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Nachtbilder der Großstadt

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Groß, sehr ausgedehnt ist diese Stadt noch immer. Wer sie im Dunkeln anfliegt, staunt, wenn er ihre Lichter sieht, nachdem er vor anderthalb Stunden die Lichter Frankfurts sah. Die Finsternis »der Zone« mit ihren Stromsperren reicht bis an den Stadtgürtel. Unmittelbar, plötzlich sind dann nicht nur Bahnhöfe und Plätze beleuchtet, sondern auch Häuser, Wohnungen. Bunte Reklamen tauchen auf. Und dieser See von Lichtern ist aus 1000 Meter Höhe nicht überschaubar, erstreckt sich, hinter der Finsternis, bis an den Horizont, verliert sich, geht wieder über in Finsternis.

Auf Sand und Sumpf gesetzt, zwischen Seen und Wälder, ins flache märkische Land hinein, von der Nacht fast verschluckt jetzt – die zweitgrößte Stadt Europas. Berlin bei Nacht – dort unten. Wie sie den Abend herumbringt, die große Stadt; wie in hunderttausend Wohnungen das Radio geht, die Zeitung aus müden Händen sinkt; junge, arme, alte, reiche, glückliche, bedrückte Menschen einschlafen, ausgehen, heimkehren, grübeln, lieben, sich sorgen, hoffen, verzweifeln – leben.

Hier, wo immer Nacht ist, in der Untergrundbahn, merkt man den späteren Abend am Publikum. Die müden Gesichter des Arbeitsschlusses sind seltener; nur ein paar Ehrgeizige mit dicken Aktentaschen und ein paar Arbeiter von den Spätschichten fahren noch nach Hause. Sonst der dunkel gekleidete Herr mit eingewickelten Blumen; hübsche Frauen, zurechtgemacht für die kleine Hausgesellschaft, fürs Theater, fürs Konzert. Richtige Abendtoilette selten in der U-Bahn. Meist ist es dann Berufskleidung – die Harfenistin, der Tenor. Kaum eine Veranstaltung in Berlin, zu der man nicht im Straßenanzug gehen könnte und geht. Sehr jung und sehr ziellos das Liebespärchen dort unter der Weinbrand-Reklame. Ihm ist die Hornbrille zu groß, sie hat Pferdeschwanzfrisur und ist schon weiter. Fahren wohl bis Endstation, die beiden, Krumme Lanke. Zärtlicher Spaziergang in sicherer Gegend?

Wie angeschmiedete riesige, runde Urwelttiere brummen die Turbinen. An ihren Köpfen blausilberne Blitze. Riecht es nach Ozon, nach Öl? Ein Maschinist schlurft über das Fliesenschachbrett des Fundaments.

Der Hauptschaltraum des Kraftwerks ist still, nur ein Vibrieren in den Wänden, im Boden, im Raum. Motorische Kraft wird in Elektrizität umgesetzt in dieser Energiefabrik, das teilt sich allem mit. Zwei Männer in weißen Mänteln hinter den Pulten mit Hebeln, Lämpchen, Knöpfen, Stellrädern. Bei der gedämpften Nachtbeleuchtung sehen sie fahl aus, künstlich, es fällt auch kein Wort.

Das Drei-Personen-Stück in der »Komödie« am Kurfürstendamm zieht viele Leute aus dem »Ostsektor« an. Es ist ein Spaß, sonst nichts. Keine »Tendenz«. In der Pause am Theaterbüfett. Der junge Mann im blauen Anzug (nicht ganz holzfrei): »Bitte – nehmen Sie auch Ostmark?« Der Wirt: »Ja.« Junger Mann: »Was kostet denn eine Coca-Cola in Ost?« Der Wirt: »Eine Cola 4 Mark 20, der Herr.« Junger Mann sieht seine Begleiterin an, sagt: »Jawohl, einmal dann bitte!«

Nachtregen. Frische und Kühle atmen zum Fenster herein. Jedes Blatt, jeder Halm streckt sich. Wenn der Schauer vorbei ist, tropft es noch lange von den Ästen und Nadeln der Kiefern vorm Haus. Nachtschattenblau und blank der Asphalt der Vorstadtstraße. Reingewaschen selbst das weiße Licht der Gaslaterne. Wie dunkelrot lackiert glänzt das tiefgezogene Dach des Hauses gegenüber durchs nasse Grün. Ein Taxi gleitet vorbei, glitschende Reifen. An der Ecke vorn singt der Motor auf. Da kommt ein neuer Schauer. In langen feinen Schleiern streicht der Regen über die große Stadt, Lärm ertrinkt, Staub und Schmutz werden abgewaschen, alle die Lichter der Nacht strahlen sanfter, gebrochen, verhangen. Kühle und Frische atmen zum Fenster herein. Nachtregen regnen hören.

Ein runder weißer Mond über silberschwarzem Wasser mit Schilf und knorriger Kiefer zur Seite, ein einsames Boot mit der Silhouette des Anglers in der Mitte des Bildes – diese chinesische Tuschzeichnung ist zu sehen um zwei Uhr nachts am Großen Fenster, einem Punkt der Havelchaussee mit besonders guter Aussicht. Bodennebel und das große Schweigen der Nacht.

Alles wird zerrissen plötzlich durch einen vorschriftsmäßigen Schlachtenlärm, der »schlagartig« einsetzt. Mittlere Artillerie, leichte Infanteriewaffen, Handgranaten. Dazu Leuchtkugeln. Die alliierten Streitkräfte West-Berlins haben Manöver. Bis in die grünen Wohnviertel ist der Lärm zu hören. Mancher Berliner wacht auf, ist beunruhigt. Die Nacht macht Unwahrscheinliches wahrscheinlicher. Versäumte man nicht die letzten Abendnachrichten? Sollte vielleicht ganz plötzlich . . .

Charlottenburger Straßen –die Häuser, Stil Gründerzeit, doppelt so hoch wie die unterbelichteten Bäume des Bürgersteigs; unten Läden, oben Wohnungen. Gegen vier brennt nur da im dritten Stock noch eine Lampe hinter dem Fenster. Keine Straßenbahn mehr, kaum ein Auto, kein Radfahrer, aber der Himmel schon heller blau. Wer mag da sitzen bei diesem letzten Licht? Arbeitet jemand fürs Examen, an einem Buch, an einer Formel? Steht ein Bäcker schon auf? Haben Verliebte vergessen, das Licht zu löschen? Besteht ein Jüngling die ersten Abenteuer, lesend? Denkt eine alte Frau, die nicht mehr viel schlafen kann, an alles das, was blieb; die Kinder und was sie arbeitete und wie alles dahinging?

Zwischentöne - Ein Skizzenbuch

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