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Begegnung am Nooga’Ka’ata Königsinsel Nuku’atepe, eine halbe Stunde später

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Der alte Königspalast aus weißen Korallenblöcken hob sich selbst bei Nacht wie eine strahlende Perle der Ruhe von dem finsteren Gestein des Tarupiberges ab. Ihm zu Füßen erstreckte sich die Königsstadt mit ihren hohen Eomes-Schreinen, den Pfahlbauten, Häusern und Hütten bis hin zum Meer. Da Stein, insbesondere aber die weißen Korallenblöcke auf Coleopa als Baumaterial allein den Hohen Familien vorbehalten waren, hatten die Einwohner Colepa’Tarus eine Vorliebe für luftige Häuser aus Kinokholz entwickelt. Die Dächer der Pfahlhütten waren den Flügeldecken von Käfern nachempfunden, und wie die Solare versuchten sich auch die reicheren Bürger mit üppigen Ornamenten an den Außenfassaden ihrer Häuser gegenseitig zu überbieten. Die Colepa’Taris waren stolz auf den Palast, gemahnte sein Anblick doch einen jeden an die Zeit seiner Erbauung – eine Zeit, als die Erinnerung an den Gottessohn Eomes noch jung war.

Doch der Eindruck der Ruhe täuschte. Unter den geschwungenen Schilfrohrdächern des Palasts brummte es vor Betriebsamkeit wie in einem Morabau.

Niemand wußte das besser als Nukulahi, der nun einen letzten Blick zurückwarf. Inzwischen lag der Palast ein ganzes Stück hinter ihm. Eingehüllt in das Körpertuch, war es ihm ein leichtes, sich unerkannt durch das Gewirr aus Pfahlhäusern und Pavillons zum Strand durchzuschlagen. Es war bereits eine Weile her, daß er die Königsstadt das letztemal betreten hatte. Im wesentlichen kannte er seine Heimatstadt nur von festlichen Anlässen her und von jenen Gelegenheiten, da er sie in Begleitung Tongaros oder seines Lehrmeisters, des Obersten Richters Buralofa, aufgesucht hatte. Der Prinz wunderte sich darüber, daß er den alten Richter schon seit Tagen nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte. Wahrscheinlich war Buralofa von seinem Vater ausgeschickt worden, um einen Gesetzesverstoß zu ahnden. Denn wenn ein Mann dem Gesetz zügig Geltung verschaffen konnte, dann war es der Oberste Richter selbst. Das war ebenso unzweifelhaft wie der Umstand, daß sich die schmackhaften Moralarven eines Tages zu gefräßigen Schwarmkäfern entwickelten, die die Kokosernte ganzer Inseln zunichte machen konnten. Wie auch immer, der Prinz hoffte sehr, der Richter werde bis zum morgigen Tag wieder zurück auf der Königsinsel sein.

Trotz seiner Aufregung nahm sich Nukulahi die Zeit, um auf seinem Weg heimliche Blicke durch die Fenster der Häuser zu werfen. Warmes, flackerndes Licht drang durch die hölzernen Fenstergitter und überzog die Wege zwischen den Gebäuden mit einem wabenförmigen Muster aus Licht und Schatten. Wie es wohl war, so nah beim Königspalast zu leben und als ganz gewöhnlicher Colepa’Tari sein Tagwerk zu vollbringen – unbeaufsichtigt, ja erlöst von Dienern, Wachen und gesellschaftlichen Zwängen? Sicher aber nicht frei von Nöten. Nukulahi lauschte still in die Nacht und erfreute sich am Lachen und dem Geschrei kleiner Kinder. Hoch über ihm stand der Mond, und der Duft von Holzrauch und feuchten Grasmatten erfüllte die Luft. Schmerzhaft wurde ihm bewußt, wie unfrei er als König sein würde, und er beschleunigte seine Schritte.

Kurz darauf stieß er auf eine Gruppe junger Fischer, die nahe eines Kopraspeichers gemütlich und gut gelaunt um ein Lagerfeuer saßen und ihn kameradschaftlich zum Käferkampf einluden. Alle Coleopäer liebten es, die handgroßen Pawis, die so merkwürdige Knurrlaute ausstießen, gegeneinander antreten zu lassen und darauf zu wetten, welcher der Käfer als erster auf dem Rücken läge. Nukulahi erklärte ihnen, im Auftrag des Palasts unterwegs zu sein, und so drückten sie ihm ohne Umschweife eine Schale Kokoswein in die Hand und stießen mit ihm zusammen auf das künftige Königspaar an. In diesem Augenblick verstand Nukulahi seinen Vater, der dem einfachen Volk oft mehr Wertschätzung entgegenbrachte als den Mitgliedern Hoher Familien.

Höflich teilte er ein paar Schlucke mit den Fischern, dann entschuldigte er sich und eilte voller Sorge, zu spät zu kommen, seinem Ziel entgegen.

Tongaro wartete wie abgesprochen im Schatten eines großen Pfahlbaus auf ihn, in dessen Umgebung es durchdringend nach Fisch stank. Im Gegensatz zu ihm hatte sein Freund es nicht für nötig gehalten, seinen hohen gesellschaftlichen Rang zu verbergen. Er trug sein golden schimmerndes Rüstzeug und hatte sich einen purpurnen Umhang übergeworfen. Tongaros Blick war fest auf den neuen Stern am Himmelszelt über dem Meer gerichtet, dessen Strahlen allein von dem hellen Leuchten des Vollmondes übertroffen wurde. Immer wieder flammten Sternschnuppen am Himmelszelt auf und zogen von Ost nach West ihre Bahn. All das erschien Nukulahi so unwirklich, als nähme dort oben am nächtlichen Firmament ein glitzernder Fischschwarm Reißaus vor einem großen Jäger. Tatsächlich! Wirkte der neue Stern mit seinem Schweif nicht fast wie ... ein Wal?

»Es heißt, eine geheime Sehnsucht gehe in Erfüllung, wenn man eine Sternschnuppe sieht.« Tongaros Mienenspiel wirkte fremd und abwesend, während er zum Nachthimmel aufschaute. »Ja, man könnte meinen, es sei Eomes’ Wille, daß nun alle verborgenen Sehnsüchte in Erfüllung gehen.«

Nukulahi, dessen einfaches Dienergewand von einer warmen Meeresbrise angehoben wurde, bewunderte das himmlische Schauspiel ebenso fasziniert wie sein Freund. Seltsam, so märchenhaft schön der Anblick über ihm auch war, etwas daran gemahnte ihn zur Wachsamkeit und zur Vorsicht. Nukulahi kannte dieses Gefühl aus seiner Kindheit. Es war wie damals, als er unter einer Palme des Palastgartens gespielt und sich plötzlich eine überreife Kokosnuß gelöst hatte, die ihn beinahe erschlagen hätte – wäre er nicht in letzter Sekunde zur Seite gesprungen.

Der Prinz löste sich vom Anblick des Sternenhimmels und wischte einen vorwitzigen Käfer beiseite, der sich brummend auf seinem Oberschenkel niedergelassen hatte. »Kannst du dir eine solche Welt wirklich vorstellen? Ich meine – eine Welt, in der alle verborgenen Wünsche und Sehnsüchte in Erfüllung gehen? Eine solche Welt wäre doch ein Alptraum.«

Tongaro sah Nukulahi fragend an. »Wieso ein Alptraum?«

»Na ja, hast du dir schon einmal überlegt, wovon andere insgeheim träumen? Ehrlich gesagt bin ich ganz froh, daß mir das verborgen bleibt. Manches davon wollte ich sicher lieber nicht wissen.«

»Ein ungewöhnlicher Gedanke. Letztlich würde es wohl doch wieder darauf hinauslaufen, daß es Gewinner und Verlierer gibt. Man müßte sich eben wünschen, auf der Gewinnerseite zu stehen.«

Nukulahi lachte. »Was mich betrifft, habe ich sowieso nur einen Wunsch. Ich will jetzt endlich deine Schwester sehen.«

Tongaro nickte ihm schweigend zu und führte ihn zu einem der Katamarane am Strand. Gemeinsam schoben sie das schwere Boot ins Wasser und setzten Segel. Die nächtliche Fahrt an der Küste Nuku’atepes verbrachten die beiden Freunde schweigend. Es war fast Mitternacht, als sich in der Ferne eine weite Bucht abzeichnete, deren Wasser im fahlen Schein des Mondes schimmerte. Zur Inselmitte hin erhoben sich steile Felsen, die die Bucht in einem Halbrund einrahmten. Diese waren ihr Ziel. Dort oben würde er seine Braut treffen.

Tongaro steuerte in respektvollem Abstand zu der heiligen Stätte das Ufer an. Nachdem die beiden Freunde den Segler mit einer Kokosleine an einer schräg aus dem Sandstrand ragenden Palme vertäut hatten, warf Nukulahi endlich sein Dienergewand ab und setzte sich den Goldreif mit dem Linken Auge des Eomes auf. Er zitterte vor Aufregung.

Tongaro öffnete derweil eine Kiste neben dem Mast und kramte eine Laterne hervor, die er zweimal heftig schüttelte. Hinter dem feinen Holzgeflecht stoben zahlreiche Leuchtkäfer auf, und die nahe Umgebung wurde von ihrem grünlichen Schein ausgeleuchtet. Ganz wie die Tradition es verlangte, würde sich das Brautpaar im Schein zweier Laternen kennenlernen.

Nukulahi mußte an sich halten, um den schmalen Weg hoch zum Klippmassiv nicht zu rennen, sondern sich ihm gemessenen Schrittes zu nähern. Wie lange hatte er auf diesen Augenblick gewartet! So kurz vor dem Ziel seiner Wünsche kam ihm in den Sinn, daß Tongaro seiner Schwester allzu sehr geschmeichelt haben könnte. Was, wenn Tuilaepe in Wahrheit häßlich wie ein Beulenkäfer war?

Doch als er den Scheitelpunkt der großen Felswand erreichte, der die heilige Bucht im Süden überragte, war zunächst jeder Gedanke an die Prinzessin vergessen.

Direkt vor und unter ihm erstreckte sich der heilige Nooga’Ka’ata in seiner ganzen majestätischen Pracht. Die Bucht maß viele tausend Schritt im Durchmesser und wirkte von hier oben aus wie ein riesiger, geheimnisvoller See. Nur an einer Stelle befand sich ein Durchbruch zum offenen Meer. Erst jetzt, da er mit Tongaro auf den Klippen stand, trug der Wind den leisen, getragenen Gesang sterbender Wale an ihre Ohren. Und nicht nur das. Ein unangenehmer süßlicher Geruch, den auch der Seewind nicht vertreiben konnte, schwängerte die Luft. Der Mond, der neue Stern und unzählige andere Lichtpunkte am Nachthimmel über ihnen tauchten die heilige Stätte in geheimnisvolles Silberlicht. Am Rand der Bucht, dort, wo sich der Untergrund sanft dem Küstenniveau annäherte, ragten bleiche Knochen schritthoch aus dem Wasser. Nukulahi konnte Hunderte, nein Tausende von ihnen ausmachen. Die Bucht strahlte eine geradezu verzweifelte Schönheit aus. Gleichzeitig wirkte sie auf Nukulahi wie der Schlund eines gewaltigen Hais – in der Mitte alles verschlingende Schwärze, am Rand Kränze aus riesigen weißen Reißzähnen ...

Hin und wieder waren schwache Bewegungen im Wasser zu erahnen, und der langgezogene Sterbegesang der Krieger des großen Fischers ward zu einer klagenden Melodie, die Nukulahis Herz mit Melancholie erfüllte.

»Ich hatte völlig vergessen, wie wundersam dieser Ort ist«, flüsterte der Prinz ergriffen. Ein flüchtiger Seitenblick zu Tongaro zeigte ihm, daß auch er den heiligen Walfriedhof mit einer Mischung aus Respekt und Demut betrachtete. Nukulahi hatte den Nooga’Ka’ata erst ein einziges Mal in seinem Leben gesehen, damals, hei seiner Mannbarkeitsfeier. Doch das war bei Tageslicht gewesen, und der gesamte Grund der Bucht hatte im Licht der Sonne kupfern geschimmert.

Sein Vater behauptete, der Nooga’Ka’ata sei eine Wunde in der Schöpfung selbst und verweise auf den alten Mythos, nach dem der göttliche Fischer hier, an dieser Stelle, einst von seiner Himmelsbarke aus im Ozean gefischt habe – jenem Schiff, das er später Eomes geschenkt habe. Mit einemmal, so lautete die Geschichte, habe er ein ungewöhnliches Gewicht in seinem Netz verspürt. Da er geglaubt habe, ein besonders großer Fisch sei ihm ins Netz gegangen, habe er mit aller Kraft die vermeintlich fette Beute aus dem Wasser gezogen. Er habe gezogen und gezogen. In Wirklichkeit aber habe sich sein Netz an einem Felsen am Meeresboden verfangen. Der große Fischer habe sehr gestaunt, als aus dem Wasser riesige Felsen aufgetaucht seien, immer mehr und immer größere. Der Grund des Meeres sei schnell emporgestiegen, und es hätte sich vielleicht eine einzige, gewaltige Insel gebildet, wenn nicht in diesem Augenblick das Netz gerissen wäre. Was bereits an die Wasseroberfläche getreten sei, habe fortan Coleopa gebildet, das Reich der Tausend Inseln. Als der Göttersohn Eomes erkannt habe, was sein Vater vom Meeresgrund emporgezogen hatte, habe er beschlossen, das Inselreich mit Leben und Wundern zu füllen und es ihm zum Geschenk zu machen.

Nukulahis Lehrmeister Buralofa glaubte, daß der rote Untergrund des Nooga’Ka’ata vom Blut der Wale herrühre, die sich hier zum Sterben einfanden. In Wahrheit aber wußte niemand mit Sicherheit zu sagen, wie es zu der Verfärbung kam.

Nukulahis Blick wanderte zum zweiten Wunder dieses Ortes. Inmitten der Bucht erhob sich, schwarz und finster und wie ein mahnender Zeigefinger, der heilige Nuku’a Maui – der Fels der vier Gesichter. An diesem mächtigen Dorn hatte sich, so hieß es, seinerzeit das Netz des Gottessohnes verfangen. Lotrecht ragte er etwa fünfzehn Schritt aus dem Wasser des Nooga’Ka’ata, und seine Form war überaus ungewöhnlich. Aus der Ferne wirkte er wie ein aufrecht stehender Holzbalken oder – besser noch – wie ein riesiger Nagel aus schwarzem Basalt, der am oberen Ende von einer durchbohrten, meisterhaft geformten Gesteinskugel abgeschlossen wurde. Die Kantenlängen des Nuku’a Maui mochten vier Schritt messen, und es hieß, daß jede der vier Seiten unterhalb der Wasseroberfläche ein Gesicht trug. Bei Ebbe konnte man angeblich die Stirnansätze der Gesichter erkennen.

»Da ist sie!« Die Stimme des Freundes holte Nukulahi auf der Stelle in die Wirklichkeit zurück, und sein Blick folgte dem ausgestreckten Zeigefinger Tongaros. Tatsächlich, von der anderen Seite des Klippmassivs her kamen ihm drei Gestalten entgegen, die sich dem geheimen Treffpunkt aus südlicher Richtung angenähert hatten. Wer die beiden Begleiter Tuilaepes waren, wußte Nukulahi nicht zu sagen. Aufgrund ihres Ganges vermutete der Prinz, daß es sich bei ihnen um Frauen handelte – wahrscheinlich zwei treue Dienerinnen aus dem Gefolge der Prinzessin und darüber hinaus erfahren im Umgang mit Katamaran en. Auf Lavaka’motu war die Perlenfischerei Frauensache, und ohne Katamaran hätte Tuilaepe die Entfernung zwischen dem Fischerdorf Noa’tari und dem Walfriedhof niemals in der ihr zur Verfügung stehenden Zeit überwinden können. Nukulahi atmete noch einmal tief durch. Nun war er also da, der große Augenblick.

Seine Füße wollten zu ihr, sein Atem stockte, sein Herz raste.

Doch Nukulahi rührte sich nicht. Hilfesuchend blickte er seinen Freund an. Der reagierte ungnädig. »Worauf wartest du? Jetzt geh schon!«

Entschlossen drückte Tongaro ihm die Laterne mit den Leuchtkäfern in die Hand und versetzte ihm einen leichten Stoß. Nukulahi seufzte, tat den ersten Schritt und spürte, wie die Angst der Freude wich. Mit fliegendem Herzen näherte er sich Tuilaepe und ihren Begleiterinnen, die noch immer nur als Schemen zu erkennen waren. Auch die Prinzessin nahm eine grünlich leuchtende Laterne zur Hand und kam ihm entgegen. Wie Leuchtkäfer bei ihrem Hochzeitstanz näherten sich die beiden unsteten Lichter und mit ihnen Braut und Bräutigam.

Der erste Eindruck, den Nukulahi von seiner Braut erhielt, war der betörende Geruch, der von ihr ausging. Sie hatte Duftöle aufgetragen, die auf Nuku’atepe fremd waren. Es war ein Hauch von Vanille, Mango und etwas Unbekanntem, der sie umschmeichelte und der den unangenehmen Geruch verdrängte, der vom Nooga’Ka’ata zu ihnen heraufwehte. Ihre Gestalt war schlank. Sie hatte ein prachtvoll besticktes Copbuh-Kostüm angelegt, das bei Sonnenlicht sicher ein Fest der Farben war. Überdeutlich wurde ihm bewußt, wie sehr das Gewand ihre Weiblichkeit unterstrich. Tuilaepe trug ein perlenbesticktes Blütenkorsett, und ihr langes schwarzes Haar war zu einer turmartigen Frisur hochgesteckt, in der an Perlenbändern zahlreiche Edelsteine funkelten. Ihre Gestalt überwältigte ihn. Doch leider war ihr Gesicht noch immer von einem luftigen Schleier verhüllt, wie ihn die Frauen aus der Rinde des Puri-Puri-Baums woben. Der Prinz nestelte unbeholfen an seinem Stirnreif mit dem Linken Auge des Eomes, und das Gefühl, etwas von Gewicht sagen zu müssen, machte ihm das Sprechen noch schwerer.

»Ich ...«, begann er und verstummte umgehend wieder. Nein, bitte, jetzt nur nicht stammeln. »Ich, äh, ich freue mich, dir hier«, Nukulahi räusperte sich, »hier am Nooga’Ka’ata gegenüberstehen ... äh ... zu dürfen.«

Am liebsten wäre er vor Scham im Boden versunken. Er hatte sich eigens eine Begrüßungsrede zurechtgelegt, doch jetzt, da er Tuilaepe direkt gegenüberstand, erinnerte er sich an kein einziges Wort. Bei allen Blutkäfern, bisher hatte ihn doch noch nie etwas so leicht aus der Fassung bringen können. Er galt als mutiger Perlentaucher, Buralofa hatte ihn bei den Kampfübungen als den fähigsten seiner Schüler gelobt, und eine steile Felswand bezwang er ebenso unerschrocken wie ein Klippkäfer. Und jetzt das!

Nukulahi nahm eine leichte Bewegung unter dem Schleier wahr, und in seiner Magengegend bildete sich ein unangenehmer Kloß. Tuilaepe lachte.

»Ich freue mich auch, dich zu sehen.« Völlig unvermittelt traf ihn ihre melodische Stimme. »Ich bin froh, daß du nicht allzu sehr meinem Bruder ähnelst. Viel hat er mir nämlich nicht über dich verraten.«

Nukulahi war sprachlos und mußte sich zwingen, sich nicht zu Tongaro umzusehen. Er hatte seinem Freund doch eigens aufgetragen, Tuilaepe möglichst viel über ihn zu erzählen. Nur das Beste natürlich.

»Besonders gefreut habe ich mich über den Federschnabel. Da wußte ich, daß du nicht alle seine Ansichten teilst.«

»Er hat dir ... gefallen? Wirklich?« Nukulahi lächelte glücklich. »Ich ... ich habe ihn eigens für dich gefangen, um, na ja ...« Nukulahi begriff, daß ihm Tuilaepe helfen wollte, seine Verlegenheit zu überwinden. Und mit einemmal sprudelten die Worte nur so aus ihm hervor.

»Dein Bruder hat mir in all den Jahren jedenfalls sehr viel über dich erzählt. Ich habe gehört, daß du eine Meisterin des Copbuh-Tanzes bist. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich darauf freue, dir dabei zusehen zu dürfen.« Nukulahis Gesicht überzog sich mit Röte, und er war froh, daß die Dunkelheit seine Verlegenheit verbarg.

»Dazu wirst du während der Hochzeitsfeier sicher Gelegenheit haben. Und du? Man sagt, das Sangestalent deines Vaters sei auf dich übergegangen. Mir wurde prophezeit, einst werde ein großartiger Sänger meine Liebe für sich gewinnen.«

Nukulahi erinnerte sich plötzlich wieder daran, was die Tradition dieser Nacht von ihm verlangte und wie die rituellen Worte lauteten, die ihn sein Vater gelehrt hatte.

»Kostbarste Perle im Inselreich«, schon wieder hatte er diesen Kloß im Hals, »darf ich hoffen, mit meinem Gesang den Wind für uns zu zähmen, die Wellen zu bändigen und beide zu bitten, uns zu helfen, unser beider Herzen zu vereinen?«

Tuilaepe antwortete ihm, ohne zu zögern.

»Stolzester Sänger im Inselreich, zähme den Wind, bändige die Wellen und bitte sie, unsere Herzen zu vereinen. Denn dann werde ich dein sein.«

Offenbar hatte seine Mutter Hai’pale der Prinzessin die rituelle Antwort in den Mund gelegt. Woher hätte sie den genauen Wortlaut sonst wissen sollen? Er mußte schmunzeln. »Wirst du dann den Schleier heben, so daß ich dein Antlitz sehen kann?« Diese Worte entsprachen nun wirklich nicht dem Ritus.

Wieder dieses leise Lachen. »Erst will ich deinen Gesang hören.«

Nukulahi biß sich auf die Lippe, sonst hätte er ebenfalls anfangen müssen zu lachen. Woher nahm Tuilaepe bloß ihre Selbstsicherheit? Jetzt neckte sie ihn bereits. »Gut, dein Wunsch ist mir Befehl.«

Der Prinz atmete tief ein, dann begann er zu singen. Wie schon am Nachmittag trug sein Lied ihn mit sich fort, ließ die Furcht vergehen und einte alles, was er fühlte. Er besang die Schönheit der Welt, den Glanz der Schöpfung, den nur jene zu sehen vermochten, die Harmonie auch in sich selbst fanden. Sein Gesang wurde vom warmen Seewind weit über den Nooga’Ka’ata getragen. In diesem Augenblick war ihm, als würde dort unten in der Bucht das Lied der sterbenden Wale lauter, so als wetteiferten sie mit ihm um Tuilaepes Gunst. Verunsichert ließ der Prinz seinen Blick zum Wasser schweifen und begann noch lauter zu singen. Als er wieder zu Tuilaepe sah, bemerkte er, wie diese ihren Schleier hob und ihn aus zwei strahlendschönen Augen anblickte. Ihr Gesicht war vollkommen, und die Wangen leuchteten selbst im grünen Licht der beiden Käferlaternen. Ihre Lippen aber waren etwas ganz Besonderes: Sie waren voll und weich wie das süße Fruchtfleisch der Rambutanen. In ihm wuchs die Sehnsucht, sie zu küssen. Ihr Anblick war so vollkommen, daß Nukulahi meinte, sein Lied werde ihr nicht gerecht. Nicht die Schönheit der Welt, ihre eigene Schönheit hätte er besingen müssen. Um ihr Herz zu gewinnen, hätte er sich die Mühe machen müssen, ihr ein eigenes Lied zu widmen.

Vom Nooga’Ka’ata her erklang noch immer der Gesang der sterbenden Wale, und die Melodie, die der Wind an seine Ohren trug, klang spöttisch. Entsetzt bemerkte der Prinz, daß er seinen Gesang mitten im Lied beendet hatte.

»Warum hast du aufgehört?« Tuilaepe schaute ihn aus großen Augen an, und in ihrem Blick stand Besorgnis. Das erste Mal an diesem Abend ließ sie Unsicherheit erkennen. »Gefällt dir nicht, was du siehst?«

»Nein, nein, bitte denke das nicht!« Nukulahi nahm völlig verwirrt die Hand der Prinzessin, ging überwältigt auf die Knie und verstieß damit gegen den Brauch, daß sich Prinz und Prinzessin erst in der Hochzeitsnacht berühren durften. »Du bist das Schönste, was ich je in meinem Leben gesehen habe. Ich ... mir ist nur eben bewußt geworden, daß dir mein Lied nicht gerecht wird. Ich will ... ich möchte, daß du erkennst, wie ernst es mir um dich ist. Ich will nicht irgendein Lied für dich singen. Du solltest spüren, wie sehr mein Herz für dich schlägt.«

Nukulahi fühlte sich wie zerschmettert und befürchtete einen bangen Atemzug lang, Tuilaepe werde sich von ihm abwenden. Doch sie blickte ihn gerührt an und schloß nach einer Weile ihrerseits die warmen Finger um seine Hand.

»Du bist ein seltsamer Mann, Nukulahi«, flüsterte sie lächelnd. »Ehrlich und geradeheraus. Noch nie ist mir jemand wie du begegnet. Die Tür zu meinem Herzen hast du schon einen Spalt geöffnet.«

Nukulahi erhob sich erleichtert und blickte seine Braut offen an. »Eines Tages werden wir beide noch einmal an diesen Ort zurückkehren. Und dann sollst du erfahren, wie es ist, wenn wahre Liebe aus einem Lied spricht.«

Die Prinzessin neigte den Kopf. »Ich werde mich an deine Worte erinnern.«

Nukulahi stimmte ein neues Lied an. Leise und feierlich, die Weise von der Walbraut. Jene Stelle, in der sie und ihr Gemahl sich das feierliche Gelöbnis gaben, füreinander da zu sein und sich bis an ihr Lebensende die Treue zu halten. Sanft verklang die Melodie, und Prinz und Prinzessin blickten sich tief in die Augen. Nukulahi wußte, daß dies ein feierliches Versprechen war. Dann löste Tuilaepe zögernd ihre Hand aus der seinen und nahm ihren Schleier ab. Mit feierlichem Ernst reichte sie ihn Nukulahi. »Dieses Pfand soll dich stets an dein Versprechen erinnern ...«

Entschlossen nahm sie ihre Laterne wieder auf und wandte sich dann mit einem Augenzwinkern ab. »Sieh zu, daß du morgen nicht zu müde bist, mein schöner Gemahl ...«

Nukulahi schüttelte ungläubig sein Haupt, während er den Schleier in seiner Hand betrachtete. Schon jetzt vermochte er es kaum zu erwarten, Tuilaepe wiederzusehen. Dann eilte auch er zurück zu Tongaro und konnte, als dieser ihn fröhlich auf die Schulter klopfte, sein breites Grinsen nicht verbergen.

»Und? Ist alles gutgegangen?«

Nukulahi warf die Laterne übermütig in die Luft und fing sie mit einer Hand wieder auf. In ihrem Innern brummte es wütend.

»Nein, kann man nicht gerade sagen. Es ist eigentlich so ziemlich alles schiefgelaufen, was schieflaufen konnte.« Der Prinz lachte. »Ach, glaube mir, Tongaro, heiraten ist einfach schön. Du solltest das gelegentlich auch mal in Erwägung ziehen.«

»Das werde ich, mein Freund. Das werde ich. Und ich werde bei der Wahl meiner Braut bestimmt nicht weniger Ansprüche stellen als du.«

Nukulahi achtete kaum auf die Worte Tongaros. Seine Gedanken weilten bereits bei der Hochzeit und den Stunden der Nacht. Alle Zweifel, die ihn seit dem Nachmittag gequält hatten, waren verflogen. Sein Geschenk hatte ihr gefallen! Sie hatte ihn nicht zurückgewiesen! Nukulahi war sich sicher, daß das Glück auf seinem Gesicht in dieser Nacht selbst den Glanz der Sterne überstrahlte.

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