvergeßlichen »Wanderungen durch die Mark Brandenburg« machte. Durch ein Land, das früher offen lag für Liebespärchen und Familien aus ganz Berlin. Schlagbäume heute. Schlagbäume selbst zwischen Leuten aus Ost-Berlin und Leuten aus der »Zone«. Geruch nach Harz, die Kiefern werden geritzt, wie das seinerzeit der »Reichsarbeitsdienst« tat: autarke Notwirtschaft. Große Kahlschläge in den Forsten; aber auch Baumschulen. Viele Wunden heilen dennoch – auch hier.

Aber eine finstere Unheimlichkeit, ein Eishauch der Bedrohung geht aus von den groben, merkwürdig blau angestrichenen Palisadenzäunen, sie sich kilometerlang immer wieder an den Straßen hinziehen. Dahinter Schießplätze, Kasernen, Exerzierfelder. 40 000 Sowjetsoldaten haben Mitteldeutschland jetzt verlassen, sagen die Russen. Es mag so sein. Aber 360 000 Mann stehen auch danach noch zwischen Elbe und Oder, sagten die Militärs der Westmächte, die die Parade in Schwerin mit abnahmen. (Sie legten die Hand an die Mütze bei der sowjetischen Nationalhymne; sie grüßten nicht, als die Hymne der »DDR« gespielt wurde.)

360 000 Russen noch immer hinter ihren blauen Palisaden. Dazu 100 000 Mann »Nationale Volksarmee«. Dazu »Volkspolizei« und »Betriebskampfgruppen«. Es sind heute in diesem Gebiet Deutschlands mehr Männer unter Waffen als auf demselben Territorium 1938/39, als Hitler den zweiten Weltkrieg vorbereitete. Und sie alle »verteidigen den Frieden«, fühlen sich ihrerseits bedroht durch die Aufrüstung des Westens? Diese Wiederaufrüstung – nach einer drastischen Abrüstung in den ersten Nachkriegsjahren – ist eine Folge, nicht die Ursache des militärischen Aufmarsches der Russen und ihrer Hilfstruppen.

Die »Deutsche Demokratische Republik« ist ein Militärund Polizeistaat. Das war gut genug bekannt. Aber eine Reise wie diese nach Schwerin füllt die blaß gewordenen Begriffe wieder mit lebendiger Anschauung.

Es ist weit gekommen mit Deutschland. »Glaubt überhaupt noch jemand an die Einheit, drüben bei Ihnen?« fragt mich ein junges Mädchen mit weißem Kopftuch auf dem Bahnhofsplatz in Schwerin leise, während die Klänge eines Platzkonzerts herüberwehen. Ich will gerade eine Antwort versuchen, da ist sie schon verschwunden in der grauen Masse von wegblickenden Leuten, die wir mit flinker Zunge »unsere Brüder und Schwestern« nennen.

Zwischentöne - Ein Skizzenbuch

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