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CLUB RETRO

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Das Leder der Boots war abgewetzt, die Haken krumm. Second Hand. Snyder schnalzte mit der Zunge ob der neuen Cowboystiefel. Rahil grinste unverhohlen. Stolz. Gelb. Sie hob den Fuß, damit Snyder besser sehen konnte.

What are you looking at?

Faul hing die verspiegelte Diskokugel unter der Decke wie eine Spinne in ihrem Netz, rotierte langsam und warf silberne Lichtsplitter wie Lametta hinab in die wogende Menge. Es war nach 3 Uhr morgens, die Stimmung auf dem Siedepunkt. Beinahe wäre es eine dieser Retro-Partys gewesen. Nur gab es keine Retro-Partys mehr. Das war out. Es war eine Retro-Retro-Party. Und nahe liegender Weise war der Name des Clubs „Club Retro“, für Insider lässig dahin genuschelt das „Reo“.

Auf der Tanzfläche drängten sich papageienbunte Party-Girls und -Boys. Strike a pose.

Ein hagerer Schwarzer mit weibischen Zügen und ungewöhnlicher Hakennase, die er einem levantinischen Ahnen verdankte, tanzte in abgehackten Bewegungen zur antiquarischen Musik von Madonnas „Vogue“. Zwei Koreanerinnen in Schuluniformen und Kniestrümpfen mit bleichen, auf kindlich geschminkten Gesichtern flankierten ihn und imitierten seine kantigen Bewegungen.

Hey, hey, hey

Come on, vogue

Neben ihnen schlängelten sich drei olivbraune Vampirinnen mit hennarotem Haar umeinander, sie waren wie nepalesische Tempeltänzerinnen gekleidet, an ihren Fußknöcheln klimperten zierliche, goldene Glöckchen.

Eine Zweimeterblondine mit Gewichtheberbizeps und Stiernacken schaffte rigoros Raum um sich und stemmte einen Albino, einen Jüngling mit Streichholzgliedmaßen über ihrem Kopf in die Luft, ohne ihn zu zerbrechen. Er hatte schmale, spitze, greisenhafte Züge, rote Augen und langes schlohweißes Haar wie ein Greis.

You're a superstar, yes, that's what you are, you know it

In den pink gefärbten Dreadlocks der stämmigen Blondine klingelten silberne Triangeln wie Weihnachtsschmuck im Luftzug an einer opulent geschmückten Tanne. Sie trug ein Minikleid aus Silberlamé dazu Springerstiefel mit silbernen Sternchen darauf, sie wirbelte den kleinen Junggreis hin und her, er ließ es mit stoischer Miene über sich ergehen. Das Lied verendete.

Das Stroboskoplicht erlosch, gelbe und orange Lichtkegel flammten auf. Rauch stob aus Schlitzen seitlich der Tanzfläche, ein dumpfer Rhythmus unterbrochen von tumben Anfeuerungsrufen preschte aus den Lautsprechern und erfasste die tanzende Menge. Der schmale Greis war noch nicht erlöst, die silberne Muskelblondine hob ihn von den Füßen, presste ihn an ihre flache Stahlbrust, küsste ihn auf die Stirn, wo von ihrem Lippenstift ein Silbermund zurückblieb und schlenkerte ihn dann herum wie ein exklusives Handtäschchen, das man jedem präsentieren wollte, der Junggreis verdrehte die Augen und lächelte müde.

Der Club war hip, hipper als hip, wie seine Gäste sagen würden: total re-retro. Retro hieß 20. Jahrhundert, retro-retro meinte nur das hippste Zeug aus diesen Jahrzehnten. Von den 20ern bis in die 90er war alles erlaubt, wenn es nur ausgeflippt genug war, selbst re-re-retro wie Rokoko oder Neros Rom waren angesagt, es kam nur auf die Qualität der Inszenierung an, auf die Kostüme, die Accessoires, die Darsteller, die Komparsen und den Auftritt und darauf, dass die Geige gestimmt war.

Snyder fläzte mit einem Erdbeercocktail in der Hand am Ende der Bar, wo sie einen guten Blick auf das Geschehen hatte. Rahil nippte an einem quietschgelben Was-auch-immer, das nach Banane, Ananas und Plastik schmeckte und viel hochprozentigem Alkohol enthielt. Die Mischung machte es hier in dem Club - nicht gerade was die Drinks anging, obwohl die Barkeeper nicht mit Hochprozentigem geizten, aber das Publikum war exklusiv. Latinos mit streichholzdünnen, pechschwarzen Moustaches umgarnten slawisch aussehende Vampirinnen in japanischen Schulmädchenuniformen mit rotweißen Ringelsöckchen und betonhartem Zug um die blassrosa geschminkten Lippen.

Drei schweißüberzogene Latinas in rot und grün gestreiften Bikinis mit klimpernden Hüftkettchen und hervorquellenden Brüsten gaben auf hochhakigen Sandaletten die powackelnden Bitches für den Gangsta-Macho, der Chateau Lafitte in seinem Weinkelch schwenkend Hof hielt und blass mit schwarzumränderten Augen und roten Lippen ein Zigarillo lässig im Mundwinkel balancierte. Aramis war der unumstößliche Fürst des Clubs, der Fädenzieher, der Regisseur aller Festivitäten. Die Latina-Gesäße kreiselten willfährig und Beifall heischend vor seinem privaten Séparée.

Snyder gähnte. „Also offiziell bin ich nicht bei allem mit dabei.“ Sie kaute auf einem Stück Erdbeere, das aus aromatisierter Alge bestand.

Sie hatten noch keine Konsumenten von Red Dust ausgemacht, auch auf den Toiletten nicht, die sie regelmäßig inspizierten. Vielleicht aus Respekt vor Aramis und seiner nur spärlich verbrämten Anweisung, die Finger von dem Zeug zu lassen.

„Soweit ich Nestor verstanden habe, bist du Daten-Support und Spezialaufgaben. Was immer das sein mag?“, fragte Rahil.

„Ich sorge dafür, dass ihr überall reinkommt, wo ihr hineinwollt. Ich knacke jeden Code und jede Datei. - Hoppla. Süßer Hintern!“

Snyder schnalzte mit der Zunge. Rahil folgte ihrem Blick. Aramis hatte sich auf die Tanzfläche begeben. Man spielte einen Salsa für ihn, und seine drei Gespielinnen schlängelten an ihm herab und herauf, während er geschickt seinen Hintern unter dem hauchdünnen Stoff der roten Garbardinehose rotieren ließ wie ein Stripper in der Schwulenbar. Ein Kolumbianer, jung scheinendes Gesicht und schmale Lippen, ganz in Weiß mit weißen Slippern an nackten, braungebrannten Füßen, den Hut keck in die Stirn gezogen, so dass er sein linkes Auge verbarg, durchbrach mit aufreizendem Hüftschwung den Belagerungsring der drei Latinas um den Fürsten des Clubs und aalte sich in gleitenden Bewegungen in der Sonne von Aramis Blick. Er kokettierte, wich zurück, drängte näher. Die Bikini-Mädchen zischten und züngelten wie Schlangen mit ihren schweißglänzenden Armen und Beinen an Aramis heran. Aber sie mussten zurückweichen, denn der dunkelhäutige Junge hielt Aramis in seinem Bann, lockte, bot sich an, wich zurück, bis Aramis schließlich seinen Arm um die weißbehosten Hüften des Kolumbianers legte, den Jungen an sich zog und ihn auf den Mund küsste. Die powackelnden Chicas fauchten. Aramis besänftigte sie mit einem Lächeln und Champagner, den er mit einer unmerklichen Geste seiner linken Hand orderte. Er ließ sich wieder auf seinem angestammten Platz nieder, in der Lounge auf dem Podest seitlich der Tanzfläche, zog den kolumbianischen Jüngling zu sich her und drapierte ihn auf seinen Schoß. Die drei kaffeebraunen Mädchen dekorierten Beine und Brüste ins Bild, anderes blieb ihnen nicht übrig, sie sahen so sauerlich drein wie Rahils Drink schmeckte.

Rahil deutete zu Aramis herüber: „Ist er …?“

„Schwul, meinst du?“ Snyder schüttelte den Rotschopf.

„Bi?“

„Nein, ich glaube nicht. Er liebt nur alles, was ihn noch glanzvoller und verruchter erscheinen lässt. Hinter vorgehaltener Hand munkelt man, er treibt es auch mit Menschen und Zodiaks. Äh - pardon! - nicht, dass ich das verurteilen würde.“

Snyder sah verlegen herab auf ihr Cocktailglas, es war leer, sie sah die roten Algenschlieren auf dem Boden des Glases interessiert an, so als würde sie bald eine Forschungsarbeit über sie verfassen.

„Es treiben? Du meinst - Sex?“

Snyder nickte und vertiefte sich weiter in den Boden ihres Cocktailglases.

Rahil blickte sie neugierig an. „Bist du verlegen?“

Snyder schnalzte mit der Zunge. „Ich habe auch schon mit einem von ihnen gepoppt.“

„ ‚Poppen’ heißt auch Sex? Und ‚mit ihnen’ meint Vampire?“

„Yuup. Reine Neugier. Und Langeweile.“

„Und wie war es?“

„Ganz gut eigentlich. Ziemlich wild sogar. Du musst nur aufpassen, dass sie dich nicht beißen, wenn sie kommen. Also am besten fesseln und knebeln.“

Snyder kicherte.

„Jetzt meinst du SM?“

„Nö“, beschied ihr Snyder in aller Unschuld. „Nur Sicherheitsmaßnahmen. Sie sind ziemlich ausdauernd und wenn du ihnen ein bisschen von deinem Blut, frisch geritzt, unter die Nase hältst, gehen sie ab wie eine Rakete. Ich habs auch schon mal mit einem Tampon probiert, steck dir einen gebrauchten in die Handtasche und sie laufen dir hinterher wie rollige Kater - die Jüngeren zumindest -, nur dass sie nicht so erbärmlich kreischen.“

„Ist das so was wie Sport?“

„Was? Sex?“

Rahil nickte.

„Ein bisschen schon. Sie haben dir doch Sex einprogrammiert, oder nicht?“

Snyder klang fast ein wenig besorgt.

„Ja schon. Auch Menstruation. Ich soll den Menschen und ihnen so ähnlich wie möglich sein, dadurch optimiert sich mein emotionaler Speicher, sagen sie.“

Eine große Brünette auf Schwindel erregend hohen, krokoledernen Plateauschuhen mit orientalisch geschminkten Augen und gegelter Bienenstockfrisur, die sich auf ihrem Kopf auftürmte wie ein Turban und in der eine Kleinfamilie von Spatzen bequem hätten nisten können, zelebrierte gerade ihren Auftritt mit zwei schneeweißen Königspudeln an ihrer Seite. Im Schlepptau einen mageren Japaner mit schlohweißem hüftlangem Haar, der wie die Hunde auch ein Nietenhalsband um den Nacken trug und sie anhimmelte. Die Musik verstummte. Madame ließ Hunde und Greis am Rand der Tanzfläche hechelnd zurück und schleuderte mit großer Geste ihr Cape aus Schlangenlederimitat von sich.

Ein Kellner rutschte auf glatten Sohlen mit einem Mikrophon heran, sie ergriff es, warf sich in Positur, schnipste mit den Fingern und der pflichtschuldige DJ ließ aus den Lautsprecherboxen die Karaoke-Version von „Stayin alive“ quietschen. Sie sang ihre Version mit leichten Textabweichungen, denn in ihrer Welt standen die Frauen im Mittelpunkt.

Well, you can tell by the way I use my walk,

Sie war die Schlange in krokoledernen Stiefeln.

a man’s woman: no time to talk.

Sie war die Henkerin mit der Hand an der Guillotine.

I’ve been kicked around, since I was born.

And now it’s all right. It’s ok.

Sie war die Göttin. Und sie hielt Hof. Die Gäste scharten sich um sie, klatschten in die Hände, wurden Zeugen einer präzise einstudierten Shownummer.

Snyder beugte sich zu Rahil herüber und brüllte ihr gegen das Wummern der Musik ins Ohr. „Aparter Sinn für Humor, nicht wahr?“

Rahil sah sie fragend an, Snyder deutete in Richtung der Boxen und sang laut mit: „Ah, ha, ha, ha, stayin' alive, stayin' alive. Ah, ha, ha, ha, stayin' alive…”

Das Lied endete. Madame nahm den Applaus als wohlverdiente Huldigung entgegen und steuerte eines der Séparées an.

„Wer ist das?“, wollte Rahil wissen.

„Keine aus dem Showbizz. Eine von den TV-Größen. Miranda di Cardinale. Kubanerin. Sie hat eine Schwäche fürs Dramatische - und große Auftritte.“

An Aramis Tisch tat sich etwas. Ein hünenhafter Schwarzer war wie aus dem Nichts neben Aramis aufgetaucht, er flüsterte ihm ins Ohr. Aramis nickte. Dann schien er dem Schwarzen irgendwelche Anweisungen zu geben. Der Hüne sah hoch und ließ den Blick dezent durch den Raum schweifen, er stoppte bei Rahil, für einen Moment nur, dann schwenkten seine Augen weiter durch den Raum, nahmen alles auf, speicherten es - Leibwächterblick. Er beugte sich wieder zu Aramis herab, flüsterte in sein Ohr, der legte ihm vertraulich die Hand auf den Arm und nickte.

Der Hüne durchquerte die Tanzfläche, als er in der Nähe ihres Tisches vorbeikam, warf er einen kurzen, fast unmerklichen Seitenblick auf Rahil, dann war er verschwunden. Er war eine auffällige Erscheinung. Snyder ließ einen anerkennenden Pfiff ertönen.

„Zur Hölle, wer ist das? Hast du diesen Hintern gesehen?“, fragte sie. „Wie aus Stahl.“

„Nie gesehen“, antwortete Rahil.

Snyder sinnierte, geräuschvoll den Rest aus ihrem Drink schlürfend.

„Ob er wohl ein Vampir ist? Oder ein Mensch? Aber ich habe ihn noch nie gesehen. Zumindest ist er ein zuckersüßes Ausnahme-Exemplar. Was auch immer er ist.“

Snyder hatte den Blick bemerkt, den Rahil und der schwarze Hüne getauscht hatten. Sie fragte sich insgeheim: Könnte er auch ein…? Ein Zodiak sein? Wohl kaum - aber wiederum: bei Aramis wusste man ja nie…

„Ausnehmend süßer Hintern!“

Snyder sah erst Rahil an, dann senkte sie den Blick, sah melancholisch auf den Boden ihres leeren Glases und orderte mit einer lässigen Handbewegung einen neuen Drink. Sie musste einfach nur auf ihr Glas deuten und der Kellner nickte und brachte, was sie wünschte. Man kannte sich.

„Also. Wir waren beim Thema Poppen.“

„Ich hab es bisher nur mit zweien aus vorhergehenden Reihen gemacht.“

„Und war es gut?“

„Ein bisschen wie Tanzen mit Kribbeln dabei.“

„Kribbeln? Das ist aber entschieden zu wenig.“

Linde Empörung schwang in Snyders Stimme mit.

„Vielleicht solltest du mal einen von ihnen oder einen Menschen ausprobieren.“

„Wie sind die Menschen so?“

„Langsamer und sanfter. Zumindest manche von ihnen.“

„Kannst du mir einen empfehlen?“

Snyder kippte ihr gerade erst gebrachtes Glas in einem Zug herunter, grinste und ließ den routinierten Kennerblick schweifen. „Erst einmal noch nen Drink.“

Diesmal winkte sie den Kellner heran und gab die Bestellung mündlich auf. Sie orderte Kirschcocktail für sich - für heute Abend hatten die Erdbeeralgen ausgedient - und Yellow Sparkle für Rahil, schließlich mussten sie sich und ihren Farben treu bleiben. Dann ließ sie ihren Blick wieder durch den Club streifen auf der Suche nach Beute. Weiter hinten in einer dunklen Ecke in einem der Séparées erblickte sie einige aus dem Trupp der Hochbegabten.

Leroy war bei ihnen, seinen Rollstuhl eng an den Tisch heran geschoben, sah er den Tanzenden zu. Neben ihm kauerte Eugene, neunzehn, formaler Logiker und Linguist. Er hatte ein hübsches Jungengesicht mit weichen Zügen und runden Wangen. Snyder zögerte, dann fiel ihre Wahl endgültig auf ihn. Sie stand auf und schlenderte zu ihnen herüber…

Eugene, glücklicher Eugene. Durch Snyders sorgsame Wahl wurde ihm die Ehre zuteil im späteren Verlauf der Nacht zu Rahils erster menschlich-sexueller Erfahrung zu werden und sie zu seiner ersten Synthetischen-Kriegerin-Erfahrung.

Rahil strich ihm unwillkürlich durch das strohige, aschblonde Haar, das dem ihren gar nicht so unähnlich war. Guter Sport war das gewesen, schweißtreibend, auspowernd, wie Tanzen zu drängenden wirbelnden Rhythmen, wie ein tiefes Gurgeln, das aus der Kehle drang, grollend und bebend, ein Taifun im Becken, gewalttätig und rau und mit diesem einen Moment des Einhaltens im Auge des Sturms, in dem sich nichts bewegte, alles nur schwebte. Ihre Finger waren nun sanft, ein Lufthauch, der herabglitt zu den Haarsträhnen des Jungen, lau verebbender Wind am Ende des Orkans. Rahil lächelte, sie wusste nicht warum.

Vampire Blues 2

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