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Die Welt am sechsten Tage

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Artischocken und Palmen wachsen wie Unkraut. Grillen, so lang und stark wie ein Männerdaumen, springen dir über den Kopf und zehn Meter weit in die Macchia. Die duftet süß und intensiv, übertroffen nur noch gegen den Abend von der grüngrünen langen Büschelnadel der Schirmpinie am Hang und dem schotenartigen Blatt des Eukalyptus, der hier als Alleebaum dient und Kühlung raschelt. Schwarzer, roter, glitzernd-grauer Granit tritt überall aus den bunten Mosen, den Farnenfeldern, den Disteln, deren gelbe Blüte mannshoch aufschießt. Das uralte Gestein ist vom Meerwind, der Salzluft und den Güssen der Regenzeit modelliert; nun sieht es aus wie Elefantenhaut, und oft beugen sich die Höhenzüge wirklich auch in ihren Konturen wie die Rücken urweltlicher Elefantenherden unter das siedende Goldrot der untergehenden Sonne.

Nach ewigen, ehernen Gesetzen, so spürst du, seit dich die »Tirenia« in Olbia anlandete, steht hier ein unberührtes Land gegen die nagende, kühlende See ringsum, gegen den segnenden, sengenden Himmel darüber. Das Buch der Geschichte? Hier blieb es geschlossen, und die Zeit, die allmächtige, hier verwandelt sie in zehntausend Sommern nur wenig. Asphodelen und Oleander wurden von keiner Hand gebrochen oder gezogen; alle Jahre schießt die Agave aus dem Schoß ihrer dicken, blaugrünen Blätter den Blütenbaum viele Meter in den Wind; Opuntie, der Feigenkaktus, wuchert unendlich; die Herbste duften nach Orangen, Zitronen, und in den Tälern kocht die Traube.

Also doch der Mensch auch hier? Denn die Reben halten sauber am Stock; Schafe in daunenweicher Wolle grasen zwischen mörtellosen Steinmauern hinauf; das dunkel-sanfte Auge brauner Rinder glänzt blicklos über mahlendem Maul aus dem Schatten, und: ein dichtgeschlungenes Netz staubweißer und asphaltener Straßen überzieht die große Insel im Tyrrhenischen Meer. Menschen in den klassischen Berufen – Hirten, Pflüger, Jäger, Viehzüchter. Das einfache Leben mit Schafkäse, Wein und Brot. Menschen ohne Geschichte. Blaues Salzwasser, das den Granit zersägt; ein offener Himmel ohne Gott und voller Götter; in bergenden Muscheln aus Lava oder Basalt fruchtbares Grün, darin der Mensch.

Das denkende Wesen, dessen Spuren sich in »vorzeitlichem« Dunkel verlieren, das so vieles ersinnt, aber nicht seinen Anfang, nicht das Ende der Zeit. »Nuraghen« hat er gebaut auf diesem Stück Erde, als erstes Zeugnis der Macht, die ihn vor allem beherrscht: der Angst. Nuraghen, Türme in kunstvoll simpler Architektur, urtümlich, düster, aus Steinen, die zwei, drei Männer noch gerade bewegen, Fluchtburgen, Gräber, man rätselt; nicht groß, nicht prächtig, aber selbst in drei-, viertausend Jahren noch nicht zerfallen. Du legst die Hand an diese ersten Mauern, die nicht Naturkraft baute, der Stein ist sonnenwarm, wie all die Sommer hindurch, da hier Phönizier, Karthager, Römer, Vandalen, Ostgoten, Sarazenen, Spanier, Genuesen, Pisaner, Habsburger vorbeizogen, eroberten, erpreßten, vergingen – bis Garibaldi die Einigung Italiens brachte.

Nur wenige Meter sind die noch erhaltenen Nuraghen hoch. Die Abendbrise fährt kräftig drüber hin, das Land, das du überschaust, war besetztes Land bis vor hundert Jahren – durch Antike, Mittelalter, Neuzeit, »immer« also –, ohne Begriff von Sieg und Macht, von Selbstbestimmung und Zukunft. Keine Geschichte, keine historischen Aufschwünge, immer nur Material für fremde geschichtsbildende Kräfte. Besetztes Land; durch Jahrtausende besetzt. Begreift man das als freiheitsdünkelnder Mitteleuropäer? Hier ging der Wind über die Halme und knickte sie immer. Brot und Wein im besten Falle; die Berge als Zuflucht, die Macchia, Blutrache, Stolz, einsam durch die Jahrtausende, schwarzer Granit, der Wind und ein trauriges Lied auf der Hirtenflöte zum Abend.

Hart, einfach und groß zwischen Himmel und Meer, laß andere regieren, nur immer neue Eroberer erobern Eroberer.

An tiefblauen Golfen und zwischen silberhaltigen Bergen gibt es nun Städte. Dies Land, größer als die Schweiz, ist leer, aber es wächst doch auch Zivilisation um rasch modernisierte Zentren. Das heiße Wasser fließt zuverlässig ins rosa gekachelte Bad, blütenreine Wäsche wartet über der weichen Matratze. Languste ist zwar in der nächsten Trattoria billiger und besser als im staatlich unterstützten Hotel; aber Telefon in alle Welt, ein eleganter, ganz italienischer Corso gegen acht, das neuste Sportmodell von Alfa Romeo und aus dem Fenster dort drüben »My Heart Belongs to Daddy« sind die Vorzüge der Zivilisationsoasen; du bist in der westlichen Welt, geschützt durch NATO und einbezogen in den vertrauten Kreis von Jazz, Frühstück mit Ei, die neuesten Nachrichten, Krawatte und den zuverlässigen Ölwechsel aller zweitausend Kilometer. Um die Ecke spielt das »Ci« (gleich Cinema) mit Michèle Morgan; der sehr, aber nun schon sehr laute Sprecher vom Platz drüben ist, wie sich glücklicherweise herausstellt, kein Agitator der KPI, der Kommunistischen Partei Italiens, sondern ein Ausschreier auf dem »Mercato di Stoffe«, und die Glocken der Chiesa läuten zuverlässig zu Frühandacht und Vesper.

Sonst nämlich, in der Campagna, sieht es mitunter so gar nicht westlich aus. Es ist das gleiche Licht, ein ähnlicher Geruch nach Hammelfleisch und Holzkohle, die Leute bewegen sich so und blicken über ihren Bärten – wie in Aserbeidschan, auf den Ägäis, an sehr heißen Tagen in Süd-Polen, in Arragonien, an gewissen osmanischen Plätzen. Da fällt das törichte Herumgeschicke des »Grand-Hotel-Kellners« durch drei amerikanische Sekretärinnen vom Hauptquartier in »Naples« ins schweigende Nichts. Immerhin signalisieren die Ladies Zivilisation, und die ist angenehm, schließlich verteidigenswert, gerade in göttlicher Wildnis, unter Palmen, Disteln, Asphodelen – in der drängenden Nachbarschaft von Nuraghen, Granitbergen, Himmel und Meer.

Sardinien, Insel hinterm Rücken der Geschichte, stolz und leer, stark und lieblich, unentdeckt und doch uralt: dein Reiz liegt darin, daß du die Welt bist am sechsten Schöpfungstage – aber zierlich gehalten von blauen Bändern aus Asphalt.

Zwischentöne - Ein Skizzenbuch

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