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ZWEIFEL

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Wo eigentlich nur der Fremde herkam? Keiner von uns hat je einen ähnlichen Menschen gesehn; doch weiß ich nicht, warum nur ich von seinen Reden so ergriffen worden bin; die andern haben ja das nämliche gehört, und keinem ist so etwas begegnet.

Der Fremde.

Daß ich auch nicht einmal von meinem wunderlichen Zustande reden kann! (Novalis „Heinrich von Ofterdingen“)

Wunderlicher Zustand. Der Fremde. Die Fremde.

Rahil reißt den Lautstärkehebel hoch bis zum Anschlag. Die Box knallt. Stahlseile peitschen durch die Luft. Die Wände stürzen auf sie zu, die Decke. Abschuss. Unter der Wasseroberfläche zirkelt das Geschoss auf sein Ziel zu. Der Torpedo fetzt in den Unterleib des Schiffs, das bäumt sich, reißt die Nase hoch in den Himmel. Der zweite Torpedo. Gischt explodiert. Das Schiff schreit. Die Stahlhaut reißt, die Gedärme quellen heraus. Das Schiff blutet ins Meer hinein. Ein Wirbel. Reißzähne des Abgrunds. Der Schiffsschrei erstirbt. Die Sex Pistols rattern in ihrem Kopf.

Don’t be told what you want

Don’t be told what you need

There’s no future no future

No future for you

Dr. Elisabeth beugte sich über Rahil. Ihr Atem roch nach Karamellbonbons, ihr Kittel nach Desinfektionsmittel. Sie zog die Messdioden ab und legte sie in eine Nierenschale

Professor Grigor schaute auf den flachen Monitor. Er stützte das Kinn auf den Daumen der linken Hand und strich sich mit dem Zeigefinger über die Oberlippe. Es sah ein wenig affektiert aus, fand Rahil. Dr. Elisabeth sah ihn mit smaragdem Glimmen in den Augen an.

Was er sah, gefiel ihm nicht. Die Parameter für die Gefühlsanteile waren sehr hoch, ungewöhnlich hoch. Sollten sie eingreifen oder sollten sie abwarten? Sie musste eine emotionale Eigendynamik entwickeln, ja, und auch Empathie war notwendig, wenn sie das Handeln anderer nachvollziehen sollte. Er rang eine Weile mit sich, dann entschied der Professor, den Dingen seinen Lauf zu lassen. Er bestellte Rahil zum Test für die nächste Woche. Er würde General Vlad informieren.

Die ersten Zweifel waren ihr schon früh gekommen, noch bevor sie Archill kennen lernte, noch bevor sie mit ihm das tat, was Synder „pimpern“ nannte und das, was sie getan hatten unzulänglich beschrieb, denn es war mehr gewesen. Das wusste sie jetzt.

Zweifel. Es begann in der Sprengstoffausbildung. Rahil war die einzige ihrer Art hier - dachte sie - zwischen den Vampir-Agenten, aber sie hatte sich getäuscht. Am zweiten Tag stieß ein weiterer Schüler zu ihnen. Ein großer schwarzer Mann mit unbeweglicher Miene. Er war auf Bitten eines einflussreichen Mitgliedes des Konventes jetzt noch in den Kurs aufgenommen worden. Schon als sie ihn das erste Mal sah, wusste sie es. Er war wie sie…

Er war ihr erster „sexueller Kontakt“. Die Wissenschaftler wünschten ausdrücklich, dass sie sich selbst „sexuelle Kontakte“, wie sie es nannten, beschaffte und waren über die Meldung des ersten autonomen Vollzuges hoch erfreut. Er erlaubte ihnen neue Aufschlüsse über die emotionalen Veränderungen ihres Prototypen. Rahil war nicht sonderlich beeindruckt von ihrem ersten „sexuellen Kontakt“. Aber als er sich anschließend in seinen olivfarbenen Kampfanzug zwängte, trafen sich kurz ihre Blicke und sie spürte etwas Seltsames, so als sähe sie in einen Spiegel. Er sah sie reglos an, sie konnte nichts in seinen Augen lesen, sie schienen leer, dann wandte er den Blick und zog den Reißverschluss seines Regencapés hoch…

Vor drei Wochen war es intensiver geworden. Sie kannte diesen Zustand nicht. Sie kannte aus Yoga-Übungen einen Fluss in sich, ein anderes, das nicht sie war und doch sie war. Aber das hier kannte sie nicht.

Sie dachte an Archill und an seine Geschichte, seinen Bruder Dorian.

Etwas, das sie aus den Dossiers kannte, etwas, das ihr so fremd erschien, das die Menschen Trauer nannten oder Traurigkeit, das ihr fern schien und befremdlich wie Tränen, deren chemische Zusammensetzung sie wohl kannte, die sie aber nie aus sich heraus produzieren konnte, nur als physiologischen Reflex, wenn Beißendes in ihre Augen drang. So hatte sie zumindest gedacht.

Warum konnte sie diese Flüssigkeit, dieses Sekret der Traurigkeit, nicht aus ihrem Inneren heraus selbst erzeugen? Ihre Augen waren Wüsten, dachte sie. Warum? Was war in ihr? War etwas in ihr, das hinauswollte durch die Augenöffnung in die Welt oder nur bis hin zum Spiegel, so dass sie es erblicken konnte, sich erblicken konnte?

Und das Geschehene? Erkaltet zu Erinnerungspartikel. Was würden sie aus ihr machen, die schwirrenden Partikel? Würden sie sie ändern? Sie weiterentwickeln, wie die Forscher sagten? War es das, was sie wollten?

Was war Erinnerung? Prozess etwas Vergangenes gegenwärtig machen zu können.

Sie hatte das diffuse Empfinden, dass etwas vergangen war, fort war, noch nachschwang, aber nie wiederkehren würde, so wie es gewesen war, einzigartig auf nur diese Art und Weise vergangen war und neu konstruiert wurde als Erinnerung. Dass Zeit fortschritt, das wusste sie, dass Zeit fortschritt, dass ihre Zeit fortschritt, dass auch sie einmal nicht mehr sein würde, dass, wenn ihre Programmierung aus dem Ruder liefe, man ihre Zeit beenden würde. Dies berührte sie auf ungewohnte Weise und sie empfand eine Leere, wenn sie an das dachte, was sein würde, wenn sie gelöscht worden wäre, dann… Was?

Dann würde sie eine Erinnerung werden. In anderen. In Nestor vielleicht, neu konstruiert in ihm, wenn er nicht vor ihr gelöscht werden würde. Und in wem sonst würde sie dann neu konstruiert werden als dessen Erinnerung?

Blieb von ihr nur eine Spur im digitalen Dschungel? Eine Akte, eine Aufzeichnung, eine Beschreibung, eine Auswertung ihrer Werte und Daten. Dann benutzt, um bessere Modelle ihrer selbst zu erschaffen. Und würde sie fortleben in diesen? Als Partikel im Programm, in der neu erschaffenen Matrix der ihr nachfolgenden Prototypen?

Warum beschäftigte es sie, dass sie nicht weinen konnte? Wollte sie weinen können?

Sie dachte an Archill, dachte an die zwei gelben Lippenstiftspuren, die sie auf seinem Gesicht hinterlassen hatte.

Wenn die Zeit da war, wenn sie eine Erinnerung werden würde, dann wollte sie seine sein.

Vampire Blues 3

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